Nelly Sachs (eigentlich Leonie Sachs; * 10. Dezember 1891 in Schöneberg; † 12. Mai 1970 in Stockholm) war eine jüdische deutsche Schriftstellerin und Lyrikerin. 1966 verlieh das Nobelpreiskomitee ihr – gemeinsam mit Samuel Joseph Agnon – den Nobelpreis für Literatur „für ihre hervorragenden lyrischen und dramatischen Werke, die das Schicksal Israels mit ergreifender Stärke interpretieren.“

Chor der Geretteten


Wir Geretteten,

Aus deren hohlem Gebein der Tod schon seine Flöten

schnitt,

An deren Sehnen der Tod schon seinen Bogen strich -

Unsere Leiber klagen noch nach

Mit ihrer verstümmelten Musik.

Wir Geretteten,

Immer noch hängen die Schlingen für unsere Hälse gedreht

Vor uns in der blauen Luft -

Immer noch füllen sich die Stundenuhren mit unserem

tropfenden Blut.

Wir Geretteten,

Immer noch essen an uns die Würmer der Angst.

Unser Gestirn ist vergraben im Staub.

Wir Geretteten

Bitten euch:

Zeigt uns langsam eure Sonne.

Führt uns von Stern zu Stern im Schritt.

Laßt uns das Leben leise wieder lernen.

Es könnte sonst eines Vogels Lied,

Das Füllen des Eimers am Brunnen

Unseren schlecht versiegelten Schmerz aufbrechen lassen

Und uns wegschäumen -

Wir bitten euch:

Zeigt uns noch nicht einen beißenden Hund -

Es könnte sein, es könnte sein

Daß wir zu Staub zerfallen -

Vor euren Augen zerfallen in Staub.

Was hält denn unsere Webe zusammen?

Wir odemlos gewordene,

Deren Seele zu Ihm floh aus der Mitternacht

Lange bevor man unseren Leib rettete

In die Arche des Augenblicks.

Wir Geretteten,

Wir drücken eure Hand,

Wir erkennen euer Auge -

Aber zusammen hält uns nur noch der Abschied,

Der Abschied im Staub

Hält uns mit euch zusammen

Zur Ruh


Es fallen die Aepfel in der Sommerallee rot

Die grünen Gestirne in einsamen Tod,

Der Leiterwagen auf holpernd Gestein

Rasselt das letzte Herbstgebein — —

Zur Ruh.

Eine Wassersehnsucht im Graben rinnt,

Von Ackerblumen sanft umminnt,

Der Falter auf dem Kartoffelfeld

Wiegt schon den Schlaf der ganzen Welt —

Zur Ruh.

Der Bienen Gesumm, der blonde Quell

Ist Glückes genug; schon jenseitshell

Der Grille Geblüh,

Der Hahn kräht nicht mehr bis morgen früh — —

Zur Ruh.

18. November 1929

Einsamkeit


Einsamkeit lautlos samtener Acker

aus Stiefmutterveilchen

verlassen von rot und blau

violett die gehende Farbe

dein Weinen erschafft sie

aus dem zarten Erschrecken deiner Augen -

Kind


Kind

im Orkan des Abschieds

stoßend mit der Zehen weißflammendem Gischt

gegen den brennenden Horizontenring

suchend den geheimen Ausweg des Todes.

Schon ohne Stimme - ausatmend Rauch -

Liegend wie das Meer

nur mit Tiefe darunter

reißend an der Vertauung

mit den Springwogen der Sehnsucht -

Kind

Kind

mit der Grablegung deines Hauptes

der Träume Samenkapsel

schwer geworden

in endlicher Ergebung

bereit anderes Land zu besäen.

Mit Augen

umgedreht zum Muttergrund -

Diese Nacht


Diese Nacht

ging ich eine dunkle Nebenstraße

um die Ecke

Da legte sich mein Schatten

in meinen Arm

Dieses ermüdete Kleidungsstück

wollte getragen werden

und die Farbe Nichts sprach mich an:

Du bist jenseits

Auf und ab gehe ich


Auf und ab gehe ich

in der Stubenwärme

Die Irren im Korridor kreischen

mit den schwarzen Vögeln draußen

um die Zukunft

Unsere Wunden sprengen die böse Zeit

aber die Uhren gehen langsam -

Hier ist Amen zu sagen

Hier ist

Amen zu sagen

diese Krönung der Worte die

ins Verborgene zieht

und

Frieden

du großes Augenlid

das alle Unruhen verschließt

mit deinem himmlischen Wimpernkranz

du leiseste aller Geburten