ANGST – warum haben speziell wir Deutschen so viel davon?

Falls Sie diesen Essay hier lesen, um auf die Frage in der Überschrift eine Antwort zu erhalten, sage ich Ihnen gleich: Ich kenne die Antwort nicht. Ich kann nur konstatieren, dass es so ist. Wir Deutschen erscheinen extrem furchtsam, was gerade in diesen Tagen wieder auf erschreckende Weise offensichtlich wird. Wobei ich noch nicht einmal zu beurteilen vermag, ob es in anderen Ländern recht viel anders ist. Vielleicht, vielleicht nicht. In einigen, zum Beispiel diversen afrikanischen Ländern, herrscht trotz einer weitaus riskanteren Lebenssituation definitiv eher Gelassenheit vor. Verallgemeinern hilft sowieso nicht, auch nicht, soweit es „die Deutschen“ betrifft. Dennoch ist dieses Land eines, in dem Angst auch historisch weit verbreitet ist. Furcht ist einer der Gründe, warum die Nationalsozialisten überhaupt an die Macht gekommen sind, auch mit einer diffusen Furcht, die man in der Bevölkerung geschürt hatte, wurde es möglich, dass Millionen von Juden gejagt und getötet wurden.

Angst als Motivator

Der Wirkungsweise von Angst sind wir uns gleichwohl bewusst. In der ersten Trilogie einer der erfolgreichsten Space Operas aller Zeiten, Star Wars, geht es genau darum, was Angst aus einer ansonsten guten, normal intelligenten und empathischen Person machen kann. Als der kleine Anakin Skywalker vor den Jedi-Rat gebracht wird, und die Jedi erkennen, dass der 9-Jährige unter der (für dieses Alter völlig natürlichen und normalen) Furcht leidet, seine Mutter nie wiederzusehen, sagt der Jedi-Meister Yoda, der den Kleinen als „zu alt“ eigentlich gar nicht ausbilden lassen möchte, zu ihm: „Furcht ist der Pfad zur dunklen Seite. Furcht führt zu Wut, Wut führt zu Hass, Hass führt zu unsäglichem Leid.“ Im Folgenden verfolgt die Trilogie im Wesentlichen die schleichende Verwandlung der Person, die liebt und sich selbstlos für andere einsetzt, zu einem der ikonischsten Bösewicht der Filmgeschichte namens Darth Vader, eine Wandlung, die im Film tatsächlich von Furcht getrieben war, der steten Furcht, etwas Wichtiges zu verlieren. In diesem Satz Yodas ist die komplette erste Trilogie auf den Punkt gebracht. Und einer in dieser Geschichte, der Ober-Bösewicht Palpatine, spielt mit dieser Furcht, schürt sie, kanalisiert sie, benutzt sie für seine Zwecke, um sich einen mächtigen und gehorsamen Diener zu erschaffen. Man kann argumentieren, dass das Science Fiction sei, eine nette Geschichte, die mit unserer Zeit und unserer Realität nichts gemein hat. Doch man würde George Lucas, dem „Erfinder“ von Star Wars damit gründlich unrecht tun. Er sagte im Jahr 2005 in einem Interview mit dem Boston Globe ausdrücklich: „I love history, so while the psychological basis of ‘Star Wars’ is mythological, the political and social bases are historical (Ich liebe Geschichte, also während die psychologische Seite von Star Wars auf Mythologie basiert, sind die politische und soziologische Basis historischer Natur.“ – insbesondere, aber nicht nur, der deutschen Geschichte, sei dem hinzugefügt. Gleichwohl war er nicht der Erste, der zur Erkenntnis, dass Angst die eigentliche Triebfeder für „das Böse“ ist, gelangt ist. Mahatma Gandhi hat Jahrzehnte zuvor den Satz gesagt: „Der Feind ist Angst. Wir denken, es ist Hass, aber es ist Angst.“ Lucas hat das in seinem Film lediglich präzisiert.

