100 Jahre Summerhill - ein vergessenes Kapitel
Die Schule, an die ich anlässlich ihres 100. Jahrs ihres Bestehens erinnern möchte, nennt sich selbst:
„A.S. Neill's Summerhill School“ und ihr Slogan lautet ebenso frech wie selbstbewusst: „Founded in 1921 still ahead of its time“, auf Deutsch: „1921 gegründet und noch immer ihrer Zeit voraus.“
Dieser Anspruch könnte gerechtfertigt sein. Leider wird über solche Schulen und die ihnen zugrundeliegenden Prinzipien heute nicht mehr diskutiert, weshalb diese Schule leider außerhalb ihres Wirkungskreises in England höchstens bei aufgeschlossenen Pädagogen noch bekannt ist.
Kennengelernt habe ich diese Schule in meiner eigenen Kindheit … durch ein Kinderbuch. Es ist nach wie vor erhältlich, wurde von niemandem Geringeren als Harry Rowohlt ins Deutsche übersetzt und heißt: „Die Grüne Wolke“, Originaltitel: „The Last Man Alive“. Dieses Buch fand ich im Alter von 10 Jahren so faszinierend, dass ich es gleich mehrfach gelesen habe. Erst vor wenigen Monaten habe ich es wieder hervorgekramt und fand es auch als Erwachsender höchst unterhaltsam, was daran liegt, dass das Buch auf mehreren Ebenen funktioniert: Viele Aspekte davon sprechen nur oder überwiegend Kinder an, es gibt aber auch jede Menge humorvolle und historische Anspielungen, die ein Kind noch gar nicht verstehen kann, die dafür aber einem Erwachsenen, zum Beispiel dem, der das Buch seinem Kind vorliest, Vergnügen bereiten. Was konkret nun fand ich damals so faszinierend an dem Buch?
Drei Dinge, im Wesentlichen:
Nummer eins war die Geschichte, die so ganz anders war als das typische Kinderbuch sie hergab. Es geht um eine Schulklasse (eben aus dieser Summerhill-Schule), die auf einen Ausflug mit dem Luftschiff eines mit dem Schulleiter befreundeten, sehr dicken amerikanischen Millionärs eingeladen werden. Sie steigen hoch und immer höher, bis sie über den Wolken fliegen, die, wie sie mit Befremden feststellen, unnatürlich grün gefärbt sind. Zurück auf der Erde stellen sie fest, dass alle Menschen (nicht dagegen Pflanzen oder Tiere) zu Stein verwandelt wurden. Die weitere Handlung dreht sich nun darum, wie die Kinder sich das Leben nach dieser Apokalypse einrichten, wie sie mit versagenden Tiefkühltruhen, dem fehlenden Schutz einer Zivilisation und Aggressionen umgehen. Auch wenn das Thema ein drastisches ist, der Erzähler würzt die Geschichte mit einer kräftigen Portion Humor, selbstverständlich britisch-schwarzem. Warum die Geschichte so anders ist? Keine Moralin-Säure, keine Konventionen zwängen sie in irgendein Korsett. Wenn ein Kid Lust hat, mit einer MP herumzuballern oder kräftig zu fluchen, dann tut es das auch. Kritik an solchem Verhalten kommt, aber auf andere Weise als der Leser vielleicht erwarten würde. Selbst mit dem Tod, auch dem eigenen, werden die Protagonisten und damit auch die Leser auf lebhafte Weise (falls mir das Wortspiel erlaubt ist …) konfrontiert.
Nummer zwei: Dass diese Schule völlig anders ist als alle anderen Schulen, besonders bezogen auf den Umgang, den Lehrer und Schüler miteinander pflegen und den Situationen, die sich daraus ergeben, hörte sich für einen Zehnjährigen überaus reizvoll an. Denn Kinder dürfen nicht nur Kinder sein, sie werden sogar als solche respektiert. Und nicht nur das: Der Erzähler ist seiner Zeit so weit voraus, dass er das damalige Rollenverständnis von Mädchen und Jungs nicht nur thematisiert, sondern auch aufbricht, was aber nicht heißt, dass die herkömmlichen Rollen einfach verschwinden würden. Ein Mädchen hat durchaus die Wahl, ob es in einer Situation lieber schmollt, ihre weiblichen Reize einsetzt oder sich – ganz unmädchenhaft – eine MP schnappt, um ein Problem zu lösen. Was nicht bedeutet, dass es keine Autorität gäbe, der Erzähler – einer der beiden überlebenden Erwachsenen – bemüht sich durchaus um eine gewisse Autorität, die er sich teils zu erobern vermag, teilweise aber auch am Versuch gnadenlos scheitert. Für ein Kind enthält die Erkenntnis, dass es auch andere Lebensmodelle gibt, als sich unbedingt der Autorität von Eltern und Erwachsenen zu unterwerfen, durchaus eine gewisse Attraktivität.
