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II.

Wenn man sich einigermaßen aufmerksam in die Ereignisse vertieft, die nach dem Vertrag von Portsmouth stattgefunden haben, so sind irgendwelche reale Vorteile für uns aus der Annäherung an England schwer zu erfassen. Das einzige Plus — die Besserung der Beziehungen zu Japan — ist kaum eine Folge der russisch-englischen Verständigung. Tatsächlich sind Rußland und Japan dazu geschaffen, um in Frieden und Freundschaft mit einander zu leben. Alle Aufgaben Rüßlands sind, wenn sie richtig verstanden werden, mit den Interessen Japans in Übereinstimmung zu bringen. Diese Aufgaben halten sich tatsächlich in sehr bescheidenen Grenzen. Die weit ausholende Phantasie gewisser Persönsichkeiten, die den Boden der Tatsachen verlassen hatten, einerseits, die übermäßige Nervosität und Empfindlichkeit Japans, das diese Phantasie für einen konsequenten Plan gehalten hat, andererseits, rief einen Zusammenstoß hervor, den eine geschicktere Diplomatie zweifellos zu vermeiden verstanden hätte. Rußland braucht weder Korea, noch Port Arthur. Der Ausgang zum offenen Meer ist zweifellos nützlich, das Meer selbst ist aber kein Markt, sondern nur der Weg, auf dem sich der Transport der Waren zu den Verbrauchsmärkten am günstigsten bewerkstelligen läßt. Indessen haben wir im Fernen Osten weder jetzt, noch in absehbarer Zeit Werte, deren Vertrieb ins Ausland uns besondere Vorteile verspricht. Auch gibt es dort keine Märkte zur die Ausfuhr unserer Erzeugnisse. Wir kommen weder darauf rechnen, das industriell und landwirtschaftlich entwickelte Amerika, noch das arme, aber gleichfalls industrielle Japan, noch selbst die Küsten Chinas und die weiter abliegenden Märkte mit den Gegenständen unserer Ausfuhr in erheblichem Maße zu versorgen. Auf den weiter entfernten Märkten würde unser Export zu dem den Waren der industriell stärkeren Konkurrenzmächte begegnen. Es verbleibt das Innere Chinas, mit dem wir hauptsächlich auf dem Landwege Handel treiben. Ein offener Hafen wäre deshalb eher für die Einfuhr von ausländischen Waren zu uns nützlich, als für die Ausfuhr unserer vaterländischen Erzeugnisse. Andrerseits lauert Japan durchaus nicht auf unsere Gebiete im Fernen Osten, was man auch darüber reden mag. Die Japaner sind ihrer Natur nach ein südliches Volk, und die harten Bedingungen unseres fernöstlichen Grenzgebietes können sie nicht reizen. Es ist bekannt, daß in Japan selbst das nördliche Jeso schwach bevölkert ist. Augenscheinlich macht die japanische Kolonisation auf dem durch den Vertrag von Portsmouth an Japan abgetretenen, südlichen Teil von Sachalin ebenfalls wenig Fortschritte. Indem es Korea und Formosa erworben hat, wird Japan schwerlich nördlicher gehen, und seine Bestrebungen werden, wie anzunehmen ist, daher eher in der Richtung der Philippinen, Indo-Chinas, Javas und Sumatras gehen. Das Maximum, was Japan vielleicht aus rein kommerziellen Erwägungen anstreben wird, ist die Erwerbung einer weiteren Strecke der Mandschureibahn. Mit einem Wort, das friedliche Zusammenleben, ich gehe sogar weiter, die enge Annäherung Rußlands und Japans im Fernen Osten ist durchaus natürlich und bedarf keinerlei Vermittlung seitens Englands. Der Boden einer Vereinbarung bietet sich von selbst dar. Japan ist ein armes Land. Der gleichzeitige Unterhalt einer starken Armee und einer mächtigen Flotte ist für Japan beschwerlich. Seine Insellage stößt es in erster Linie auf den Weg der Verstärkung seiner Seemacht. Der Bund mit Rußland wird ihm die Möglichkeit geben, seine ganze Aufmerksamkeit der angesichts der keimenden Gegnerschaft Amerikas so notwendigen Flotte zu widmen und die Verteidigung seiner Interessen auf dem Festlande Rußland anvertrauen. Andererseits würden wir, wenn wir über die japanische Flotte für die Verteidigung unserer Küsten am Stillen Ozean verfügen könnten, die Möglichkeit haben, für alle Zeiten auf die unsere Kräfte übersteigenden Träume von der Bildung einer Kriegsflotte im Fernen Osten Verzicht zu leisten. —

