Silbermann 2001
Diskussionbeitrag von Ibo Ortgies, Göteborg/Schweden
Dieser Diskussionsbeitrag nimmt Bezug auf Andrea Wolters' Artikel "Abschied von einer schönen Illusion. Keine Silbermann-Rekonstruktion für die Frauenkirche" in der "Sächsischen Zeitung", erschienen am Freitag, dem 16. März 2001, Seite 16.
Frau Wolter hat in ihrem Artikel eine Reihe von Argumenten vorgelegt, die inhaltlich und methodisch gravierende Mängel aufweisen, und hier insoweit im Einzelnen widerlegt werden sollen.
Die Rückgängigmachung der für Dresdens musikalische Zukunft bedeutsamen Entscheidung, auf die getreue Rekonstruktion der Silbermann-Orgel zu verzichten, ist noch möglich und es sprechen viele Gründe dafür - neben den sachlichen Gründen sollte auch der sich erhebende Protest aus der Fachwelt und von zahlreichen Musikliebhabern beachtet werden.
Kirche authentisch - Orgel nicht!
Frau Wolter weist auf den Kriegsverlust der Silbermann-Orgel hin und meint im Anschluß, daß die Rekonstruktion des Instrumentes daher unmöglich sei. Haben Sie auch konsequenterweise ebenso vehement gegen den Wiederaufbau der Frauenkirche gestritten? Denn was Sie über die Orgel sagen, müßte doch auch für die Kirche gelten, die genauso in Schutt und Asche lag? Ein moderner Konzertsaal für das jetzt beschlossene Nicht-Silbermann-Konzept hätte es dann auch getan, und viel billiger noch dazu.
Warum macht man bei der Orgel, genauer gesagt, dem Versuch der klanglichen Rekonstruktion halt? Was ist das für eine Denkmalpflege bzw. Stadtplanung, die zwar die komplette Rekonstruktion eines großen Kirchengebäudes an städtebaulich prägender Stelle zuläßt, sogar den Innenraum samt Interieur einschl. des Äußeren der Orgel wiederherstellt, aber dann bei der klanglichen Rekonstruktion die Ohren verschließt?
Es stimmt: Interieur und Gestalt der Orgel bildeten eine Einheit. Genau für diesen Raum hat aber Silbermann seine Orgel geschaffen bzw. angepaßt. Merkwürdig, daß die "Expertin" hier nicht auch die Erkenntnis vertritt, daß Gehäuse und das Innere der Orgel eine ebenso untrennbare Einheit bilden.
Es ist daher falsch, auf Silbermanns Klangideal zu verzichten, und es widerspricht völlig dem sonst so getreu verfolgten Prinzip des akribischen Wiederaufbaus der Kirche.
Tonumfang, Stimmung und Stimmtonhöhe
Es gibt es eine Fülle bedeutender Orgelmusik von und nach Bach, die, entgegen Frau Wolters Ansicht als Musikwissenschaftlerin, nicht den erweiterten Tonumfang nutzt. Dies gilt auch für moderne Literatur, die in Konzerten heutzutage des öfteren auf restaurierten Orgeln (darunter erhaltenen Silbermann-Orgeln) gespielt wird.
Dies ist bei allen Restaurierungen zur Überraschung von Skeptikern immer wieder zu beobachten. Werke von Ligeti, Hindemith, Brahms u. a. hat der Autor bereits überzeugend auf historischen Orgeln gehört. Die Qualität der Orgel spielt für die Darstellbarkeit des Repertoires häufig eine wesentlich bedeutendere Rolle als die angeblichen Beschränkungen.
Über Fragen der Stimmtonhöhe gibt es eine umfangreiche, gut bekannte Forschung, die Musikwissenschaftler, die sich darüber äußern, zur Kenntnis nehmen müssen. Die absolute Tonhöhe der Silbermann-Orgel der Frauenkirche, lag ziemlich genau einen Halbton unter der heute meist gebrauchten Tonhöhe, seine anderen Orgeln lagen einen Halbton darüber, also insgesamt einen Ganzton auseinander.
Es handelt sich im Falle der Orgel der Frauenkirche um den spätbarocken, relativ tiefen "Kammerton". Für die grundsätzliche Bedeutung dieses alten Standards spielen auch leichte Abweichungen keine Rolle.
Es ist keine "von der gegenwärtigen Musikpraxis geschaffene Konvention für die Aufführung Alter Musik", sondern ein historisch sicher belegbarer Standard, der heute bei Aufführungen älterer Musik wieder die verdiente große Rolle spielt. Kein Ensemble auf historischen Instrumenten wendet den nun angestrebten Kammerton a' = 440 Hz an.