Nummer drei: Die Geschichte wurde 1938 veröffentlicht. Mündlich erzählt wurde sie vielleicht ein/zwei Jahre früher, was der / die Leser/in in den historischen Anspielungen auf Nazi-Deutschland oder Franco-Spanien durchaus mitbekommt. Der Autor hat aber nicht nur die Geschichte selbst aufgeschrieben, sondern auch die Reaktionen der Kinder, die selbstverständlich alle auch Protagonisten waren, darauf festgehalten. Die Kinder konnten auf den weiteren Verlauf der Geschichte also einen erheblichen Einfluss nehmen und sparten auch nicht an Kritik. Diese Diskussionen sowie der Umgang des Schulleiters mit dieser Kritik sind ebenso bemerkenswert wie die Geschichte selbst.
Diese Geschichte von der „grünen Wolke“ zeigt durchaus ein repräsentatives Abbild dessen, wie es in dieser Schule in Summerhill zuging und übrigens bis heute noch immer zugeht. Und noch immer leitet eine Nachfahrin des Gründers Alexander Sutherland Neills, der gleichzeitig auch der Erzähler dieser Geschichte ist, diese private Institution, die nach so ganz anderen Regeln spielt als sie im traditionellen Schulbetrieb, auch in England, üblich sind.
Was sind nun die grundlegenden Prinzipien in Summerhill?
A.S. Neill bezeichnet sein Konzept als „selbstregulative Erziehung“ nach dem Prinzip „freie Erziehung“, was auf keinen Fall zu verwechseln wäre mit „frei von Erziehung“, wie das in den Sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts gern propagiert wurde. Folgende Rahmenbedingungen, die sicherstellen sollen, dass jedes Kind sich in die Richtung entwickeln kann, die es für sich als die richtige erkennt, gelten bis heute in dieser Schule:
Das Prinzip der Gleichberechtigung von Kindern und Erwachsenen und demokratische Strukturen.
Keine Schulbehörde, kein Elternbeirat und auch nicht der Schulleiter bestimmen, wo es in der Schule langgeht. Das machen Kinder und Lehrkräfte quasi unter sich aus. Dafür gibt es eine Reihe von Schulinstitutionen. Als die beiden wichtigsten wären einmal zu nennen das „General Meeting“, das einmal pro Woche stattfindet und in dem Schüler und Lehrer gleichberechtigt über das Regelwerk der kommenden Woche entscheiden. Alles steht dabei zur Disposition mit wenigen Ausnahmen, die die Felder Gesundheit, Verwaltung, Sicherheit und Alkoholverbot betreffen. Dieses Meeting stellt quasi die Legislative dar. Die Judikative ist repräsentiert im sogenannten „Tribunal“, in dem einmal wöchentlich Probleme diskutiert werden. Auch hier sind Schüler und Lehrer gleichermaßen stimmberechtigt, sowohl Schüler als auch Lehrer müssen sich bei vermeintlichen oder echten Regelverstößen hier verantworten und können dementsprechend verurteilt werden. Die Strafen sind mit Geschirrspülen und Aushelfen in der Theater AG allerdings recht drakonisch, sodass Regelverstöße sicherlich nicht allzu oft vorkommen. Alle Ämter werden durch Wahlen besetzt, werden immer nur für eine begrenzte Zeit pro Person besetzt und können auf demokratischem Weg notfalls auch wieder entzogen werden. Machtmissbrauch kann somit kaum stattfinden.
Der Unterrichtsbesuch ist freiwillig
Kein Kind wird dazu gezwungen, ins Klassenzimmer zu kommen oder anderweitig am Unterricht teilzunehmen. Wenn es gerade etwas Interessanteres zu tun hat oder einfach gar nichts tun möchte, liegt das allein in der Entscheidung des Kindes selbst.
Das Klassenzimmer ist nicht (notwendigerweise) das Zentrum des Unterrichts.
Lernen ist nicht davon abhängig, wo ein Kind sich gerade befindet. Lernen kann ebenso stattfinden in Werkstätten, in Aufenthaltsräumen oder in der freien Natur. Die Interaktion zwischen dem Lernstoff einerseits und dem Geschehen um die Kinder herum ist ein wesentliches Element.
Viele Schüler sind im Nachhinein begeistert von ihrer Schule und senden gerne ihren eigenen Nachwuchs dorthin. Und obwohl sich die Schulabgänger nicht unbedingt auffällig verhalten oder zu „Assozialen“ mutieren, sondern sich regelmäßig zu höchst angesehenen Mitgliedern der Gesellschaft entwickeln, hat die Summerhill School im Laufe ihrer hundert Jahre unglaublich viel Gegenwind erfahren, beginnend bei einer ungewöhnlich hohen Inspektionsrate durch die Schulbehörden bis hin zu Schließungsverfügungen und gezielten Diskreditierungen. Dass konservativen Kräften ein freiheitliches, nach demokratischen Regeln selbstbestimmtes Schulsystem ein Dorn im Auge ist, verwundert nicht wirklich.
Gleichwohl hat die Schule von A.S. Neill all diese Fährnisse bislang wohlbehalten überstanden. Sie stellt noch immer ein Leuchtfeuer dar im Meer der pädagogischen Diskussionen und könnte nach wie vor ein durchaus geeignetes Modell sein für künftige Zeiten. Wie gesagt: „Founded in 1921 still ahead of its time.“
Mir bleibt nur, herzlich zu gratulieren!
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