Post date: 22.05.2011 11:47:57
Der berühmte Farbstoff bindet Cäsium-137 im Körper. Er kann eine radioaktive Verseuchung zwar nicht verhindern, reduziert aber Schäden und Folgekrankheiten.
© GO TAKAYAMA/AFP/Getty Images
Mitarbeiter, die sonst andere Menschen untersuchen, scannen sich gegenseitig vor einem Schichtwechsel auf Radioaktivität
Es war ein Blau von tiefer, dunkler Intensität, das der Berliner Farbenhersteller Johann Jacob Diesbach 1706 zusammengemischt hatte. Ein Blau wie ein Gewitterhimmel. Als "Berliner Blau" wurde es vermarktet, doch fast noch bekannter ist die Bezeichnung "Preußischblau". Schließlich waren die preußischen Uniformen mit dem künstlichen Farbstoff getränkt. Preußen ist längst Geschichte, aber seine Farbe besteht fort – und hat als Medikament eine zweite Karriere gemacht. Der Wirkstoff schwemmt Thallium und Caesium aus dem Körper und wird nun wegen der Reaktorhavarie in Fukushima stark nachgefragt. Denn bei einem Reaktorunfall wird neben radioaktivem Jod vor allem Cäsium freigesetzt.
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"Bei uns melden sich Japaner ebenso wie Leute aus anderen asiatischen Ländern", berichtet Johann Ruprecht, Leiter des wissenschaftlichen Abteilung beim Berliner Hersteller Heyl. "Auch deutsche Apotheken erkundigen sich, weil etwa Mitarbeiter einer Firma nach Japan fliegen und diese sicherheitshalber das Medikament mitnehmen wollen." Für einen vorsorglichen Kauf in Deutschland gibt es dagegen im Moment keinen Grund.
Szenarien für Fukushima
© Asahi Shimbun/Reuters
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Das Familienunternehmen Heyl hat sich auf Spezialpräparate für einen vermeintlich kleinen Nischenmarkt spezialisiert. Es verkauft Arzneimittel, die Giftstoffe aus dem Körper entfernen, darunter "normales" Quecksilber und Blei, aber auch radioaktive Stoffe wie Cäsium-137 und Plutonium-239. Für Preußischblau, das Heyl unter dem Namen "Radiogardase" vermarktet, hat die Firma seit Oktober 2010 neben der deutschen und amerikanischen auch eine japanische Zulassung.
Heyl hat in der Berliner Zentrale etwa ein Dutzend Mitarbeiter, ein Tochterunternehmen in Thüringen beschäftigt 100 Angestellte, das Unternehmen hat einen Jahresumsatz von 20 Millionen Euro. Preußischblau, eine Verbindung aus Eisen, Kohlenstoff und Stickstoff, ist rezeptpflichtig, 30 Kapseln kosten 46 Euro.
Direkte Strahlenschäden
Die Strahlenschutzexperten unterscheiden zwischen deterministischen und stochastischen Strahlenschäden. Mit dem ersten sind Symptome gemeint, die unmittelbar nach einer Strahlenexposition auftreten, wie Übelkeit und verbrennungsartige Hautrötungen. Solche Schäden treten fast immer nur dann auf, wenn ein bestimmter Schwellenwert überschritten wurde, wenn zu viele Zellen eines Gewebes beschädigt worden sind. Experten sprechen von einer Schwellendosis, die im schlimmsten Fall zum Tode führen kann.
Indirekte
Durch die Nahrung kann eine solch lebensgefährliche Schwelle kaum überschritten werden. Essen wir radioaktiv belastetes Gemüse, wird das eher später nach Jahren oder Jahrzehnten negative Auswirkungen auf die Gesundheit haben – wenn überhaupt.
Diese Strahlenschäden lassen sich nur in Wahrscheinlichkeiten ausdrücken: Wie wahrscheinlich ist es nach einer Strahlenexposition X im Zeitraum Y an der Krankheit Z zu erkranken? Zu den möglichen Symptomen zählen etwa Unfruchtbarkeit, Trübungen der Augenlinsen oder Krebs, die auch erst Jahre nach einer erhöhten Belastung auftreten können. Auch Schäden an Neugeborgenen fallen darunter.