Indem man die Orgel auf diese, angeblich "moderne" Tonhöhe bringt, verringert man drastisch die Möglichkeiten mit historischen Instrumenten der Musik vor 1800, z. B. von Bach, gerecht zu werden. Die musikalischen Möglichkeiten werden durch die jetzigen Entscheidungen vermindert, und zwar vor allem qualitativ!
Das Spiel mit einem größeren Ensemble, einem Orchester, egal, ob modern oder alt, ist sowieso kaum zu bewältigen, denn mehr als eine Handvoll Musiker hat zum einen in praktikabler Nähe der Orgel keinen Platz oder könnte zum andern aufgrund der Entfernung (17 Meter unter der Orgel) ohnehin nicht zusammenspielen. Die Tonhöhe spielt dann keine Rolle mehr und man kann ohne Weiteres auf Silbermann zurückgehen.
Nur unseren Erben der gute Klang?
"Künstlich altern lassen" müßte man eine Rekonstruktion, damit es "Silbermann" würde und das ginge ja nicht, meint Frau Wolter.
Was für eine Vorstellung: Kaufen Sie sich denn ein Klavier, in der Hoffnung, in 60 Jahren werde es endlich gut klingen, damit es dann Ihren Erben gefalle? Nein, natürlich nicht: sofort muß es gut klingen, am ersten Tag, und so war es bei Silbermann und anderen Instrumentenbauern auch, die uns das nachstrebenswert vorgemacht haben.
Deshalb wollen wir hier und heute gerne wissen, wie man eine Orgel baut, die sofort gut klingt.
Bei einer Restaurierung eines Instrumentes, bei der z. B. ein Teil des Pfeifenwerkes neu gefertigt werden muß, "altert" man diesen neuen Teil auch nicht "künstlich". Das ist auch nicht nötig, denn durch geeignete Bauweise und Intonation (die wesentliche Klanggestaltung) des Pfeifenwerks muß der Restaurator die bestmögliche Annäherung an das historische Material anstreben.
Die Hofkirche: Ist nur ein toter Orgelbauer ein guter Orgelbauer?
Die Behauptung die teilweise erhaltene Orgel der Hofkirche sei "eine wirkliche Silbermannorgel" oder werde eine solche durch zukünftige Restaurierung, geht ebenfalls ins "Aus".
Silbermann, war in dem letzten entscheidenden Jahr des Orgelbaues 1754/1755 nicht mehr daran beteiligt: Er starb bereits am 4.8.1753. Die klangentscheidende Arbeit, die Intonation, ist also in der Hofkirche nicht von Gottfried Silbermann ausgeführt worden!
Vermutlich hat er bereits seit 1751 fortschreitende Anzeichen einer schweren Bleivergiftung gezeigt, die ihm das aktive Eingreifen in den Orgelbau immer mehr erschwert und schließlich unmöglich gemacht haben müssen. Dies alles ist aus den Veröffentlichungen des Silbermann-Forschers Werner Müller seit 1972 bekannt.
Wir wissen heute nicht, wer die Orgel intonierte!
Sicher, wesentliche Festlegungen (Größe, Register usw.) hat Gottfried Silbermann 1750 noch selbst vertraglich bestimmt. Aber lt. Werner Müller war man "Wahrscheinlich noch mit der Herstellung der Pfeifen beschäftigt, als der Meister starb." Was hätte der todkranke Orgelbauer noch tun können, um den Pfeifen seine eigene klanggestaltende Meisterschaft aufprägen zu können? Nichts!
Beim Intonieren geht es um kleinste Veränderungen am Pfeifenwerk. Spätere Eingriffe können kaum rückgängig gemacht werden. Die Intonation wurde bei bei früheren Restaurierungsarbeiten kräftig verändert, sie muß daher als verloren gelten.
Es bleibt unverständlich, wie, Frau Wolter folgend, Dresden in der Hofkirche eine "wirkliche", restaurierte Silbermann-Orgel erhalten soll:
Die Hofkirchen-Orgel ist daher a n s t e l l e einer sachgerechten Rekonstruktion der Frauenkirchen-Orgel als Modellfall fehl am Platze! Auch ihre zukünftige Restaurierung kann an diesen Tatsachen nichts ändern.
Moderne Materialforschung
Die Autorin zeigt sich nicht auf der Höhe des aktuellen Wissens, wenn sie behauptet, die Orgel sei "im Material unwiederholbar", da in Analysen die "in alten Pfeifen enthaltenen Unreinigkeiten nicht erfasst" würden.