Im Sinne der Beziehungen zu Japan hat die Annäherung an England uns somit keinerlei reale Vorteile gebracht, ebenso wenig im Sinne der Festigung unserer Lage in der Mandschurei oder in der Mongolei und selbst nicht im Gebiet von Urjanchai, wo die Unsicherheit unserer Stellung den Beweis dafür ergibt, daß die Vereinbarung mit England die Hände unserer Diplomatie keineswegs frei gemacht hat. Im Gegenteil, unser Versuch, Beziehungen mit Tibet an zu knüpfen, stieß auf den heftigsten Widerstand Englands. Auch unsere Lage in Persien ist seit der Vereinbarung nicht besser geworden. Federmann erinnert sich unseres überwiegen den Einflusses in diesem Lande während der Regierung des Schahs Nasr-Eddin, das heißt, gerade zu der seit, als unsere Beziehungen zu England am allerschlechtesten waren. Mit dem

Moment der Annäherung an dieses Land gerieten wir in eine ganze Reihe unverständlicher Versuche, der persischen Bevölkerung eine für sie völlig unbrauchbare Konstitution aufzuzwingen, und das Ergebnis hiervon war, daß wir selbst zum Sturz eines Rußland ergebenen Monarchen, zum Vorteil unserer aus gesprochenen Gegner, beigetragen haben. Mit einem Wort wir haben nicht nur nichts gewonnen, sondern auf der ganzen Linie Verluste erlitten, haben unser Prestige vernichtet,

viele Millionen Rubel verausgabt und sogar das wertvolle Blut russischer Soldaten geopfert, die verbrecherischerweise ermordet und aus Liebedienerei zu England sogar nicht gerächt worden sind.

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III.

Die allerungünstigste Wirkung aber der Annäherung an England — also auch der grundsätzlichen Gegnerschaft zu Deutschland — zeigte sich im nahen Osten. Bekanntlich äußerte noch Bismarck das geflügelte Wort, daß die Balkanfrage für Deutschland nicht die Knochen eines einzigen pommerschen Grenadiers wert sei. In der Folge erregten die Balkanwirren allerdings ein erheblich größeres Interesse bei der deutschen Diplomatie, die den kranken Mann unter ihren Schutz genommen hatte. Unter allen Umständen aber zeigte Deutschland auch damals keinerlei Neigung, die Beziehungen zu Rußland wegen der Balkanangelegenheiten aufs Spiels zu setzen. Der Beweis dafür ist vorhanden. Österreich wäre es ein leichtes gewesen, während des russisch-japanischen Krieges und der nachfolgenden Wirren in Rußland seine langgehegten Hoffnungen auf der Balkanhalbinsel zu verwirklichen. Rußland aber hatte damals seine Geschicke noch nicht mit England verknüpft, und Österreich-Ungarn war gezwungen, den für eine Ziele günstigen Moment unbenutzt verstreichen zu lassen. Sobald wir jedoch den Weg enger Annäherung mit England beschritten hatten, erfolgte die Angliederuns Bosniens und der Herzegowina an Österreich, was leichter und schmerzloser während er Zeit 1905/06 geschehen konnte. Alsdann tauchte die albanische Frage auf und die Kombination mit dem Prinzen Wied. Die russische Diplomatie versuchte die österreichischen Machenschaften durch die Bildung eines Balkanbundes zu beantworten. Diese Kombination aber erwies sich, wie zu erwarten stand, als vollständig ephemer; ihrer Idee nach war sie gegen Österreich gerichtet. Sie wandte sich aber sofort gegen die Türkei und fiel bei der Teilung der den Osmanen abgenommenen Beute auseinander. Das Ergebnis war, daß sich die Türkei end gültig an Deutschland anschloß, in dem sie nicht ohne Grund ihre einzige Schutz macht sieht. Vom Standpunkt der Türkei aus bedeutet die russisch-englische Annäherung für die Türkei fraglos einen Verzicht Englands auf seine traditionelle Politik der Schließung der Dardanellen für Rußland. Die Bildung eines unter dem Protektorat Rußlands stehenden Balkanbundes erwies sich aber als direkte Bedrohung der weiteren Existenz der Türkei als europäischer Staat. Die englisch-russische Annäherung hat uns somit bis auf heute nichts Real-Nützliches gebracht. In Zukunft verheißt sie uns unzweifelhaft einen bewaffneten Zusammenstoß

mit Deutschland. Unter welchen Bedingungen wird dieser Zusammenstoß nun stattfinden, und welches wird seine wahrscheinliche

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mit bis auf heute nichts Real-Nützliches gebracht. In Zukunft verheißt sie uns unzweifelhaft einen bewaffneten Zusammenstoß mit Deutschland. Unter welchen Bedingungen wird dieser Zusammenstoße nun stattfinden, und welches wird seine wahrscheinliche Folge sein?

