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Geschichte

Napoleon. Von Max Lenz. Mit 92 Abbildungen, 13 Faksimiles und

2 Karten. Zweite, verbesserte Auflage. (Monographien zur

Weltgeschichte in Verbindung mit anderen herausgeg. v. Ed. Heyck).

Bielefeld und Leipzig. Verl. von Velhagen und Klasing. 1908. 4 Mark.

In denselben Tagen, in denen ich in unserm vorigen Heft den kleinen Aufsatz über die Kontroverse zwischen Ernst v. Meier und Max Lehmann veröffentlichte, erschien im Buchhandel die zweite Auflage von Lenzens "Napoleon", die in ihrer Vorrede eine solche Parallelität des Gedankenganges mit jenem meinem Aufsatz zeigt, daß man ausdrücklich fest stellen muß, daß beides unabhängig von einander, und auch ohne daß wir etwa im persönlichen Verkehr dergleichen gemeinsam erörtert, geschrieben worden ist. Es handelt sich um das Verhältnis der deutschen Historiographie zu Ranke. Ganz wie ich es in jenem Aufsatz getan bekennt sich auch Lenz zu der Auffassung, daß Ranke bereits die richtigen Ideen gehabt, daß wir mit Duncker, Sybel und Treitschke von ihnen abgeirrt sind und jetzt wieder zu ihnen zurückzukehren hätten. Inbezug auf die preußische Geschichte, wovon ich gesprochen habe, handelt es sich um das Prinzip, die Rankesche Objektivität, nicht um seine konkreten Auffassungen, da der Meister selbst hier noch nicht bis zum Letzten durch gedrungen war und wo deshalb Max Lehmann das große Feld seiner Tätigkeit gefunden hat; inbezug auf Napoleon, wo Lenz nun dasselbe fordert, hat Ranke auch in concreto schon das Richtige ausgesprochen und es handelt sich jetzt nur noch darum, diese Auffassung, in die man sich anfänglich gar nicht recht hineinzudenken wagte, durchzukämpfen. Der Franzose Vandal hat durch neue Publikationen von Urkunden diesen Kampf sehr erleichtert. In Deutschland ist es neben Lenz namentlich Gustav Roloff gewesen, der zuerst in diesen Jahrbüchern (Oktober-Heft 1891) "Napoleons Plan eines Feldzuges nach Indien" und später in seiner grundlegenden "Kolonial-Politik Napoleons" (1899) und in seiner kleinen Napoleon-Biographie, die ersten breiten Breschen in das System der einseitig deutsch-patriotischen Vorstellungen von dem furchtbaren Welteroberer gelegt hat. Jetzt steht Lenz im Vordergefecht und. hat namentlich durch die quellenmäßige Analyse der Jugendgeschichte und Jugendentwicklung Napoleons die psychologische Grundlage für die richtige Auffassung geschaffen. Die späteren Partien der Biographie, die Zeiten des Kaiserreichs, die uns ja ohnehin bekannter und geläufig sind, sind nur skizziert. Der Accent liegt auf dem Werden dieses unheimlichen Charakters und dem Ursprung seines Kampfes mit dem Schicksal, in dem der Titan endlich erlag. Wo ist der Ursprung dieses Kampfes zu suchen? Wir wissen es seht: alle seine späteren Kriege mit Oesterreich, mit Rußland, mit Preußen, mit Spanien sind nicht Ausflüsse einer unersättlichen Machtgier, sondern ein {s. 145} Konflikt entspringt immer mit Notwendigkeit aus dem andern und alles führt schließlich zurück auf den Wiederausbruch des Krieges mit England im Jahre 1803, der seinen Ursprung in der Rivalität der Engländer und Franzosen um die Seeherrschaft hat.

Nichts kann auch für die tiefere Einsicht in die Krisis, in der wir augenblicklich in Europa stehen, instruktiver sein als das Studium des Ursprunges dieses Konflikts, der Napoleon auf die Höhe seines Ruhmes, schließlich aber nach St. Helena führte, und den Engländern die Seeherrschaft gab, wie sie sie noch heute behaupten. Lenz enthält sich jeder Bezugnahme auf die Gegenwart; ihm ist es rein um das historische Problem zu tun, aber bei der Bedeutung, die dieses Problem hat, und der Entschiedenheit, mit der die richtige Auffassung noch immer bestritten wird, hat er in der jetzt vorliegenden zweiten Aussage, die sonst die erste nur in Einzelheiten verbessert wiedergibt, *) an dieser Stelle einige Seiten eingeschoben. die bestimmt sind, jeden Zweifel, der noch geäußert werden kann, zu zerstreuen.

