Kapitel Eins

Wütend warf Robert Raasch den Telefonhörer auf die Gabel. Als habe er nichts anderes zu tun, als Interviews zu geben! Ein Blick aus dem Plexiglasfenster seines Bürocontainers bestätigte, daß die Abschlußarbeiten für die Sprengung im vollen Gange waren. In etwa fünfzig Metern Entfernung sah er seinen Vorarbeiter und Geschäftspartner Thomas Majewske wild gestikulierend mit zwei Arbeitern reden. Offensichtlich gab es bei der Verlegung der Zündkabel Probleme – oder Majewske machte welche daraus. Robert zog seine Anglerweste über – nicht, daß er das geringste für Fische und allem, was ohne Kiemen und Flossen länger als fünf Minuten unter Wasser lebend überdauert, übrig gehabt hätte, aber die einst khakigrüne Weste, die im Laufe der Dekaden mehr Tarnung als Farbe hinzugewonnen hatte, mit ihren 69 Taschen, von denen rund ein Drittel für sein passioniertes Pfeifenrauchen reserviert waren, fand er ungemein praktisch und zudem seinem Ruf als verwegener Sprengstoffexperte durchaus angemessen, verlieh sie ihm doch einen Hauch von Abenteurer- und Draufgänger-Image, ebenso wie der Drei-bis-Fünf-Tage-Bart, den Robert mit hartnäckiger Konsequenz trug, wobei dieses Outfit bei eher bodenständig denkenden Naturen mehr in die Charakterisierungskartei ‚ungepflegtes Individuum‘ greifen ließ, zog aus der 27. Tasche (rechtes Westenvorderaußenteil, Brusthöhe, mittig) eine kirschholzfleckige Dunhill-Pfeife, stemmte das angeknabberte Mundstück zwischen die Zähne und verließ mit der grimmigen Entschlossenheit eines allgemein lebensüberdrüssigen und insbesondere morgenmuffeligen Grizzlys den Blechcontainer.[1]

»Majo!«, bellte er seinem immer noch in ausladenden Bewegungen gestikulierenden und nun im Freien auch hörbar fluchenden Kompagnon entgegen, »Was ist los?«

Ohne einen Augenblick das windmühlenflügelartige Rudern seiner Arme zu unterbrechen, oder Robert einen Blick zuzuwenden, brüllte Majewske zurück.

»Watt los is? Nix is los. Absolut nix. Aussa ner totalen Katastrophe mit überlangem Chaosrefrenng. Aba sonns is allet in Butta!«

Robert stapfte Majewske entgegen, der übergangslos wieder zwei äußerst hilflos dreinblickende Arbeiter anblaffte. Die Hilflosigkeit der beiden jungen Polen steigerte sich in bereitwilliges, unterwürfiges Kopfnicken, da sie einerseits den breiten Ruhrpott-Dialekt ihres Vorarbeiters nicht verstanden, andererseits, gesetzt den Fall, sie hätten ihn verstanden, die Bedeutung der Schimpftirade kaum nachzuvollziehen bereit gewesen wären. Robert hatte mittlerweile das Trio erreicht.

»Also, Majo, wo drückt der Schuh?«

»Kannze ma sagen, warum ich tach für tach, mindestens fünfma die Stunde am predigen bin, warum unse Kabel zwei Fahben ham? Nix gegen unse europäische Osterweiterung, aba datt ausgerechnet zwei fahbenblinde Pollacken mir dat Lehm schwer machen solln, issn politisches Opfa, datt ich zu gehm nich bereit bin.«

Robert schmunzelte. „Majo“ Majewske vergaß nur allzu schnell, daß seine Urgroßeltern dereinst aus Danzig ins Ruhrgebiet gekommen waren.

»Ja, Majo, warum haben unsere Kabel denn zwei Farben?«

»Damitte Plus und Minus beie Anschlüsse vonne Sprengkapsel richtich anbrings ...«

Majewske stoppte seine automatisch in einem lehrmeisterlichen Ton gehaltene Erklärung.

»Du Arsch! Als oppe datt nich selbs weiss!«

»Glaubst Du nicht, daß es unseren Sprengladungen egal sein könnte, ob sie ihren Stromimpuls aus einem roten oder schwarzen oder einem rechten oder linken Kabel bekommen?«

»Getz fall mir auch noch in’nn Rücken! Wie soll’n unse verehrten europäischen Osterweiterungsmitbürga je ihr Scheiß-Land inne Luft jagen könn‘, wennse nich ma die elementaren Grundbegriffe eina sachkundigen Sprengung beheerschen?«

»Wird es Dir trotz Deiner einfühlsamen pädagogischen Völkerverständigung möglich sein, die Kabel pünktlich verlegt zu haben – ich meine: pünktlich vor der Sprengung?«

»Für datt Witzemachen bin ich doch wohl zuständig!«

Robert nickte. Majo Majewske war trotz seines schwer verdaulichen Temperaments die Zuverlässigkeit in Person. Pfusch war bei Majo nicht drin, er liebte es tausendpromillig exakt – eine in seiner Branche nicht nur übliche, sondern auch angenehm daseinserhaltende und gesundheitsfördernde Lebensmaxime. Als Sprengmeister war Majo ein As, ein Aas hingegen, wenn einer seiner Mitarbeiter glaubte, sich über seine Pingeligkeit hinwegsetzen zu können.