In einem zukünftigen Krieg ist die fundamentale Gruppierung offensichtlich, d. h. Rußland, England, Frankreich einerseits, Deutschland, Österreich und die Türkei andererseits. Es ist mehr als wahrscheinlich, daß am Kriege auch andere Mächte teilnehmen werden, je nachdem, wie die Bedingungen sind, unter denen der Krieg

ausbrechen wird. Ob aber die nächste Ursache des Krieges ein neuer Zusammenstoß der gegensätzlichen Interessen auf dem Balkan oder ein Kolonialfall, wie derjenige von Algeciras sein wird, die erste Gruppierung wird dieselbe bleiben. Italien wird, wenn es seine Interessen nur einigermaßen wahr nimmt, nicht aus die Seite Deutschlands treten; auf Grund politischer und wirtschaftlicher Erwägungen sucht dieses Land zweifellos sein jetziges Gebiet zu vergrößern, und dies ist nur auf Kosten Österreichs einerseits und der Türkei andererseits möglich. Es ist deshalb nur natürlich, daß Italien nicht auf die Seite der Staaten treten wird, die die territoriale Unversehrtheit jenes Landes sicherstellen, aus deren Kosten die Italiener ihre Bestrebungen zu verwirklichen wünschen. Und mehr als das! Es ist nicht ausgeschlossen, daß Italien auf die Seite der antideutschen Koalition treten wird, wenn das Los des Krieges sich auf deren Seite neigen sollte. Auf diese Weise würde Italien sich die günstigsten Bedingungen bei der Teilung der Beute sichern. In dieser Beziehung stimmt die Lage Italiens mit der wahrscheinlichen Lage Rumäniens überein, das, wie anzunehmen ist, so lange neutral bleiben wird, bis sich die Wage des Kriegsglückes dem einen oder anderen Teil zugeneigt hat. Dann wird es, von gesundem politischen Egoismus geleitet, sich dem Sieger anschließen, um entweder auf Kosten Rußlands oder auf Kosten Österreichs belohnt zu werden. Von

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den übrigen Balkanstaaten werden Serbien und Montenegro zweifellos sich auf die Österreich feindliche Seite stellen. Bulgarien aber und Albanien, wenn das letztere Land bis dahin auch nur den Schein eines Staates angenommen haben sollte, werden auf die Serbien feindlich gesinnte Seite treten. Griechenland wird aller

Wahrscheinlichkeit nach neutral bleiben oder gegen die Türkei austreten. Letzteres aber nur dann, wenn der Ausgang des Krieges mehr oder weniger vorausbestimmt sein wird. Die Teilnahme der anderen Staaten wird vom Zufall abhängen, wobei man die Möglichkeit des Anschlusses Schwedens an die Reihe unserer Gegner beachten muß.

Unter solchen Umständen ist der Kampf mit Deutschland für uns äußerst schwierig; er wird unsägliche Opfer unsererseits erfordern. Der Krieg wird den Gegner nicht unvorbereitet treffen, und der Grad seiner Vorbereitungen wird wahrscheinlich die aller optimistischsten, übertriebensten Erwartungen übertreffen. Man darf jedoch nicht glauben, daß diese Bereitschaft eine Folge des Kriegswillens Deutschlands ist. Diesen Krieg braucht es nicht, solange es seine Zwecke auch ohne ihn erreichen kann — die Vernichtung der einseitigen Herrschaft Englands über die Meere. Sobald dieses Lebens ziel jedoch einen Widerstand seitens der Koalition findet, wird Deutschland vor einem Kriege nicht zurückschrecken und sogar sich nicht scheuen, ihn hervorzurufen, wobei es den geeignetsten Moment aussuchen wird.