Zu diesem Zweit zieht der Verfasser namentlich die Berichte des englischen Gesandten in Paris Lord Whitworth heran, die bereits seit Jahren veröffentlicht, doch von der Forschung (ausgenommen Roloff) nicht genügend beachtet waren, und in denen mit runden Worten zu lesen ist: „Der erste Konsul wünscht sicher nicht den Krieg, er weiß, daß er uns nichts abgewinnen kann und daß er das ganze Land gegen sich hat“. Ferner wies der Gesandte hin auf die Schwäche der französischen Finanzen. Ebenso meldete er seiner Regierung, als diese wegen der Rüstungen, die in Hollands und Frankreichs Hafen veranstaltet wären, die Miliz einberief und eine Aushebung von 10000 Seeleuten verkündigte, daß in den französischen Häfen überhaupt keine Kriegsschiffe lägen und daß ihre Wersten und Magazine von allem entblößt seien. Das bestätigte ihm auch ein Agent der englischen Regierung, der in diesen Tagen von London nach Paris hinüberkam. Die Kriegs- und Transportschiffe, die Napoleon hatte, waren draußen aus der Fahrt nach Ost- oder Westindien, zu den französischen Kolonien. Diese Kolonien auszubauen und das durch die revolutionären Bewegungen und Umwälzungen so schwer mitgenommene Wirtschaftsleben Frankreichs im Innern wieder herzustellen, war die Arbeit, die Napoleon damals vor allem am Herzen lag und die die Nation auch vor allem von ihm erwartete.

Grade diese innere Erholung Frankreichs aber war es, die die Engländer fürchteten. Lenz legt vielleicht etwas zu viel Gewicht auf die wirtschaftliche Rivalität der beiden Völker. Jedes Schiff, sagt er, das die französischen Häfen verließ, jede Ladung, die aus Ost- oder Westindien ankam, entging den Kausherren an der Themse, den Webstühlen und

*) Die erste Aussage ist sehr eingehend besprochen von G. Roloff in diesen ,,Jahrbüchern“. Bd. 123 S. 149 (1906).

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Schmieden, die in Leeds und Birmingham zu tausenden standen. Sollte England abwarten, bis Frankreichs Industrie das Festland eroberte, bis aus den ionischen Inseln, am Bosporus und in Alexandria sein Einfluß immer fester werden, in Indien selbst neben ihnen neu erstatten würde?

