neue Schule

"Fachidioten und Leistungssportler kann man durch Wettbewerb erzeugen, aber nicht umfassend gebildete, vielseitig kompetente und umsichtige, vorausschauend denkende und verantwortlich handelnde, in sich ruhende und starke, beziehungsfähige Persönlichkeiten." (Prof. Dr. Gerald Hüther)

Eine neue Schule

Jeder, der sich ernsthaft mit unserem gegenwärtigen Schulsystem beschäftigt, wird feststellen, dass da vieles nicht mehr stimmt. Die Kinder verlieren ziemlich schnell die Lust am Lernen, der Lehrerberuf wird immer unattraktiver. Wir diagnostizieren immer mehr Lernstörungen und müssen immer mehr Kinder mit Psychopharmaka ruhig stellen. Das Lernen hat häufig Ähnlichkeiten mit Bulimie: Wissensstoff einprägen - Leistungskontrolle absolvieren - wieder vergessen, um Platz für die nächste Wissensladung zu schaffen. Das kann nicht gutgehen.

Nun stellen sich natürlich die Fragen, warum das so ist und nach möglichen Lösungsansätzen. Die Diskussion darüber ist schon voll im Gange. Prominente wie Richard David Precht und Gerald Hüter treten schon länger vehement für einen tiefgreifenden Wandel ein. Doch leider gibt es nur wenige, meist nur kosmetische Änderungen, die die Probleme nicht aus der Welt schaffen können.

Da mich das Thema auch sehr beschäftigt, will ich versuchen, als Grundschullehrer einen Lösungsansatz zu entwickeln, der praktikabel ist. Er soll vor allem als Diskussionsgrundlage für alle Kolleginnen und Kollegen, die Verantwortlichen und nicht zuletzt die Entscheidungsträger dienen.

Alte Schule in neuer Zeit

Wir alle sind in der existierenden Schulform groß geworden. Deshalb fällt es uns schwer umzudenken. Doch daran führt kein Weg vorbei. Wenn wir so weitermachen, erleiden wir zwangsläufig Schiffbruch. Eigentlich findet dieser Schiffbruch schon tagtäglich statt.

Die Schule von heute ist immer noch militärisch organisiert. Sie ist geprägt von fest gefügten Klassenverbänden, Befehlswesen, starren Zeitplänen, Durchschnittsdenken und Gleichschritt. Wer aus der Reihe tanzt, wird zum Problemfall. So lange wir das so belassen, werden wir niemals die individuelle Förderung wirklich hinbekommen können. Es stellt sich also die Frage wie das wirklich änderbar ist, ohne ein heilloses Chaos zu organisieren.

Die Schule von heute stammt aus einer Zeit, in der es erforderlich war, sich vieles einzuprägen, weil das Wissen nicht so leicht zugänglich war. Heute kann sich jeder jeden Fakt, den er wissen möchte in kürzester Zeit aus den digitalen Medien besorgen. Es stellt sich also die Frage, ob es wirklich noch in diesem Umfang notwendig ist, dass ein Kind die Höhe des Mount Everest oder Geburtsdaten von Komponisten und Dichtern lernen muss.

Die Schule von heute stammt aus einer Zeit, als die Industrie disziplinierte Befehlsempfänger und -ausführer benötigte. Kreativität, Individualität und geistige Beweglichkeit war da wenig gefragt. Doch genau diese Eigenschaften werden heute benötigt. Es stellt sich also die Frage wie wir den Schulalltag so umgestalten, dass wir vor allem diese Eigenschaften entwickeln können.

Die Schule von heute stammt aus einer Zeit, in der eine relativ gleich ausgebildete Masse der Industrie genügte. Doch heute sind wirkliche Könner und Spezialisten gefragt. Es stellt sich also die Frage wie es uns noch besser gelingen kann, die Talente jedes Einzelnen möglichst frühzeitig zu erkennen und gezielt und konsequent zu fördern.

Die Schule von heute stammt aus einer Zeit, in der nur wenige aus dem Vollen schöpfen konnten. Für die Mehrzahl der Menschen war der Alltag ein harter Kampf um die nackte Existenz. Kultur und Kunst spielten dabei zwangsläufig eine untergeordnete Rolle. Das Leben war von Härte geprägt und daraus entwickelte sich das Almosendenken für die unterste Schicht der Bevölkerung, das bis heute unser Sozialsystem prägt. Heute ist das Leben um vieles leichter. Die Produktivität der Industrie und Landwirtschaft ist das erste Mal in der Geschichte der Menschheit so groß, dass wir bisherige Utopien wie z. B. die Grundversorgung aller mit einem bedingungslosen Grundeinkommen ernsthaft diskutieren und in Erwägung ziehen können. Daraus stellt sich die Frage, wie wir Kunst und Kultur als gleichberechtigte Bestandeile in unserer schulischen Ausbildung wirklich integrieren können.