Die Hauptlast des Krieges wird zweifellos aus Rußland fallen, da England kaum in der Lage ist, einen großen Anteil an diesem Kontinentalkriege zu tragen. Das Menschen arme Frankreich aber wird bei den kolossalen Verlusten, mit denen bei dem gegenwärtigen Stande der Kriegstechnik jeder Krieg begleitet ist, wahrscheinlich sich an die strengste Defensive halten. Die Rolle eines Sturmbockes, die die dickste Mauer der deutschen Verteidigung zu durchbrechen hat, liegt uns ob. Indessen

wieviel Faktoren werden gegen uns sein, und wieviel Kraft und Aufmerksamkeit werden wir denselben widmen müssen?

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IV.

Aus der Zahl dieser ungünstigen Faktoren scheidet der Ferne Osten aus. Amerika und Japan, das erstere tatsächlich, das zweite kraft seiner gegenwärtigen politischen Orientierung, sind beide Deutschland feindlich gesinnt, und man kann nicht erwarten, daß sie auf Deutschlands Seite treten werden. Zudem wird der Krieg, ganz abgesehen von seinem Ausgang, Rußland schwächen und seine Aufmerksamkeit dem Westen zukehren, was sowohl den japanischen wie auch den amerikanischen Interessen entspricht. Unsere Rückendeckung ist somit von der Seite des Fernen Ostens genügend gesichert, und das Aeußerste, was uns bevorstehen kann, iſt, daß man uns für eine wohlwollende Neutralität einige Zugeständnisse wirtschaftlicher Art entreiben wird. Und mehr als das! Die Möglichkeit ist nicht ausgeschlossen, daß Amerika und Japan sich auf die Deutschland feindlich gesinnte Seite stellen werden, natürlich aber nur, um diese oder jene schlecht gesicherte deutsche Kolonie zu erbeuten.

Dagegen wird zweifellos ein neuer Ausbruch von Feindseligkeit gegen uns in Persien stattfinden sowie werden wahrscheinlich Aufruhrbewegungen unter den Mohammedanern im Kaukasus und im Turkestan entstehen, ferner ist die Möglichkeit nicht außer acht zu lassen, daß im Zusammenhang mit dem letzteren sich Afghanistan gegen uns wendet, und endlich sind äußerst unangenehme Verwicklungen in Polen und Finnland vorherzusehen. In Finnland ist ein Aufftand unausbleiblich, wenn sich Schweden unseren Gegnern anschließt. Was Polen anbelangt, sosteht zu erwarten, daß wir nicht in der Lage sein werden, es während der ganzen Dauer des Krieges in unserer Hand zu behalten. Dann aber, d. h. wenn es sich in der Gewalt der Gegner befinden wird, werden diese zweifellos den Versuch machen, dort einen Aufruhr anzuzetteln, der uns tatsächlich nict sehr gefährlich sein wird, der aber immerhin der Zahl der für uns ungünstigen Faktoren hinzugefügt werden muß, um so mehr, als der Einfluß unserer Verbündeten uns zu solchen Schritten veranlassen kann, die gefährlicher als jener offene Aufruhr sind.

Sind wir zu solchem hartnäckigen Kampf bereit, wie es zweifellos der zukünstige Krieg der europäischen Volker sein wird? Auf diese Frage muß man ohne Bedenken verneinend antworten. Ich bin mehr als irgendeiner davon entfernt in Abrede zu stellen, daß wir seit der Zeit des japanischen Krieges sehr viel für unsere Verteidigung getan haben. Zweifellos ist es jedoch, daß dieses Viele lange nicht genügt, wenn man die noch nicht dagewesenen Ausmaße in Vetracht ziehl, in detten der zukünftige Krieg stattfinden wird. An dieser Unzulänglichkeit der Vorbereitungen sind in erheblichem Maße unsere jungen gefetzgebenden Körperschafte schuld, die sich nur dilettantisch für unsere Landesverteidigung interessiert haben. Sie sind lange nicht genügend in den Ernst unserer militärischen Lage eingedrungen, einer Lage, die sich unter dem Einfluß iener politischen Orientation gebildet hat. (...)