Wie schädlich eine Strahlung ist, lässt sich also nicht genau festlegen: Person A hat im März 2011 die Strahlendosis B abbekommen und wird im Jahr C an Krebs erkranken – solche Aussagen sind unmöglich! Es gibt keine Regel anhand der sich sagen lässt, ab welcher Dosis eine Person erkrankt und ob das überhaupt jemals der Fall sein wird.
Erbgut
Die Strahlen, die von radioaktiven Stoffen ausgehen, können direkt bestimmte Zellbestandteile verändern oder indirekt freie Radikale aus dem Wasser in der Zelle bilden, die dann das Gewebe beschädigen können. Am empfindlichsten ist das Erbgut (DNA). Die Strahlung kann etwa die DNA-Kette brechen oder den Code verändern. Nicht immer ist Radioaktivität Schuld an solchen Mutationen, auch Hitze, mechanische Kräfte oder chemische Stoffe können sie auslösen. Das körpereigene Reparatursystem des Menschen behebt jeden Tag zig Billionen Erbgutschädigungen.
Gelingt eine Reparatur nicht, kann der Körper immer noch die Möglichkeit ergreifen, die betroffene Zelle vom Zellverbund auszuschließen. Schließt ein Organismus die beschädigte Zelle nicht aus, kann das bei den folgenden Zellteilungen schwerwiegende Folgen haben, da sich die Mutation auf die Nachkommen dieser Zelle übertragen. Krebs ist eine mögliche Spätfolge davon.
Für die Mediziner ist es im Nachhinein aber kaum möglich, zu rekonstruieren, ob der Auslöser für eine Tumorerkrankung eine erhöhte Strahlenbelastung oder ein sonstiger Faktor ist.
Medizin
Radioaktivität wird nur selten mit Gesundheit in Verbindung gebracht. Und doch nutzt die Medizin sie vielfach. Die Strahlung von Radionukliden wird etwa eingesetzt, um das Wachstum von Tumoren zu hemmen oder um die Durchblutung von Gewebe sichtbar zu machen.
In der Geschichte finden sich auch einige Negativbeispiele zur medizinischen Anwendung von radioaktiven Stoffen, die es so heute sicher nicht mehr geben würde: So sollten etwa Hüftgürtel mit Radium gegen Rheuma helfen, eine Zahnpasta mit dem Element sollte für gesundes Zahnfleisch sorgen, radioaktive Einlegesohlen sollten die Füße pflegen und ein radiumhaltiges Haarwasser gegen Haarausfall vorbeugen. (ska)
Anders als radioaktives Jod, dessen Strahlung bereits nach wenigen Tagen abklingt, hat Cäsium-137 eine Halbwertszeit von 30 Jahren. Es gelangte in Tschernobyl in größeren Mengen in die Umgebung. Cäsium kann mit verunreinigter Nahrung aufgenommen werden und hat eine biologische Halbwertszeit von etwa 110 Tagen, das heißt, dass der menschliche Körper nach 110 Tagen die Hälfte ausgeschieden hat. Cäsium wird von der Leber über die Galle ausgeschieden, jedoch im Darm teilweise wieder in den Organismus zurückgeführt – ein schädlicher Kreislauf.
Schlagworte
Japan | Radioaktivität | Gesundheit | Medikament
Preußischblau wird vom Körper nicht aufgenommen und hat außer einer Blaufärbung des Stuhls in der Regel kaum Nebenwirkungen. Der Farbstoff bindet Cäsium, so dass das Alkalimetall rascher ausgeschieden wird. Die biologische Halbwertszeit von Cäsium kann so auf 40 Tage sinken. Dabei gilt wie bei der Einnahme von Jodtabletten: je eher man den Wirkstoff einnimmt, desto besser. Bei sofortiger Anwendung würden 75 Prozent des verschluckten Cäsiums direkt wieder ausgeschieden. Die radioaktive Verseuchung wird nicht völlig verhindert, aber die Strahlendosis verringert, Schäden und Folgekrankheiten damit reduziert.
Bisher wurde Radiogardase nur in Einzelfällen eingesetzt. Schlagzeilen machte vor allem ein Zwischenfall in der brasilianischen Stadt Goiania 1987. Damals wurde aus einer verlassenen Klinik ein Strahlentherapiegerät gestohlen, das eine blau leuchtende hochradioaktive Cäsiumverbindung enthielt. Vier Personen starben, 20 hatten Symptome einer Strahlenkrankheit, insgesamt 250 hohe Dosen abbekommen. Viele Menschen wurden daraufhin vorsorglich mit Preußischblau behandelt.
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