Kapitel Sechs

Aber kehren wir zurück zum Schauplatz, auf dem mittlerweile eine derartige Spannung liegt, daß sie bereits greifbar erscheint. Majo war aus dem Bürocontainer getreten und schritt auf die beiden polnischen Mitarbeiter zu, die bereits den Großteil der von Desiderias Auftritt gelockerten Kabel neu gerichtet hatten. Im Zentrum des Sprengfeldes lag der von Desideria während ihres Kampfes verlorener Drahtbügel. Majo sah das Stück Metall die Sonne reflektieren und wurde darauf aufmerksam. Vorsichtig über die Kabel schreitend ging er darauf zu. Auf den ersten Anblick sah es nicht anders aus als ein normaler drei Millimeter starker Eisendraht, wie er auch für Kleiderbügel der chemischen Reinigung verwendet wird, der zu einer simplen Schlaufe gebogen worden war. Majo bückte sich und hob den Draht auf, drehte ihn in seiner rechten Hand, betrachtete ihn. Er schien weder aus einer Speziallegierung zu bestehen, noch maschinell in seine Form gebracht worden zu sein, dafür sprach die Unregelmäßigkeit der gebogenen Schlaufe. Majo schüttelte amüsiert den Kopf. Wie konnte nur ein erwachsener Mensch sich mit derartigem Kinderspielzeug abgeben? Mit beiden Händen erfaßte er die Enden des Drahtes, richtete die Spitze der Schlaufe waagerecht zum Boden, legte einen schmunzelnd versonnenen Gesichtsausdruck über sein Gesicht, schloß die Lider und konnte sich ein amüsiertes »Oommmmm!« nicht verkneifen.

Die Schlaufe sauste Richtung Boden, der Draht schien sich aus Majos Händen winden zu wollen. Erschrocken blickte Majo auf seine Hände, die sichtlich Kraft aufwenden mußten, den Draht wieder zurück in die Waagerechte zu bewegen.

»Datt gibbet doch nich!«

Vorsichtig lockerte er seinen Griff, wieder richtete sich der Scheitelpunkt der Schlaufe zum Boden, als werde heftig daran gezogen. Die Schwerkraft allein hätte einen derartigen Zug nicht bewirkt. Als läge ein starker Magnet zu Majos Füßen, strebte der Bügel erdwärts. Majo löste die Linke vom Draht. Nichts. Er spürte keinen Widerstand des Drahtes mehr. Er nahm den Bügel in die andere Hand, drehte ihn frei, als habe er kaum Eigengewicht. Auch nichts. Erneut faßte er mit beiden Händen zu. Sssssst – die Schlaufenspitze sauste nach unten, als wöge sie mehrere Kilo. Majo stutzte, legte den Draht auf den Boden, besah sich verdutzt seine Hände, wischte deren Innenseiten an seinen Hosenbeinen ab, als könne er somit diese unerklärliche Kraft abstreifen. Er bückte sich, hob den Draht mit einer Hand, richtete sich auf, faßte mit der zweiten Hand zu, die Schlaufe zeigte nach unten. Er löste die Rechte, der Bügel richtete sich auf, griff wieder zu und hielt erneut einen Richtungsweiser zum Erdmittelpunkt in seinen Händen. Majo wiederholte dieses Spielchen einige Male, wobei er vorsichtig voran schritt. Mit unbestechlich zuverlässiger Gleichmäßigkeit spielte der Draht mit, wurde in einer Hand gehalten leicht, in beiden jedoch schien die Schlaufenspitze an Gewicht zuzunehmen. Majo setzte vorsichtig über die Kabel hinweg, den Draht fixierend, ob er denn nicht begänne, aus dieser Regelmäßigkeit auszubrechen. Nichts da. Mit der selben stoischen Gelassenheit, in der Politessen Strafmandate für Falschparker ausstellen, reagierte der Draht auf Majos Zugreifen – jedenfalls in einem bestimmten Bereich. Denn genau so, wie aus der Politesse, sobald sie ihren Dienstbezirk verläßt oder gar aus ihrer Uniform schlüpft, mit einem Mal ein charmantes, weibliches Wesen wird, wurde aus dem Draht, sobald Majo über den Sprengbereich hinaus schritt, ein ... nun ja: Draht halt. Majo stutzte erneut, als er dies feststellte. Kaum hatte er das letzte Zündkabel überschritten, verschwand das Eigenleben der Rute. Verblüfft starrte er das Ding in seiner Hand an, wandte sich um 180 Grad und hielt den Bügel in das Sprengfeld. Sssssst! Majo schritt einige Meter am Rand des Kabelnetzes entlang, hielt den Draht erneut über die Kabel und Sssssst! ... Aha! Zufrieden schmunzelnd kehrte Majo zum Container zurück.