der geringen Produktivität unser Werke noch lange nicht ausgeführt werden konnte. Die Unzulänglichkeit der Vorräte hat eine um so größere Bedeutung, als wir bei der embryonalen Lage unserer Industrie während des Krieges nicht die Möglichkeit halben werden, mit eigenen Mitteln die sich erweisenden Mängel zu beheben, während gleichzeitig durch die Schließung sowohl der Ostsee als auch des Schwarzen Meeres für unsere Einfuhr die Heranschaffung der für uns notwendigen Gegenstände aus

dem Auslande sich als unmöglich erweisen wird. Es ist also ein für unsere Verteidigung ungünstiger Umstand, daß sie von der ausländischen Industrie abhängig ist, was im Zusammenhange mit der bereits erwähnten Einstellung von bequemen Auslandsverbindungen, eine Reihe von schwer zu überwältigenden Schwierigkeiten bei uns mit sich bringen wird. Die Anzahl unserer schweren Geschütze, deren Bedeutung durch die Erfahrungen des japanischen Krieges bewiesen ist, ist ganz ungenügend. Wir haben wenig Maschinengewehre, zur Organisation unserer Festungsverteidigung ist fast gar nicht geschritten worden, und die den Zugang zur Hauptstadt beschirmende Festung Reval ist im Bau noch nicht beendet. Das Netz der strategischen Bahnen ist unzureichend, und die Eiſenbahn verfügt nur über ein rollendes Material, das vielleicht für normale Zeiten genügt, den kolossalen Anfordeningen aber, die ein europäischer Krieg an sie stellen wird, durchaus nicht entspricht.

Endlich darf man nicht aus den Augen verlieren, daß in dem bevorstehenden Krieg die in der Kultur und technischen Entwicklung am meisten fortgeschrittenen Völker miteinander kämpfen werden. Jeder Krieg brächte bis jetzt auf dem Gebiete der Kriegstechnik unweigerlich neue Errungenschaften mit sich, dadurch aber, daß unsere Industrie technisch zurückgeblieben ist, sind die Bedingungen für neue Errungenschaften während des Krieges bei uns an die sich mit Zustimmung der gesetzgebenden

Körperschaften in der letzten Zeit, das Ministerium des Äußeren gehalten hat. Ein Beweis hierfür ist die enorme Anzahl der unerledigt gebliebenen Gesetzprojekte des Kriegs- und Marineministeriums und insbesondere der der Duma zu Zeiten des Staatsekretärs Stolypin vorgelegten Pläne für die Organisation unserer Landesverteidigung.

Auf dem Gebiet der Ausbildung der Truppen haben wir nach der Meinung von Spezialisten unstreitig erhebliche Verbesserungen im Vergleich mit der Zeit vor dem japanischen Kriege erreicht. Nach der Ansicht derselben Spezialisten ist unsere Feldartillerie auf der Höhe; das Gewehr ist durchaus genügend, die Bewassnung bequem und praktisch. Unstreitig aber ich gleichfalls, daß unsere Landesverteidigung auch erhebliche Mängel aufweist. Hier muß vor allen Dingen auf die Unzulänglichkeit unserer Vorräte hingewiesen werden, was natürlich dem Kriegsministerium nicht zur Last gelegt werden kann, da das projektierte Vorratsprogramm infolge

sehr gering. Alle diese Faktoren werden von unserer Diplomatie kaum genügend beachtet. Ihr Verhalten gegenüber Deutschland ich in gewonnen Grade sogar aggressiv, und dieses kann bei ihrer englischen Orientierung uns dem Moment des bewaffneten Zusammenstoßes mit Deutschland, der im Grunde genommen unvermeidlich ist, noch erheblich naher bringen.

Ist jedoch eine solche Orientierung richtig und verspricht selbst ein günstiger Kriegsausgang uns solche Vorteile, daß alle Mühen und Opfer belohnt werden, die dem voraussichtliche Umfang des Krieges entsprechen? Die Lebensbedingungen Rußlands und Deutschlands widersprechen einander nirgends und bilden eine gute Vorbedingung für ein friedliches Zusammenleben dieser beiden Mächte. Die Zukunft Deutschlands liegt auf dem Wasser, d. h. gerade dort, wo Rußland, seiner Eigenschaft nach als größter Kontinentalstaat, keinerlei Interessen hat. Wir haben keine überseeischen Kolonien und werden sie voraussichtlich auch nie haben, und der Verkehr zwischen den einzelnen Teilen des Reiches ist leichter zu Lande als zu Wasser zu bewerkstelligen. Wir haben keine Überproduktion an Menschen, um unser Territorium erweitern zu müssen. - Was können uns selbst neue Eroberungen bieten, die uns ein Sieg über Deutschland bringen würde? Posen und Westpreußen! Aber wozu brauchen wir diese dicht bevölkerten und zudem noch mit Polen bewohnten Gebiete, um so mehr, als wir schon mit den russischen Polen kaum fertig werden. Wozu sollen wir die im Weichselgebiet bis jetzt nicht erloschenen zentrifugalen Bestrebungen durch Angliederung der unruhigen posenschen und westprußischen Polen an das russische Reich von neuem wecken, deren nationale Forderungen nicht nur von der russischen, sondern auch von der viel stärkeren deutschen Regierungsgewalt nicht erstickt werden können? Das gleiche ist in bezug auf Galizien zu sagen.