Seit längerem wurden in der Technischen Universität Chalmers, Göteborg, präzise chemische und physikalische Analysen an verschiedenen Metallproben historischer Orgeln durchgeführt, die bei Restaurierungen als geringfügiges Restmetall anfielen. In Proben von nur wenigen Gramm Gewicht wurden Spurenelemente bis zu einem zehntausendstel Gewichtsanteil sicher nachgewiesen. In verschiedenen Fällen zeigten sich gewisse Häufungen mancher Spurenelemente, die im Zusammenhang mit der Auswertung von historischen Fertigungs- und Produktionsmethoden den klaren Schluß zulassen, daß sie vom Orgelbauer vielleicht bewußt bzw. durch bewußte Anwendung bestimmter Arbeitsmethoden und -materialien hinzugefügt wurden. In jedem Fall kann man aus diesen Angaben die Zusammensetzung, Kristallisation und andere Faktoren, die für die Klanggestalt ebenfalls wichtig sein können, ermitteln. Anschließend kann man erproben, diese Qualitäten zu rekonstruieren, und zwar unter Anwendung der Arbeitsmethoden, die der Orgelbauer früher auch anwandte.
Es soll noch erhaltene, augefundene Metallreste der Frauenkirchen-Orgel geben, die ohnehin nicht mehr verwendbar sind - einen Teil davon könnte man gewiß zum Vergleich genauestens analysieren.
Prozeßrekonstruktion
Dies alles führt in der Praxis des Orgelbaues zur "Prozeßrekonstruktion", hier: durch Forschen und Nachschaffen Silbermanns Arbeitsmethoden verstehen lernen, seine erhaltenen Instrumente nach wissenschaftlichen Standards zu dokumentieren und das erworbene Wissen in einer Rekonstruktion an Ort und Stelle in der Frauenkirche anwenden - das könnte man sehr wohl!
Keine genaue "Kopie" sondern ein tiefgehender Lernprozess aufgrund genauen Studiums. Das wäre keine strenge "Kopie" der Maße der Silbermann-Orgel, sondern die weitgehende Erlernung der Methoden, die seine hohe Kunst hervorgebracht haben.
In Fachkreisen ist weltweit gut bekannt, daß in Göteborg auf diesem Gebiet eine umfangreiche Forschung betrieben wird. Forschungsresultate wurden z. T. schon vor wenigen Jahren veröffentlicht und bei Tagungen vorgetragen. Die Forschungsergebnisse flossen erstmals in die hiesige Rekonstruktion einer Barockorgel im norddeutschen Stil um Arp Schnnitger ein. Bei der 14-tägigen Präsentation und Einweihung der "Norddeutschen Barockorgel" im letzten Jahr war die internationale Fachwelt präsent, darunter auch einige maßgebliche Vertreter des jetzigen Pro und Contras in Dresden. Keiner dieser Teilnehmer hat die hier erprobten Methoden fachlich beanstandet.
Der Versuch, die ernsthaften Argumente für die Silbermann-Rekonstruktion mit Nostalgie oder Phantasterei abzutun, greift also nicht, denn damit hat ernsthafte Forschung nichts zu tun.
Orgelexperten müßten das aus den vorliegenden Veröffentlichungen in einschlägigen Fachzeitschriften eigentlich wissen. Bekannt ist auch, daß diese Forschung an erhaltenen historischen Orgeln bereits Anwendung findet, und zwar in enger Zusammenarbeit mit kirchlichen und staatlichen Denkmalschutzbehörden, Gemeinden, Orgelbauern und übernationalen Institutionen, die diese Entwicklung unterstützen.
Stockholm: Ein Modell für Dresden?
Ein aktuelles Beispiel für die Modernität dieses Denkens - und vielleicht ein Modell für Dresden - findet sich in der Deutschen Kirche, mitten in der schwedischen Hauptstadt Stockholm: Die original erhaltenen Teile der ursprünglichen Orgel, heute in Nordschweden an zwei Orten vorhanden, wurden vollständig dokumentiert. Anschließend rekonstruierte man die Orgel in der ursprünglichen Gestalt in einer neuen Kirche. Auf der Basis des bei der Dokumentation und Rekonstruktion erworbenen Wissens konnte man die man die alten Teile behutsam restaurieren. Von dem gesamten Projekt hat man sich wiederum in Stockholm überzeugen lassen, eine weitere, komplette Rekonstruktion in Auftrag zu geben: nun aber in derjenigen Kirche, in der die Orgel ursprünglich einmal stand.
Eine vollständige Re-/Neukonstruktion einer historischen Orgel aus dem Anfang des 17. Jahrhunderts in der alten Kirche - begleitet vom zuständigen Schwedischen Amt für Denkmalsschutz!
