Der Kaiser
steht und lässt sich kleiden
teure Stoffe seiner schmalen Gestalt
für die Kerle da draußen wär‘ er gern bescheiden
er schaut in den Spiegel
und fühlt sich alt
Der versammelte Adel, hoffärtige Herren
wollen Reformen um den Reichtum zu mehren
senile Väter setzen keinen Fuß mehr vors Schloss
degenerierte Söhne sitzen jetzt hoch zu Ross
Er kennt sie von früher
als sie sich balgten und rannten
bis steife Erzieher
sie der Herkunft mahnten
jetzt sah und war
ein jeder seinem Vorfahr
so ähnlich, als wäre die Zeit
beliebig austauschbar
und der Kaiser
gesteht sich lächelnd ein
Geschichte scheint
eine Wiederholung zu sein
Doch im Spiegel lächelt ein
vergrämtes Gesicht
ein alter Mann
dem der letzte Tag anbricht
und unterm Strich
bleiben nur Vermerke
für geschichtsträchtige Werke
sein Name
als Teil von Chronologien
für Plätze, Gassen oder Akademien
Der Kaiser beginnt
sich zu kämmen
die Schulter schmerzt
Noch lebt sein engster Berater
sein Feldherr, sein „Bruder und Vater“
ihm zu vertrauen hat sich immer gelohnt
der einzige, der ihm treu zur Seite stand
ruhig und besonnen
Waisenkind
und mitgenommen
gebracht
als Spielgefährte gedacht
für den Hofadel stets nur fremdes Blut
kein Gleicher unter Gleichen
schon als Kind
mit kompromisslosem Mut
hieß er selbst den Kaiser weichen
furchtlos
gegen Freund und Feind
respektlos
gegenüber Ordnung und Hierarchie
war er
den Soldaten ein Vater
nein mehr
er liebte sie
Der Kaiser stützt sich
gegen
den Spiegel
Erst mit dem Feldherren konnte er sich
gegen die puppenartigen Hoflehrer behaupten
die den jungen Prinzen seltsam ängstigten
und ihm seinen Schlaf raubten
steif und unterwürfig haben sie Etikette bewahrt
Leblosigkeit in mechanisch-freundlicher Art
wenn ihr spöttisches Lächeln sie verraten hat
sie trugen ihre Brille wie ein Zepter der Macht
zogen mit dem Stoß Bücher unterm Arm in die Schlacht
stolz auf ihr Wissen
auf ihr kleines Weltsegment
waren sie
weltfremd
eine hölzerne Verbeugung
voller Verachtung
für die unwissende Umgebung
und doch beugten sie ihr Knie
vor einem sieben- oder achtjährigen Knaben
vor ihrer eigenen Schizophrenie:
denn einerseits hatten sie Angst zu haben
vor des alten Tyrannen Launen
andererseits hatte man ihnen
die Autorität verliehen
seinen Sohn zu erziehen
ja sie waren gelehrt und wussten viel
auch die Regeln von diesem Spiel:
später kann es zwar
meist keiner bezeugen
doch – wie jeder – wussten auch sie
das Recht ist leichter zu beugen
als das eigene Knie
Und so haben diese Gelehrten
einem Knaben die Kindheit genommen…
doch mit dem neuen Spielgefährten
hat dann der Prinz Oberhand gewonnen
Wieder lächelt der alte Mann.
Denn,
des Feldherren furchtlose, schwarze Augen
hatten selbst den Kaiser
in Bann gezogen
er sprach überlegt und bestimmt.
Vater wünschte sich dann und wann
der eigene Sohn
wäre,
wie das fremde Findelkind.
Man wusste nicht viel von ihm
und was man wusste
deutete wie es schien
nicht auf adeligen Stammbaum hin
Doch diesem Mann gelang
das Reich vor allen Gefahren
zu bewahren
über sechzig Jahre lang
in jedem Waffengang.
Sein leiblicher Vater ließ sein Leben am Feld
von des Kaisers Soldaten grausam entstellt
und die Mutter nun Witwe brauchte das Geld
ihr Kind zu kleiden
sich und den Knaben zu versorgen
doch der konnte die Gönner und Freier nicht leiden
er hasste die Männer und ihre gierigen Augen
Der siegreiche Tyrann
ritt mit seinem Gefolge durchs unterjochte Land
als plötzlich ein Knabe in der Gasse stand
ihm den Weg versperrte
und vom Kaiser begehrte:
gib einen Vater mir
und Gott sei mit Dir
Der Kaiser ließ halten und stieg vom Pferd
ging langsam zum Knaben mit seinem Schwert
kein Mann, kein Graf
kein Narr am Hof
niemand sonst sprach so mit ihm
doch dieser Knabe schien Angst nicht zu kennen
und wiederholte sein Begehr ruhig und besonnen
„Wie kannst Du es wagen?
- Du weißt wer ich bin?“
„Du?“
hörte er den Knaben sagen,
„Du bist der Kaiser, der Tyrann
lenkst Schlachten mit deinem Geschick
hast leider keinen Frieden im Sinn
aber bring mir meinen Vater zurück,
und du kannst weiterziehen“
Der Kaiser nickt
er kann es verstehen
und bittet den Feldherren mitzugehen
hinaus da zu den versammelten Herren
um den Kerlen ihr Begehr zu verwehren
um erneut das Reich vor Zerfall zu bewahren