Die Schule von heute stammt aus einer Zeit, in der das zu vermittelnde Wissen noch überschaubar war. Das ist heute schon lange nicht mehr der Fall. Doch wir versuchen immer noch Universalgelehrte auszubilden. Es stellt sich also die Frage wie es uns gelingen kann, eine frühzeitigere Spezialisierung zu organisieren ohne eine Allgemeinbildung zu vernachlässigen, denn daran führt auch kein Weg vorbei. Wir müssen sie nur neu definieren.

Neue Strukturen und Abläufe

Den bisherigen Feststellungen stimmen viele zu. Wenn es jedoch um die Frage der wirklichen praktischen Umsetzung der neuen Ideen geht, versuchen wir diese in die bestehenden starren Strukturen zu integrieren und erleiden zwangsläufig Schiffbruch. So kann das nicht gehen.

Auf der anderen Seite wird auch weiterhin eine straffe Organisation des Schulalltags benötigt, sonst läuft alles aus dem Ruder. Deshalb möchte ich im Folgenden versuchen, eine neue Organisationsstruktur für eine Grundschule zu entwerfen, die das bisher Geschriebene umsetzen könnte. Zu den personellen und finanziellen Konsequenzen, die sich daraus zwangsläufig ergeben beziehe ich in einem eigenen Kapitel Stellung.

Alle Lehrkräfte arbeiten von 8 bis 16 Uhr in der Schule und die Kinder von 9 bis 15 Uhr. Alles wird in dieser Zeit erledigt. Schulranzen werden nicht mehr benötigt und Hausaufgaben gehören der Vergangenheit an. Die Eltern werden als Hilfslehrer nicht mehr benötigt, teurer Nachhilfeunterricht ist nicht mehr erforderlich, Musikschulen, sportliches Training und viele andere externe Ausbildungen finden zum größten Teil in der Schule statt.

Die Kinder haben einen festen Aufenthaltsraum, in dem sie ihren Schultag starten und wieder beenden. Dazu könnten die Räume des Schulhortes umfunktioniert werden. Von hier aus starten sie zu den verschiedensten Aktivitäten und kehren danach hierher zurück. Diese Räume strahlen Geborgenheit aus, bieten Möglichkeiten zur Entspannung, zu individuellen Aktivitäten und für persönliche Gespräche. Hier hat jedes Kind sein Schrankfach mit allen Büchern und Materialien.

Jedes Kind hat seinen persönlichen Zeit- und Lernplan, in dem alle Aktivitäten protokolliert und erreichte Ergebnisse festgehalten werden.

Bis 11:30 Uhr steht die Ausbildung in den Grundkompetenzen Lesen, Schreiben und Rechnen im Mittelpunkt. Die Kinder bilden dabei kleine Lerngruppen nach erreichten Leistungsstufen unabhängig vom Alter. Erreicht ein Kind die nächste Leistungsstufe, wechselt es die Gruppe. In der höchsten Leistungsstufe erreicht das Kind den Status eines Tutoren in diesem Fach und wird in die Lehrtätigkeit aktiv einbezogen. Damit wiederholt und festigt es den gelernten Stoff, erreicht eine anerkannte soziale Stellung und lernt, Verantwortung zu übernehmen.

Ab 12 Uhr stehen Angebote auf dem Programm, die der Talentefindung und -förderung dienen. Dabei kommen viele externe Spezialisten zum Einsatz, deren Aufgabe es vor allem ist, die talentiertesten Kinder zu finden und zu fördern. So bauen Tischler mit Kindern ein Holzspielzeug, Schauspieler üben ein Theaterstück ein. Kinder, die ein Instrument lernen wollen, haben jeden Tag ihre Übungszeit. Leichtathleten, Schwimmer und Fußballer haben ihre Trainingseinheiten. Modedesigner schneidern mit interessierten Mädchen die Kostüme für das Theaterstück. Sänger leiten einen Chor. Omas bringen interessierten Kindern das Stricken und Klöppeln bei, alle mit dem Auftrag, die Talente der Kinder zu beobachten.

14:30 Uhr enden alle diese Aktivitäten und die Kinder kehren in ihre Aufenthaltsräume zurück, bringen ihre Sachen in Ordnung, werten den Tag aus und planen den nächsten.

Der Rest des Tages gehört der Erholung, Entspannung und der Familie.

Personelle Konsequenzen

Die wesentlichste Voraussetzung für die Umsetzung dieser Ideen ist personeller und damit auch finanzieller Natur. Der Schulhort wird in seiner heutigen Form nicht mehr benötigt. Auf der anderen Seite ist das alles nicht umsetzbar, wenn eine Lehrkraft die Verantwortung für bis zu 28 Kinder zu tragen hat wie das heute noch der Fall ist. Wenn jeder Lehrkraft ein/e ErzieherIn zugeordnet würde, dann sieht die Sache schon anders aus.

Aus meiner Sicht dürfte ein Gruppe in der Regel nicht mehr als 10 Kinder umfassen. Die Erwachsenen begleiten die Kinder durch den Tag, helfen Ihnen bei der Strukturierung des Ablaufs und beim Einhalten von Ordnung und Regeln.

