Vatersland

Der Kaiser war weder besonders schlecht noch besonders gut.

Er war einfach der Kaiser, und das seit ewigen Zeiten. Wie es vor dem Kaiser einmal gewesen war, wussten die Leute nicht mehr.

Es hatte ihn immer schon gegeben.

Der Kaiser stand vor dem großen polierten Spiegel und fühlte sich alt. Um ihn war nichts mehr wie es früher war. Die Herren Adeligen mit denen er immer gezwungen war seine Zeit zu verbringen, waren entweder tot oder zumindest so gebrechlich und senil, dass sie keinen Schritt mehr vor ihre Schlösser setzten. Die Jungen, die nächste Generation hat ihre Geschäfte übernommen, und auch sie waren keine jungen Hitzköpfe mehr.

Er kannte sie noch, da konnten sie kaum gehen, oder balgten sie sich mit Gleichaltrigen herum, bis die Erzieher sie ihrer Herkunft mahnten. Jetzt sahen und waren sie ihren Vätern und Müttern so ähnlich – es schien fast als wären durch die dreißig Jahre die Zeiten beliebig austauschbar.

Der Kaiser lächelte unwillkürlich. Die Geschichte scheint sich oft zu wiederholen.

Doch im Spiegel lächelte ein alter Mann, dessen vergrämtes Gesicht alles andere als Zufriedenheit ausstrahlte.

Er wusste, dass für ihn die Geschichte bereits zu Ende war. Nichts, nicht einmal die Erinnerung würde bleiben. Ein paar unpersönliche Vermerke zu einem fettgedruckten Namen in irgendwelchen Geschichtsbüchern. Vermerkt von dieser neuen Generation, diesen in die Jahre gekommenen jungen Hitzköpfen und ihren verzogenen Nachkommen.

Er begann sich zu kämmen, die Schulter schmerzte.

Von den Vertrauten lebte eigentlich nur mehr der Feldherr, der einzige auf den er sich immer verlassen konnte. Der einzige, der ihn auch jetzt nicht zu verlassen schien. Er musste sogar älter sein, ein oder zwei Jahre. Seit er denken konnte, war ihm der Feldherr so etwas wie ein großer Bruder.

Damals war ihm der ruhige, besonnene Knabe als Spielgefährte gebracht worden. Er hatte nie diese unterwürfige Art, weder dem Vater – dem alten Kaiser –, noch dem Hofadel gegenüber und schon gar nicht schien er Respekt vor dem Prinzen, dem jüngeren Spielkameraden zu haben.

Er war der eigentliche Erzieher damals. Die puppenartigen Hoflehrer konnte der Prinz nie leiden, sie waren ihm zu steif und zu unterwürfig, waren ihm zu leblos in ihrer mechanisch-freundlichen Art.

Ihr spöttisches Lächeln verriet sie. Hochnäsig waren diese Gelehrten, alle fünf trugen ihre Brille als wäre sie ein Zeichen der Auserwählten. Und Sie waren so stolz auf ihr Wissen, auf ihr bisschen Weltsegment, auf den Stoß Bücher unterm Arm. Ihre hölzernen Verbeugungen waren voller Verachtung für die unwissende Umgebung. Doch sie beugten ihr Knie vor einem sieben- oder achtjährigen Knaben.

Sie hatten Angst vor den Launen eines Kindes, vor der Unberechenbarkeit des Vaters. Angst vor ihrer eigenen Machtlosigkeit. Sie fühlten sich im Recht, aber sie wussten, dass dieses Recht leichter zu beugen war als ihr eigenes Knie. Und so haben diese Gelehrten einem Knaben die Kindheit gestohlen, weil sie um ihr eigenes kleines Dasein fürchteten.

Wieder lächelte der alte Mann.

Der Feldherr hatte nie Angst. Selbst den alten Kaiser hatten seine ruhigen, fast schwarzen Augen in Bann gezogen. Er hatte so seine eigene Strategie entwickelt, wie er der Willkür aus dem Weg zu gehen versuchte – in dem Punkt war er mit den Lehrern wahrscheinlich einig und diesen näher als er jemals zugeben würde.

Wenn er irgendein Recht oder eine Logik auf seiner Seite glaubte, widersprach er allen – auch dem Kaiser. Er sprach ruhig und bestimmt, mit respektvoller, höflicher und dabei so selbstbewusster Haltung. Der Vater wünschte sich manchmal, dass der eigene Sohn wäre, wie der fremde Waisenknabe, den er irgendwo im Feindesland aufgelesen hatte. Ihm haftete Adel an. Viel wusste man nicht von dem Kind. Was man wusste, deutete bezüglich seiner Herkunft auf alles mögliche hin, ganz gewiss jedoch nicht auf einen adeligen Stammbaum – und doch, es war kein Zufall, dass dieser Mann beinahe sechzig Jahre das Reich vor den äußeren und inneren Feinden zu schützen vermochte. Sein leiblicher Vater dürfte schon bald nach Geburt des Knaben sein Leben auf dem Schlachtfeld gelassen haben. Die Mutter versuchte sich und das Kind irgendwie zu erhalten, doch der damals vielleicht Vierjährige konnte die Gönner und Geldgeber nicht leiden.

Der Kaiser ritt mit seinem Gefolge durch die kleine Ortschaft, als plötzlich ein Kind mit einem kurzen Holzschwert in der Gasse stand. Auf die Frage nach dem Begehr, antwortete der Knabe, er wünsche seinen Vater zurück. Er weinte nicht und trotzte nicht. Mit ruhiger bestimmter Stimme sagte er: „Du bist mächtig Kaiser... bring mir den Vater zurück und Gott sei mit Dir, wenn du diese Gasse passierst.“

Der Kaiser hieß absitzen. Langsam ging er auf das Kind zu. Während sonst niemand mit ihm sprach ohne den Blick zu senken, demütig das Haupt zu beugen, schien dieser Knabe keine Angst zu kennen. Er stemmte sein Schwert vor sich in die Straße und wiederholte seine Worte. Er redete frei heraus und seine Worte, wie auch die klugen Augen wollten nicht zu dem Kind passen, vielmehr schien ein bereits gereifter Verstand in ihm zu stecken. „Du weißt wer ich bin?“, fragte der Kaiser. Der Knabe nickte. „Und Du wagst es mich anzuhalten?“ Der Knabe schaute den Kaiser forschend an, langsam nickte er: „Bring mir den Vater zurück und Gott sei mit Dir“.

In gewisser Weise brachte der Kaiser den Vater zurück. Er nahm das Kind mit und ließ es wie einen eigenen Sohn erziehen.

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