Die Angst in Deutschland

Das deutsche Volk ist so voller Angst wie lange nicht mehr. Unsicherheit, Perspektivlosigkeit, und jetzt auch noch das Corona-Virus … Wir fürchten uns zum Beispiel vor Lebensmitteln. LEBENSMITTEL! Weizen, ein jahrhundertelang unverdächtiges Standard-Lebensmittel, wird plötzlich zur Bedrohung, dasselbe gilt für Milch und eigentlich für so ziemlich alles. Zeigen Sie mir ein Lebensmittel und ich suche ihnen die zugehörige Behauptung (durch Medien und Internet weit verbreitet), wie gefährlich, giftig und / oder krebserregend es (oder etwas darin) ist. Sicher, mit großindustriellem Anbau, der billige Produkte erzeugen muss, kommen Gifte und Düngemittel zum Einsatz, die man möglichst nicht schlucken sollte. Doch andererseits erreicht – trotz aller Gifte, trotz Gluten und Laktose – die Menschheit ein Durchschnittsalter, das noch nie zuvor in der Menschheitsgeschichte so hoch gewesen ist. Bin ich der Einzige, der hier eine Diskrepanz zwischen Realität und Wahrnehmung sieht? Wir schlucken Nahrungsergänzungsmittel in ungeahntem Ausmaß, wir schließen für jeden Shice eine Versicherung ab, damit ja kein Umstand eintritt, der uns dazu zwingt, aus unserem gewohnten Trott auszubrechen. Veränderung erzeugt Furcht. Die Realität kann so wenig Perspektive liefern, wie sie mag, aber das Gewohnte, das uns ruiniert, ist immer noch besser als eine Entwicklung zu einem Ziel, das zwar gut gemeint sein mag, aber sowas von schiefgehen kann und dann könnte ja sein, dass alles noch viel, viel schlimmer wird. Sozialismus! Politik für die ganze Gesellschaft! Pfui! Korruption, Grenzen dicht, Aussetzung der Grundrechte.  Reflexe! Die kommen in Deutschland quasi automatisch, wenn das Wort auch nur genannt wird. Selbst die traditionell kommunistenfeindliche US-Bevölkerung ist da schon deutlich weiter, wie man an den Erfolgen im Präsidentschaftswahlkampf von Bernie Sanders, dem ausgewiesenen Sozialisten, erkennen kann. Dann schon lieber Partikularismus, das exklusive Verfolgen der Interessen einer speziellen Gruppe! Da weiß man wenigstens, von wem man übers Ohr gehauen wird. Wir akzeptieren schon lieber das „viel, viel schlimmer“, wenn es von der gewohnten Seite kommt.

Steuern, zumal Vermögens- und Erbschaftssteuern, sind großer Mist, denn sie verringern mein Vermögen! Mein Vermögen bietet mir meine private Sicherheit (auf die Gesellschaft kann ich mich nicht verlassen, die sind ja alle sooo egoistisch!), wenn es hoch genug ist, bis zu meinen leiblichen Nachfahren in der achten Generation. Ausländer … ganz übel! Da muss ich dann Gesichter, Hautfarben und religiöse Gebräuche sehen, die ich absolut nicht gewohnt bin. Schrecklich, geradezu unmenschlich! Und die kommen hierher, um uns zu verjagen, uns „umzuvolken“, unsere Frauen zu vergewaltigen, uns zu ermorden und danach (oder war‘s vorher?) zu islamisieren. Ganz schlimm, dass selbst die Harmloseren unter denen sich absichtlich aus ihren Häusern bomben lassen, um hier auf unsere Kosten das Sozialsystem auszurauben. Dass seit der Ära Kohl ganz ohne jegliche ausländische Unterstützung mindestens 700 Milliarden Euro aus der Rentenkasse zweckentfremdet – und damit den Rentnern tatsächlich geraubt wurden – spielt da quasi keine Rolle. Denn das sind ja unsere Diebe und auf die lassen wir mal nix kommen! Aber Ausländer mit Handy, das geht gar nicht! Na gut, man muss differenzieren. Der Brite und der Amerikaner sind ja auch Ausländer und gegen die haben wir ja nichts. Franzosen gehen trotz traditioneller Erbfeindschaft auch noch, bei Österreichern, den Fast-schon-Balkanesen wird’s aber schon mal kritisch. Aber vor allen, die aus dem Osten oder dem Süden kommen, muss man sich schon hüten. Hinfahren, gut, aber deswegen müssen die noch lang nicht zu uns kommen.