Sonja hatte Majos Abwesenheit genutzt, jenes ernste Wort mit Robert zu reden, das voll und ganz ihrem Wesen des Kümmerns entsprach und ihrer Ansicht nach endlich einmal fällig war.

»RobertichmußmalganzoffenmitdirredenalsowassichMajodavorhingeleistethatgehtdochwohlaufkeineKuhhautalsoehrlichunddaßerohnedichzuinformieren-dieBestellmengegeänderthatzeigtdochwohlwiewenig-duihmvertrauenkannst.«

Robert stutzte, blickte Sonja verwundert an.

»Was willst du damit sagen? Ich selbst habe die Bestellmenge doch auch erhöht, aus dem selben Grund wie er.«

»DasistdochganzwasanderesdubistimmerhinderChefderFirma.«

»Falls du es immer noch nicht begriffen haben solltest, Majo und ich sind gleichberechtigte Partner.«

»IchdenkedeineFirmaträgtalleindeinenNamenundheißtnichtRaaschundMajeweske-Pyrotechnikoder-glaubstduMajokümmerteswiedujetztnachseinemFernsehauftrittdastehst?«

Sonjas unbeirrbarer Redeschwall ohne Punkt und Komma ließ Robert wie einen kleinen Jungen fühlen, der von seiner Mutter eine Standpauke erhält, ohne daß ihm Gelegenheit einer Rechtfertigung gegeben war.

»Nun ja, das war vielleicht nicht gerade der Tonfall einer Fernsehandacht, aber du kennst doch Majos Humor, so ist er eben.«

Sonja verdrehte die Augen, begriff Robert denn nicht, daß sie nur sein Bestes wollte? - Ach, Männer!

»JetztverteidigeihnauchnochwasistwennseinKommentartatsächlichgesendetwerdensollte?«

»Na ja, das mag vielleicht in dem Moment etwas unpassend gewesen sein. Aber selbst wenn es gesendet werden sollte, was solls? Spätestens zehn Minuten später erinnert sich eh niemand mehr daran. – Außerdem war seine Beschreibung doch trotz allem irgendwie ... eh, witzig, oder?«

»Dasdarfdochwohlnichtwahrseindunimmstihnauch-nochinSchutzichglaubedumerkstschongarnichtmehrdennegativenEinflußvonMajoaufDich.«

Robert fühlte sich auf eine ihm selbst unbegreifliche Weise ertappt. Auch wenn Sonjas Behauptung, Majo sei ein schlechter Umgang für ihn, bar jeglicher Realität war, so traf sie doch Roberts inneren Schweinehund, der sein etwas verlottertes Junggesellen-Dasein bisher unbekümmert aufrecht erhalten hatte. Bevor Robert sich selbst einen Reim darauf machen konnte, weswegen Sonja es stets schaffte, daß er sich ihr gegenüber aus welchem Grund auch immer von einem konstanten schlechten Gewissen befallen fühlte, setzte sie ihren Wasserfall der Vorwürfe fort.

»DumußtjaselbstwissenwasduausdeinemLebenmachstaberichsagedirwieganzoffenwieesfürAußen-stehendewirktwennduunrasiertundmitdeinerollenWesteaufPressekonferenzenerscheinstdubrauchst-dichnichtzuwunderndaßdunochkeineFrauabbekom-menhastunddieSzenemitdemFlittchenvorhinichweißnichtwasichdazusagensollweristdieseNutteüber-haupt?«

Robert hatte es längst aufgegeben, gegen diesen Redefluß anzuschwimmen, er zog es vor, sich eher mir ihm treiben zu lassen, in der Hoffnung, irgendwann doch noch an das rettende Ufer gespült zu werden.