Es ist ja richtig, daß die damals noch herrschenden wirtschaftlichen Theorien der Vorstellung huldigten, daß, was das eine Volk gewinne, dem andern entgehe. Daß ein reiches Frankreich auch für das industrielle England ein guter Kunde und Abnehmer werden könne und müsse, bedachten die maßgebenden Politiker damals noch nicht. Aber man wäre zu der von Adam Smith längst theoretisch gefundenen Einsicht wohl praktisch eher durchgedrungen, wenn nicht hinter der wirtschaftlichen Rivalität die politische gesteckt hätte. Der letzte Grund, weshalb sowohl die leitenden englischen Staatsmänner wie die öffentliche Meinung es für eine unausweichliche Notwendigkeit hielten, den furchtbaren Krieg, der nun schon zehn Jahre lang alle Kräfte in Anspruch genommen und den man eben für einen Augenblick beendet, von neuem zu beginnen, das war die ungeheure Ausdehnung der französischen Macht auf dem Kontinent: Belgien, das linke Rheinufer, Piemont waren direkt von Frankreich annektiert; Holland, die Schweiz, das obere und mittlere Italien in Abhängigkeit oder Personalunion. Wenn dieses Riesenreich wirtschaftlich erstarkte, die altfranzösische Kolonialpolitik wieder aufnahm, wozu Napoleon nicht nur in Louisiana, in West- und Ostindien alle Anstalten machte, sondern auch in der Expedition nach Egypten einen neuen Weg gezeigt hatte, so konnte England sich in Zukunft nimmermehr gegen eine solche Übermacht behaupten. Das ist der letzte und wirkliche Grund, weshalb die Engländer, gewiß nicht leichten Herzens, beschlossen, in den Kampf einzutreten, ehe die französische Flotte ihnen zu stark geworden war. Man kann die Frage aufweisen, ob Napoleon nicht doch durch Nachgiebigkeit die Kriegsgefahr noch hätte beschwören können. Es handelt sich schließlich um nichts als um das Felseneiland Malta, das die Engländer sich im Frieden von Amiens (1802) verpflichtet hattest dem alten Ritterorden zurückzugeben, trotz dieser Verpflichtung aber besetzt hielten, weil sie den Franzosen das Mittelmeer und den Weg nach Egypten freigeben wollten. Wie vor die Hafen des Kanals und des Ozeans wollten, sie auch vor die der südlichen französischen Miste ihr Schloß legen. Das wollte sich Napoleon nicht gefallen lassen, und die Übergriffe, die er sich seinerseits auf dem Kontinent erlaubte, gaben den Engländern Gründe und Vorwände genug ans Malta zu beharren, und brachten schließlich auch Russland und Oesterreich gegen die Franzosen in die Waffen. Wenn Napoleon diese Übergriffe, namentlich die definitive Annexion Piemonts und die personelle Vereinigung de! italienischen Republik mit der französischen, indem er sich auch dort zum Präsidenten und später· zum König wählen ließ, unterlassen und über Malta irgend einen, wenn auch noch so ungünstigen Kompromiß geschlossen, es wäre vielleicht das Klügere gewesen, oder man darf auch sagen, es wäre {s. 147} sicherlich das Klügere gewesen, aber den Krieg hätte er deshalb schwerlich vermieden, und wenn er aus irgend einen Gebietsteil, irgend eine Einflußsphäre verzichtet hätte, so war vorauszusehen, daß sie in dem bevorstehenden Kampf dem Feinde zuwachsen würden. Er war aber überhaupt der Mann, wie Sorel gesagt hat und Lenz mit Recht wiederholt, die Ereignisse, welche drohten, nicht abzuwarten. sondern vielmehr ihnen zuvorzukommen. Hier ist der Punkt, wo sich das Sachliche und das Persönliche, die Konsequenz der Verhältnisse und der Charakter des entscheidenden Staatsmannes unlöslich miteinander verbinden. Wie weit Napoleon sich darüber klar war, zukünftig einmal den Kampf um die See- und Kolonialherrschaft mit England ausnehmen zu müssen und zu wollen, mag dahingestellt bleiben; jedenfalls, als er sah, daß die Engländer nicht gesonnen waren, ihm zu weit ausholenden Rüstungen die Zeit zu lassen, zögerte er nicht, sondern nahm den hingeworfenen Fehdehandschuh trotzig und selbstbewußt auf.

Dies ist die wahre Genesis der Kriegsepoche, in die auch unser Vaterland bald genug hineingezogen wurde, in der es in Trümmer ging, um verjüngt wieder aufzustehen. In diesen Jahrbüchern (Bd. 47) hat einst Max Duncker die Ansicht verteidigt, der große Plan Napoleons, mit seiner Armee nach England hinüberzugehen, sei ihm nie der oberste Zweck gewesen. sondern zum mindesten zugleich eine Deckung, um sich nach vollendeten Rüstungen mit seiner unersättlichen Eroberungsgier auf den Kontinent zu werfen. Wir wissen es jetzt besser. Rankes Einsicht, daß der Kampf mit England d. h. der Kampf um die See- und Kolonialherrschaft der eigentliche 8iernpunkt der immer wieder ausbrechenden Konflikte war, daß Napoleons Wort: „Die Engländer zwingen mich, den Kontinent zu erobern“ berechtigt war, hat auch hier wieder das Richtige getroffen. Man kann diese Epoche nicht sorgsam genug studieren: die Analogien und Schlüsse für die Gegenwart liegen nur gar zu nahe.

Delbrück.