Wir kleiden uns betont modisch und stylen uns, aus Angst, jemand könnte schlecht von uns denken. Kinder brauchen mit sieben schon das neueste iphone, denn falls sie das nicht haben, besteht die Angst, dass sie gemobbt werden. Aus diesem Grund halten wir uns auch allzu oft mit unserer Meinung zurück, es könnte ja negative Folgen haben. Hat es oft ja auch! Offiziell wollen die Betriebe ja neue Ideen von ihren Mitarbeitern, aber viele von denen haben bereits die Erfahrung gemacht, dass die Kehrseite der neuen Idee die (potenziell immanente) Kritik an dem ist, was die Vorgesetzten bisher gemacht haben. Und ernste Kritik, das geht natürlich nicht, das stellt ja Autoritäten infrage. Und niemand fürchtet sich mehr davor, sich selbst zu verlieren als Autoritäten. Wir machen Diäten, gehen ins Fitness-Studio und halten uns fit, wir machen Aktivurlaub, weil wir fürchten, dass man uns sonst nicht für leistungsfähig hält. Wir brauchen die neueste Technik, um nicht als altmodisch oder finanziell schwach zu gelten und die sichersten SUVs, um unsere Kinder unbeschadet die 300m zum Kindergarten bringen zu können.

Ganz massiv bringt das aktuelle Corona-Virus diese dunkle Seite der deutschen Bevölkerung zum Vorschein. Sicher, das Virus bringt gewisse Gefahren mit sich. Für gewisse Risikogruppen wie ältere Menschen oder solche, die an einer Vorerkrankung leiden und / oder, die ein geschwächtes Immunsystem. Aber doch nicht für alle anderen. Doch die Medien berichten über nichts anderes mehr, 24/7 geht es um Corona. Um das, was andere Länder machen, um das was unsere Bundesregierung macht, aber vor allem, was sie nicht macht! Diese MÖRDER! ANGST geht um, Quarantäne droht! Wie schrecklich! 14 Tage ohne Einkaufen, ohne Lebensmittel, ohne Klopapier! Um Gotteswillen! Da müssen wir Vorräte anlegen, vor allem an Nudeln (sogar solche aus Weizen, vergessen ist angesichts solcher Schrecken die Gluten-Gefahr). Und aus Angst, weil die anderen Hamsterkäufe machen, besteht die Gefahr, dass plötzlich Lebenswichtiges – Klopapier fällt in Deutschland definitiv in diese Kategorie, warum eigentlich? Angst, dass man sich die Finger schmutzig macht? – ausgeht, deshalb machen wir – nur sicherheitshalber! – … Hamsterkäufe. Und plötzlich ist das Toilettenpapier tatsächlich ausverkauft. Und die Seife. Und die Nudeln. Und die Desinfektionsmittel. Und Mineralwasser. Und Konserven. Und die Leute, die aus finanziellen Gründen oder weil sie arbeiten müssen, kein Geld oder keine Zeit für Hamsterkäufe haben, gehen völlig leer aus. Und plötzlich wird aus einem eingebildeten Problem ein echtes. Wenn nämlich niemand Hamsterkäufe gemacht hätte, wenn also niemand aus Furcht überreagiert hätte, würde das Problem überhaupt nicht existieren. Meine Güte, Deutschland!

Die Angst als Machtinstrument

Aber nun kommt es ganz dicke! Vor allem hat der Deutsche Angst, vom Virus bis zum Russen, vor allem, seltsamerweise aber nicht vor den wahren Gefahren für das Geschick der Menschheit: Klimawandel, Neoliberalismus und das Prinzip des steten quantitativen Wachstums, Umweltverschmutzung, Überbevölkerung. Warum nicht? Wir kennen die Fakten. Wir wissen, dass Wissenschaftler wie Stephen Hawking der Menschheit nur noch 50 Jahre auf diesem Planeten geben. Und wir wählen nach wie vor überwiegend just die Parteien, die für ein absolutes Desinteresse an den nötigen radikalen Schritten stehen, aus Angst (schon wieder!), es könnte ja der Wirtschaft schaden. So etwa nach dem Motto, wenn der Mensch keine Lebensgrundlage mehr hat, nicht so wichtig, Hauptsache, wir beschädigen unsere Wirtschaft nicht??? Ernsthaft???