- Unserem Vaterlande, im Namen der Ideen des nationalen Sentimentalismus, ein von ihm längst abgetrenntes Gebiet anzugliedern, welches alle lebendigen Beziehungen zu ihm

Auf eine Handvoll Russen, galizischer Sinnesart, kommen dort noch eine Unzahl Polen, Juden und ukrainischer Unierten. Die sogenannte ukrainische oder maseppische Bewegung ist uns jetzt nicht gefährlich, aber man soll ihr nicht die Gelegenheit geben, sich auszudehnen, die Zahl der unruhigen, ukrainischen Elemente nicht unnötig vergrößern. In dieser Bewegung liegt zweifellos der Keim eine äußerst gefährlichen Separatismus, der unter günstigen Bedingungen einen ganz unerwarteten Umfang annehmen kann.

Das offensichtliche Ziel, das unsere Diplomaten durch die Annäherung an England verfolgen, ist die Öffnung der Meerengen, aber es fragt sich, ob dieses Ziel nicht ohne einen Krieg mit Deutschland erreicht werden kann. Nicht Deutschland, sondern England hat uns den Ausgang aus dem Schwarzen Meere versperrt. Haben wir uns im Jahre 1871 nicht von den demütigenden Einschränkungen befreit, die uns England durch den Pariser Vertrag auferlegt hat indem wir uns gerade die Mithilfe Deutschlands sicherten? Man kann mit voller Berechtigung annehmen, daß die Deutschen leichter als die Engländer darauf eingehen würden, uns die Meerengen zu überlassen, da deren Schicksal die Deutschen wenig inter-

essiert; und wenn sie durch Überlassung derselben an uns ein Bündnis mit uns erkaufen könnten, so werden sie es sogar gerne tun. An eine Abtretung der Meerengen an uns darf man auch keine übertriebenen Hoffnungen knüpfen. Ihre Besitzergreifung ist für uns nur so weit erwünscht, als dadurch der Eingang ins Schwarze Meer versperrt wird, das von dem Moment an für uns zum geschlossenen, von feindlichen Überfällen geschützten Meere wird. Einen Ausgang zum offenen Meer geben uns die Meerengen jedoch nicht, da hinter ihnen ein Meer liegt, das fast ganz aus territorialen Gewässern besteht und mit einer Anzahl von Inseln besät ist, deren Besetzung es z. B. der englischen Flotte leicht machen würde, alle Ein- und Ausgänge, unabhängig von den Meerengen, zu sperren. Daher könnte Rußland getrost auf eine solche Kombination eingehen, die uns vor dem Einbruch einer feindlichen Flotte in das Schwarze Meer schützt ohne daß die Meerengen direkt in unseren Besitz gelangen. Eine solche Kombination, die unter günstigen Umständen durchaus ohne jeglichen Krieg erreichbar ist, hat auch noch den Vorzug, daß sie den Interessen der Balkanstaaten nicht widerspricht, während dieselben eine Besorgnis und ein vollkommen begreifliches Eifersuchtsgefühl bei einem Übergang der Meerengen in unsern Besitz wohl kaum werden unterdrücken können. In Transkaukasien könnten wir uns als Ergebnis des Krieges, nur auf Kosten der von Armeniern bewohnten Gebiete ausbreiten, was jedoch bei der revolutionären Gesinnunq der Armenier und ihrer Sehnsucht nach Groß-Armenien gleichfalls kaum wünschenswert wäre, worin uns aber die Deutschen noch weniger als die Engländer hindern würden, wenn wir mit Deutschland verbündet sind. Wirklich nützliche territoriale und wirtschaftliche Erwerbungen können wir dort machen, wo unsere Bestrebungen auf Hindernisse seitens Englands, nicht aber seitens

Deutschlands stoßen. Persien, Pamir, Kuldsha, Kaschgarien, die Dsungarei, die Mongolei, das Gebiet von Urjanhai, alles dieses sind Gegenden, wo die Interessen Rußlands und Deutschlands nicht zusammenstoßen, während Rußland und England dort schon mehrfach aufeinander geprallt sind.