Warum sollte Ähnliches in Dresden denn nicht möglich sein? Es wäre ein weltweites Vorzeigeprojekt für den sächsischen Orgelbau, die dortige Universität, die ganze Stadt. Welch eine Chance läßt man sich nun aber aus der Hand nehmen?
Die Silbermann-Orgel ist meines Wissens recht gut dokumentiert und Vergleichsinstrumente bestehen zum Teil glücklicherweise noch: da ist es sicher möglich, die (klang)-entscheidenden Bestandteile zu rekonstruieren.
Gezwängte, erzwungene Abschiede?
Natürlich würden im Falle der Durchsetzung der jetzigen Entscheidung der Kommission alle "Abschied von einer schönen Illusion" nehmen - da hat Frau Wolter ganz Recht. Aber es ist:
der Abschied von der Vorstellung, man wolle durch einen getreuen Rekonstruktionsversuch etwas über Silbermann lernen. Silbermann, den man doch angeblich so sehr in Ehren hält. Ja, warum eigentlich wird er denn für solch einen Meister gehalten, wenn man seine Arbeit einfach in den Wind schießen kann?
der Abschied von der Möglichkeit, das gewonnene Wissen aus einer getreuen Rekonstruktion später Orgelbauern, Musikwissenschaftlern, und letzlich Zuhörern zugänglich zu machen.
Abschied n ä h m e Dresden natürlich nicht, sondern es würde dazu durch eine Kommissionsentscheidung g e z w u n g e n, die alles andere als Silbermann bewirkte. Sachliche Gründe sind es, die dem jetzigen Nicht-Silbermann-Entwurf völlig widersprechen. Ein Entwurf, der eine Orgel mit fast doppelt so vielen Registern in die nicht authentische Rekonstruktion der Silbermann-Fassade zwängt.
Offene Fragen
Warum ist man bereit, der Geschichte (der Silbermann-Orgel) und den in Dresden einmalig günstigen Möglichkeiten einer Prozeßrekonstruktion, so bereitwillig den Laufpaß zu geben? Insbesondere die bereits erwogene Lösung einer modernen, zweiten Orgel ließe die kompromißlose Rekonstruktion zu und würde auch für die Musikpraxis in der Kirche einen bedeutenden Zugewinn darstellen.
Wenn der Sachverhalt so wäre, wie Frau Wolter ihn darstellt, warum hat man das nicht von vornherein der Öffentlichkeit mitgeteilt und sie jahrelang glauben machen, daß man der Silbermann-Orgel auf der Spur sei? Und für die getreue Silbermann-Rekonstruktion zu Spenden aufgerufen, die jetzt wohl für etwas völlig anderes verwendet werden sollen. Ist das korrekter Umgang mit Spendengeldern?
Warum der (vor-)schnelle Verzicht auf Erweiterung und Verbreitung unseres Wissens in der von mir hier beschriebenen Weise?
Von Experten für Orgelbau kann erwarten, daß sie sich selbst bestmöglichst informieren. Warum fehlen dann entscheidende Fakten aus lange bekannter, gut zugänglicher Resultate der Silbermann-Forschung? Warum informiert man sich nicht über Aspekte der Orgelforschung, die für eine Silbermann-Rekonstruktion ausschlaggebend sein können? Und warum geht man anschließend mit unvollständiger und damit falscher Information an die Öffentlichkeit?
Ich bitte die Stiftung, die Orgelkommission und Frau Wolter, zu den hier aufgeworfenen Fragen und Punkten Stellung zu beziehen!
Die Öffentlichkeit muß sich ein sachliches Bild von der Entscheidungsfindung und den vorliegenden Alternativen machen können. Es geht nicht um ein Privatvergnügen von einigen Orgelfachleuten, die sich um des Kaisers Bart streiten, sondern um einen wichtigen Teil des zukünftigen Dresdener musikalischen Profils!
Die originale Silbermann-Orgel hätte man mit Sicherheit in den vergangenen Jahren recht gut restaurieren können. Aber Dresden hat eben auf die Frauenkirchen-Orgel 60 Jahre verzichten müssen - auf schreckliche Weise erzwungen durch den Krieg!
Wird man nun weitere 60 Jahre verpassen (wollen) - auf friedliche Weise, durch Fehlentscheidung?
Der Ruf Dresdens als Musikstadt ist bereits jetzt ernsthaft geschädigt! Aber eine Lösung des Knotens ist noch möglich. Die Stockholmer z. B. haben es den Dresdenern vorgemacht.
Man muß nur wollen!