»Was weiß ich, sie war plötzlich da, irgend so eine Müsli-Spinnerin, schätze ich mal.«

»GenaudasmeineichjamerkstdudenngarnichtinwelchemUmfelddudichmittlerweilebewegst?«

Nun glaubte Robert aber doch, den Vorwürfen mit einem energischen Kraulzug entkommen zu müssen

»Also jetzt reicht’s, Sonja. Ich habe nicht die geringste Ahnung, wer diese Frau ist und wie sie überhaupt hierher gekommen ist.«

»DiristalsoschonmittlerweileegalwelchenacktenWeiberduindenArmenhältstRobertichsagedirlangeschaueichdasnichtmehrmitdiran.«

In diesem Moment öffnete sich die Tür und Majo platzte in die Gardinenpredigt.

»Wollta ma ein geilen Zaubatrick sehn?«

Sonja und Robert blickten verblüfft in Majos verschmitzt grinsendes Gesicht, schauten sich alsdann gegenseitig fragend an, was Majo denn nun wieder an Überraschungen parat hielt.

»Wenna ma mit raus kucken kommt, könnta sehn watt mit unsan Kabeln is.«

Robert befürchtete bereits das Schlimmste.

»Was ist denn nun schon wieder?«

»Ja komm mit raus, kucks Dir selbs an.«

Robert folgte Majo zögernd. Sollten neue Probleme mit der Kabelverlegung aufgetaucht sein? Wohl kaum, sonst würde Majo nicht so breit grinsen wie ein Gebrauchtwagenhändler, der das Überführen eines Autos zur Schrottpresse einem neuen stolzen Besitzer eines einmaligen Gelegenheitskaufes übertragen hat. Widerwillig folgte auch Sonja, eher darauf wettend, daß Majo ihre These, seine porzellane Trinkgefäßsammlung sei längst nicht mehr vollständig im Mobiliar untergebracht, sondern befände sich unauffindbar unter einem ungeordneten Stapel ungespülten Geschirrs, erneut unter Beweis stellen würde. Majo schritt den beiden voran zum Sprengfeld, hielt etwa zwei Meter vor dem Netz der verlegten Kabel. Er hielt Robert den Drahtbügel entgegen.

»Halt datt ma, mit bein Händen anne Enden.«

»Majo, was soll das? Ich denke, du willst uns etwas zeigen?«

»Getz halt datt Dingen doch ma, wirsse schon sehn.«

Robert ergriff zögernd den Bügel.

»Und jetzt?«

»Merksse watt?«

»Was soll ich merken?«

»Gut. Und getz geh mimm Draht auffe Kabel zu.«

Robert blickte Majo verständnislos fragend an.

»Dir passiert schon nix, halt bloß datt Dingen fest und geh vorwärts.«

Robert zuckte mit den Achseln, hielt den Draht waagerecht zum Erdboden, schritt zögerlich voran, einen Meter, zwei Meter, setzte den Fuß vorsichtig über das erste Kabel, ging weiter . . .

Majo, der seitwärts parallel zu Robert mitgegangen war, blickte fassungslos auf den Drahtbügel, der in Roberts ruhigen Händen genau die Position einnahm, die Robert mit seinem Griff vorbestimmt hatte. Robert, nicht wissend, was Majo eigentlich von ihm wollte, schritt weiter.

»Datt daaf doch wohl nich wahr sein.«

Robert blieb stehen.

»Also Majo, was ist nun?«

»Du hälts datt irgendwie falsch. Gimma her datt Dingen.«

Kaum hielt Majo den von Robert gereichten Draht in beiden Händen: Ssssst!

Erleichtert atmete Majo auf.

»Siesse datt?«

»Was?«

»Na, der Draht! Der zeicht wieda nach unten.«

»Ja, und?«, zuckte Robert mit den Achseln.