Die Aufgabe der Lehrkräfte besteht hauptsächlich darin, das Lernen inhaltlich vorzubereiten, zu organisieren, die Tutoren anzuleiten und die Prozesse zu kontrollieren. Der Frontalunterricht findet nur noch in Ausnahmefällen und kurzzeitig statt.

Die Erziehungskräfte kümmern sich um die sozialen Belange, um die Ordnung und Abläufe im Aufenthaltsraum und um die Versorgung. In Absprache mit der Lehrkraft beaufsichtigen sie Lerngruppen und Nachmittagsaktivitäten.

Die Schulleitung koordiniert alle diese Prozesse. Jeden Morgen und am Ende jedes Tages findet eine 30-minütige Beratung mit allen Erwachsenen statt. Längere Konferenzen werden nur noch in den Ferien durchgeführt.

Die Schulleitung verfügt über die Möglichkeit, Honorarverträge mit den externen Lehrkräften selbständig abzuschließen und abzurechnen.

Ergebnisse, Konsequenzen und Wirkungen

Interessant ist nun natürlich die Frage, was dabei am Ende herauskommt.

In den Grundkompetenzen Lesen, Schreiben und Rechnen hätten wir einen ziemlich unterschiedlichen Leistungsstand, der jedoch auch bei den Schwächsten die Voraussetzung für die weitere eigenständige Wissensaneignung garantiert. Das muss mit allen Kindern erreicht werden. Die talentiertesten Kinder werden jedoch schon weit darüber hinaus sein.

Jedes Kind würde seine Stärken schon frühzeitig und genauer erkennen und lernen, sich an ihnen zu orientieren. Das Ergebnis wären wesentlich selbstbewusstere und zufriedenere Kinder.

Wenn es uns gelänge, fünf Stärken und Talente jedes Kindes herauszufinden, zu fördern und zu differenzieren, dann wären Entscheidungen über den weiteren Bildungsweg einfacher und fundierter.

Im Ergebnis einer solchen Grundschulausbildung führt an einer weiteren differenzierten schulischen Laufbahn kein Weg vorbei. Ein Kind, das in handwerklichen Bereichen seine Stärken hat, muss auf diesen Gebieten genauso gefördert werden wie zukünftige Musiker, Sportler, Mathematiker, Maler, Schriftsteller usw.

Das bedeutet, dass auch die weiterführenden Schulen dieses Lerngruppensystem fortsetzen und die Schwerpunkte ihres Angebotes definieren müssen, ohne dabei alle anderen Möglichkeiten außer Acht zu lassen.

Natürlich muss es im Laufe der nächsten Schuljahre für alle eine Grundausbildung in den Naturwissenschaften, Sprachen usw. geben. Wir müssen jedoch überlegen wie weit diese Grundausbildung gehen muss und wann die Spezialisierung einsetzen sollte, um genügend Zeit und Raum für die Förderung der Talente und Stärken zu schaffen.

Damit ist auch klar, dass es ein "Universalgelehrten"-Abitur nicht mehr geben kann und es auch nicht mehr notwendig ist. Wenn auf der Grundlage der erkannten Talente die Weichen schon frühzeitig gestellt wurden, dann kann und muss sich die Spezialisierung nach oben immer weiter fortsetzen. Doch das muss unten begonnen werden.

Im Leben zählen nur die Stärken. Wem es gelingt, seine frühzeitig zu erkennen und zu fördern, der geht auch später einer Tätigkeit nach, die ihm wirklich liegt, in der er geachtet, anerkannt und erfolgreich ist. Damit leistet er einen wertvollen Beitrag für die Gesellschaft und hat sich eine wesentliche Grundlage für ein glückliches Leben geschaffen.

Eine solche neue Schule kann sicher nicht von heute auf morgen aus dem Boden gestampft werden. Doch mit den gegenwärtigen lediglich kosmetischen Änderungen am bestehenden starren System können wir sie auch nicht erreichen. Die Schule wird von Menschen gestaltet und kann demzufolge auch von Menschen geändert werden.

Leider stehen unsere Erfahrungen, Gewohnheiten und die Ausbildung der Lehrkräfte nach dem bisherigen System des starren Stundenplansystems, der Klassenstrukturen nach Alter und nicht nach Leistung, des Frontalunterrichts usw. diesen notwendigen Veränderungen im Wege.

Je mehr jedoch über diese Veränderungen nachdenken, desto größer wird die Chance ihrer Umsetzung. Deshalb bitte ich Sie, dieses Gedankengut weiterzutragen, sich damit auseinanderzusetzen, es zu diskutieren und weiter zu entwickeln. Lassen Sie sich dabei nicht von der scheinbaren Unmöglichkeit einer solch gewaltigen Veränderung im bestehenden staatlichen Schulsystem beeindrucken. Jede wirkliche Veränderung stand vor diesem Problem und wurde am Ende doch realisiert. Ich wünsche allen, die daran mitwirken wollen Mut, Ausdauer und natürlich Erfolg.