Angst ist für einige ja ganz praktisch, zumal für alle diejenigen, die (kurzfristig) davon profitieren, dass möglichst nichts sich ändert. Und wer ist das? Da kommen Sie schon selbst drauf, denke ich mal. Ein Herr Scheuer beispielsweise freut sich bestimmt, dass seine mutmaßlichen Verbrechen im Amt jetzt kein Thema mehr sind. Dass Angst gezielt geschürt wird, ist täglich zu beobachten. Insbesondere Rechtsextreme machen das ja sehr erfolgreich bereits seit Jahrzehnten. Ängste schüren ist ihr tägliches Geschäft. Und warum tun sie das? Weil sie genau wissen: Wer deine Angst beherrscht, beherrscht auch dich! Nicht nur Rechtsextreme bedienen sich dieses machtpolitischen „Instruments“. Wenn die Linke droht, bei Wahlen zu gut abzuschneiden, dann wird von allen rechten Parteien gern die SED-Keule hervorgeholt. Dass Parteien wie die CDU oder die FDP eine weitaus stärkere Bindung zu ehemaligen SED-Kadern zu verantworten hätten (sie haben allerdings, anders als die LINKE, diese Episode niemals aufgearbeitet) als die PDS, spielt da keine große Rolle, denn das ist in der Bevölkerung kaum bekannt. Wichtig ist: Man kann mit den Leuten mit der SED-Keule ganz prima Angst machen. Damit sie auch schön brav das „weiter so!“ wählen, obwohl – oder gerade weil? – vielen in der Bevölkerung langsam dämmert, dass genau das „weiter so!“ in den sicheren Untergang der Menschheit führt?

Ob ich Ihnen mit diesem letzten Satz wohl Angst machen will? Natürlich! Ich will ja, dass sich etwas ändert. Aus Liebe zur Menschheit! Aber lassen Sie sich von mir bitte ebenso wenig beeinflussen wie von den professionellen Angstmachern! Angst ist der schlechteste Ratgeber überhaupt. Aber lesen Sie doch einfach mal nach, was die Wissenschaft sagt! Wenn Sie dann immer noch Angst haben … könnte sie dieses Mal berechtigt sein.

Es gibt in Deutschland ein schönes Wort (nun, nicht klanglich schön, aber von der Bedeutung her): Gelassenheit. Lassen Sie sich das Wort quasi auf der Zunge zergehen: Ge…lassen…heit. Da steckt das Wort „lassen“ drin und in der Erkenntnis hinter dieser Wortzusammensetzung steckt sehr viel Weisheit. Geschehen lassen, beobachten, nicht mit Angst, sondern mit unvoreingenommener Neugier, vielleicht mit Interesse, das ist nicht nur der Schlüssel, um in sich zu ruhen, um ausgeglichen und daher vorurteilsfrei an die Probleme unserer Zeit heranzugehen. Doch verstehen Sie mich nicht falsch, Gelassenheit ist nur eine der beiden nötigen Komponenten. Die andere ist die Unterscheidungsfähigkeit zwischen wirklichen Gefahren und solchen, die nur an uns herangetragen werden, um uns zu bestimmten Handlungsweisen zu bewegen. Der zweiten Kategorie sollte mit Gelassenheit begegnet werden. Der ersten damit, dass man sich den echten Gefahren zügig und mit aller Kraft stellt. Dann haben auch unsere Kinder und Enkel noch eine Zukunft auf diesem wunderbaren blauen Planeten …

„Angst entsteht durch Unsicherheit. Wir können die Angst in uns beseitigen, indem wir uns selbst besser verstehen.“ – Bruce Lee

„Angst verhindert nicht den Tod. Sie verhindert das Leben." – Naguib Mahfou