Auch Deutschland kann im Falle eines Sieges nur solche vom deutschen Standpunkt aus wertvolle Gebiete von Rußland abtrennen, die infolge der Dichte ihrer Bevölkerung für eine Kolonisation wenig geeignet erscheinen: das Weichselgebiet mit seiner polnisch-litauischen und die Ostseeprovinzen mit ihrer lettisch-estnischen Bevölkerung, die ebenso unruhig wie den Deutschen feindlich gesinnt ist.

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Wenn der Krieg siegreich zu Ende gehe sollte, so wird die Unterdrückung der sozialistischen Bewegung schließlich eine unüberwindbaren Hindernisse bilden; es

werden wohl Agrarunruhen stattfinden, die Agitation wird die Notwendigkeit der Entschädigung der Soldaten mit Land sondern, es werden auch Arbeiterunruhen nach dein Übergang von den in der Kriegszeit vermutlich erhöhten Arbeitslöhnen zum normalen Lohne stattfinden, aber es ist zu hoffen, daß es dabei sein Bewenden haben wird, wenigstens solange die Welle der deutschen Revolution sich nicht zu unserem Gestade herangewälzt hat. Im Falle einer Niederlage aber, deren Möglichkeit man bei einem Kampf mit einem solchen Gegner, wie es Deutschland ist, nicht außer acht lassen darf, ist die soziale Revolution in ihrer schärfsten Form bei uns unvermeidlich. Wie bereits gesagt, wird sie damit beginnen, daß alle Mißerfolge den Regierung zugeschrieben werden. In den gesetzgebenden Körperschaften wird ein erbitterter Kampf gegen die Regierung einsetzen, in dessen Verlauf sich im Lande selbst revolutionäre Erscheinungen zeigen werden. Die letzteren werden von vornherein sozialistische Losungen verkünden, da es die einzigen sind, die die breiten Schichten der Bevölkerung zum Aufstand bewegen und vereinen können. Zuerst kommt die Landaufteilung und darauf auch die allgemeine Aufteilung aller Werte und allen Besitzes. Die besiegte Armee, die während des Krieges die zuverlässigsten Kerntruppen verloren haben und in ihrer Mehrheit von der elementaren Bewegung des Bauern zum Landbesitz ergriffen sein wird, wird sich als zu demoralisiert erweisen, um als Bollwerk der Gesellschaft und Ordnung dienen zu können. Die gesetzgebenden Körperschaften und die in den Augen des Volkes ihrer Autorität berauhten oppositionellen Intelligenzparteien werden keine Macht besitzen, die aufgewühlten Volkswellen zu glatten, die sie selbst zum Aufruhr gebracht haben, und Rußland wird in eine hoffnungslose Anarchie gestürzt sein, deren Ausgang in keiner Weise vorauszusehen ist. Wie merkwürdig es auch auf den ersten Blick scheinen mag, auch Deutschland wird im Falle einer Niederlage trotz der außerordentlichen Ausgeglichenheit der deutschen Natur nicht geringere soziale Erschütterungen erleben, denn zu schwer wird ein ungünstiger Krieg auf der Bevölkerung lasten, als daß die unter der Oberfläche verborgenen Persetzungselemente nicht an das Tageslich kommen sollten. Das eigenartige Regime des gegenwärtigen Deutschlands ist auf der faktischen Vonherrschaft der Agrarier aufgebaut, des preußischen Junkertums und der besitzenden Bauern. Diese Elemente sind das Bollwerk des äußerst konservativen Regimes Deutschlands, das unter der vorherschenden Leitung Preußens sicht. Die Lebensinteressen der erwähnen Klassen erfordern eine Handelspolitik, die die Landwirtschaft schützt, Einfuhrzölle auf Getreide und folglich auch hohe Preise für alle landwirtschaftlichen Erzeugnisse. Deutschland aber hat sich bei der geringen Ausdemmug seines Territoriums und der erheblichen Zunatme seiner Bevölkerung