»Datt machta nur über den Kabeln, sonnz nich.«

»Was macht er?«

»Halt du ma wieder, aber nich verkrampft, sondern ganz locka inne Waagerechte.«

Robert ergriff erneut den Draht und hielt ihn wie geheißen.

»Du meinst so?«

»Nee, eigentlich nich. Er müßte getz nach unten zeigen.«

Robert lockerte seinen Griff, so daß die Drahtspitze ihrem Eigengewicht folgend nach unten pendelte.

»Du meinst so?«

»Nee, auch nich.«

»Ja, wie denn nun?«

Majo entzog Robert den Draht aus den Händen.

»Komm mit, du kannz datt nich.«

Sie stapften wieder aus dem Kabelgewirr heraus. Majo hielt den Draht waagerecht.

»Getz paß ma auf, watter Draht macht, wenn ich auffe Kabel zu gehe.«

Majo schritt in demonstrativer Haltung mit waagerecht vorangestreckten Armen den Kabeln entgegen. Kaum schwebte die Bügelspitze über dem Sprengfeld, ssssst, sauste sie erdwärts.

»Hasse datt gesehn? Und getz umgekehrt!«

Majo wandte sich um, Richtung Container, ssssst, der Draht nahm seine ursprüngliche Position wieder ein.

»Na, iss datt watt?«

»Würdest du mal bitte erklären, was das soll?«

»Kapiersse denn nich? Mit unsam Kabelnetz hamwa ein elektrostatisches Feld aufgebaut und der Draht reagiert darauf wie auffen Magneten.«

»Und wieso nur bei dir und nicht bei mir?«

»Watt weiß ich, vielleicht hasse Gummisohlen an und bis nich geerdet. Irgendwatt in der Richtung. Vielleicht klapps ja bei Sonja.«

Sonja, die bereits Majos gesamte Vorführung mit vor der Brust verschränkten Armen und skeptischen Blicken verfolgte hatte, verzog nur schief ihren Mund. Robert blickte Majo tief in die Augen.

»Gummisohlen? . . . Zaubertrick? . . . Elektrostatisches Feld? - Nichts für ungut, Majo, aber um ein zweiter Copperfield zu werden, solltest du noch etwas üben – aber bitte nach der Sprengung.«

»Watt soll datt denn getz? Ich dachte, datt würde Euch ma interessieren, watt son dichtes Kabelnetz an eigenem Magnetfeld aufbauen kann.«

»MajowiewärsduwürdestdenDrahtdirauchirgendwohinschiebenwieduesvorhinbeiRobertsInterviewvorge-schlagenhastundwennerlanggenugistwirstdudannvielleichtgeerdetundkommstendlichmalaufdenTeppichzurück.«

»Datt mach ich doch gern, du muß dann aba morsen, damit deine Kommentare übern Draht auch anne richtige Stelle ankomm.«

»Majo, es reicht!«

Robert warf seinem Kompagnon einen eindeutigen Blick zu, der nicht allzu lange nach einer Lizenz zum Töten vorstellig geworden war. Sonja verzog ihren Mund zu einem triumphierenden Grinsen, das dem einer Klapperschlange vor dem Verzehr eines Kaninchens frappierend glich. Majo blickte zwischen den beiden hin und her, erfaßte blitzschnell die momentan vorherrschende Hierarchie der psychologischen Nahrungskette und nickte unmerklich kurz.

»Klaro, Chefin.«

Während Sonja ihren Robert in dem Container erneut unter ihre kümmernden Fittiche nahm und in einem erneuten Redeschwall ausführlich erläuterte, sie bräuchte Majos aktuellem Verhalten wohl kaum ein weiteres Wort hinzuzufügen, zog Majo sein Händi aus der Jackentasche, wählte die Nummer des Einlaßtores zum Tagebaugebiet und erkundigte sich beim Pförtner nach Feldwebel Riefenstief, inwieweit er die Adresse seines Stützpunktes oder eine andere Anschrift auf der Besuchs-Protokolliste hinterlassen habe.