schon lange aus einem Agrar- in einen Industriestaat umgewandelt, deshalb bedeutet der Schutz der Landwirtschaft tatsächlich die Beitenerung der größeren Hälfte des Volkes zugunjien der kleineren. Eine Kompensation der Mehrheit wird in der starken Entwickelung der Aussuhe deutscher Industrieerzeugnisse auf die entfernterften Märkte geboten und die auf diesem Wege gewonnenen Vorteile geben dem Industriellen und dem Arbeiter die Möglicheit, die erhöhten Preise für landwirtschaftliche Produkte zu bezahlen. Mit der Verschmeiterung Deutschlands versiert es die Weltmärkte und den Überseehandel, denn der ganze Zweck des Krieges seitens seines tatsächlichen Urhebers England ist die Vernichtung der deutschen Konkurrenz. Wenn dieses Ziel erreicht werden sollte, wird die deutsche Industrie in ihren Grundfeisten erschüttert sein und die nicht nur des erhöhten, sondern jeden Arbeitslohnes beraubten Arbeiter, die während des Krieges gelitten haben und natürlich erbost sind, werden einen sehr günstigen Boden für jede antiagrarische und somit auch antisoziale Propaganda der sozialistische Parteien bilden. Infolge des verlorenen Krieges wird

das patriotische Gefühl verletzt sein. Gegen den Militarismus und das feudal-bürgerliche Regime, das die Hoffnung der Bevölkerung betrogen hat, wird sich eine Erbitterung geltend machen, die die sozialistischen Parteien benutzen werden, um den bisher beschrittenen Weg friedlicher Evolution zu verlassen und eine rein revolutionäre Richtung einzuschlagen. Auch die in Deutschland starke Klasse der landwirtschaftlichen Hintersassen wird nicht ruhig bleiben, hauptsächlich nicht, wenn auf agrarischem Boden im benachbarten Rußland eine sozialistische Bewegung in Erscheinung treten sollte. Unabhängig davon werden die gegenwärtigen in Süddeutschland im Schwinden begriffenen separatistischen Tendenzen in vollem Umfange wieder ausleben. Die versteckte Feindseligkeit Bayerns gegen die Herrschaft Preußens wird von neuem zutage treten, mit einem Wort, es werden solche Verhältnisse ein treten, die von denjenigen, die sich unter gleichen Umständen in Rußland bilden würden, kaum zu unterscheiden sind.

Alles oben Gesagte zusammengenommen muß zu der Schlußfolgerung führen, daß die Annäherung an England uns keinerlei Vorteile verspricht, und daß die englische Orientierung unserer Diplomatie ihrem Wesen nach einen kardinalen Fehler darstellt. Unsere Wege mit England gehen auseinander, und wir dürfen uns nicht seinetwegen mit Deutschland überwerfen. Der Dreiverband ist

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ein künstliches Gebilde, das nicht auf dem Boden gemeinschaftlicher Interessen steht, und der Zukunft gehört nicht dieses Gebilde, sondern die weitaus lebensfähigere enge Verbindung zwischen Rußland, Deutschland, dem mit letzterem ausgesöhnten Frankreich und dem mit Rußland durch einen Vertrag von streng verteidigungsartigem Charakter verbündeten Japan. Eine solche politische Kombination wäre jeder aggressiven Eigenschaft bezüglich anderer Staaten bar und würde auf lange Jahre hinaus das friedliche Zusammenleben der Kulturnationen gewähr-

letsten, das letztere nicht durch die kriegerischen Bestrebungen Deutschlands bedroht, wie es die englische Diplomatie zu beweisen sucht, sondern nur durch die ganz natürlichen Bestrebungen Englands, die seinen Händen entgleitende Herrschaft über die Meere um jeden Preis aufrecht zu erhalten. Alle Bemühungen unserer Diplomatie müssen deshalb in der angedeuteten Richtung gehen und nicht in der Richtung des fruchtlosen Suchens nach einem gemeinsamen Boden für die sowohl ihrem Wesen nach als auch unsern staatlichen Aussichten und Zielen widersprechende Vereinbarung mit England. Es ist dabei selbstverständlich, daß auch Deutschland unseren Bestrebungen entgegenkommen, die erprobten freundschaftlichen Banden wieder knüpfen und in enger Übereinstimmung mit uns solche Bedingungen für ein gemeinschaftliches Leben ausarbeiten muß, die keinen Grund für eine antideutsche Agitation seitens unser konstitutionell-liberalen Partei abgeben; die letztere ist ihrem Wesen nach gezwungen, sich an die liberale englische Orientation und nicht an die konservative deutsche zu halten.