»Falls was ist, ich bin im Pressebunker über Händi[2] zu erreichen.«

»Watt denn, schon wieda?«

»Vergiß nicht den angenehmen Teil des Presserummels: Das ist Werbung für unser Geschäft.«

»Nur allein vonne Werbung kannze nicht lehm. Irgendwann müssen we auch ma watt arbeiten. – Wann soll ich denn watt los sein lassen?«

Robert blickte auf seine Armbanduhr.

»Dreißig Minuten. – Bis dahin dürftest Du mit Deinen Volksgenossen die Erstzünder angeschlossen haben.«

»Klaro, Chef!«

Robert wandte sich wieder dem Bürocontainer zu, hinter dem sein Fahrzeug geparkt war. Hinter seinem Rücken unternahm Majo einen letzten Versuch, den Arbeitern verständlich zu machen, daß er eine farblich exakt getrennte Kabelverlegung von den knapp 5000 aus dem Erdreich ragenden Anschlüssen an das Schaltpult der Zündapparatur wünschte.

»Datt is doch wirklich einfach zu merken: Rot is links, links is minus. Schwatt is rechts, rechts is plus. Datt müßta nur politisch mehrheitlich sehn.«

»Rott schlächt, schwarrz gutt.«, echote es in Roberts Rücken.

»Genau, wie im richtigen Lehm.«

Auf dem Weg zum Container zündete sich Robert die Pfeife an. Der Container der Sprengmeister war der zuletzt zurückgelassene der ehemals kleinen Siedlung aus Blechhütten. Landvermesser, Geologen, Tiefbauingenieure, Mitarbeiter des Landeswasserwirtschaftsamtes, der unteren und oberen Naturschutzbehörde, des staatlichen Bergbauamtes, diverser anderer Bundes- und Landesbehörden und natürlich die Mitarbeiter der Rhein-und-Ruhr Energieversorgung AG hatten über drei Jahre in einem kleinen Dorf aus Wohn- und Bürocontainern gelebt, gearbeitet und jenes Ereignis vorbereitet, das nunmehr knappe 24 Stunden bevorstand: Die Öffnungssprengung zur dereinst weltgrößten Braunkohle-Tagebaufläche. In genau 23 Stunden und zwanzig Minuten sollte kein Mensch mehr seine Füße dorthin setzen können, wo Robert zügigen Schrittes entlang ging. Statt dessen würde ein gewaltiges Loch von dreihundert Metern Durchmesser und einer Tiefe von maximal fünfzig Metern den Zugriff auf das größte Braunkohlevorkommen der Rheinischen Tiefebene eröffnen. Und er, Robert Raasch, trug allein die Verantwortung über die Entstehung des Lochs. Daß er als einzig in Frage kommender Spezialist für diese Aufgabe von der Konzernleitung der ’Rhein-Ruhr‘ beauftragt worden war, hatte seinerzeit seinem Ego enormen Auftrieb gegeben. Nicht nur, daß dieser Auftrag den bisher größten seiner noch recht jungen aber dennoch spektakulären Karriere darstellte, mit seiner von ihm eigens hierfür entwickelten ’sauberen‘ Sprengtechnik hatte er alle Konkurrenten, vor allem die bisher führenden nordamerikanischen Sprengunternehmen, bei der weltweiten Ausschreibung geschlagen. Robert Raasch war es gelungen, nicht nur das Renommee der deutschen Sprengmeister nachhaltig aufzupolieren, überdies oblag ihm allein sozusagen der Spatenstich zu einem weltaufsehenden Unterfangen. – Und genau deswegen handelte er sich mehr Prügel aus der Öffentlichkeit ein, als ihm lieb war. Obwohl er quasi nur die Einstiegsluke zum Tagebau schuf, wurde er insbesondere von der aufgebrachten Menge soge- selbsternannter Naturschützer zum Sündenbock abgestempelt. In den vergangenen Monaten, während der Vorbereitung des Terrains, war es wiederholt zu Ausschreitungen seitens autonomer Gruppen und demonstrierender Braunkohle-Kraftwerk-Gegner gekommen, begonnen bei harmlosen Einbrüchen im Container-Dorf, weitergeführt über Demontage und Zerstörung von Baumaschinen und Fahrzeugen, bis hin zu tätlichen Angriffen auf Mitarbeiter des Projekts. Und immer wieder galt die Raasch Pyrotechnik GmbH als Hauptzielscheibe. Daß das Loch, das Robert und seine Mitarbeiter zu sprengen hatten, nur den geringsten Bruchteil an Erdbewegungen ausmachte, die dereinst eine Gesamtfläche von 475 Quadratkilometern aushöhlen und regelrecht verheizen sollte, konnten und wollten die demonstrierenden und vandalierenden Gruppen nicht wahr haben. Einerseits war es ihnen wohl ein zu heißes Eisen, sich mit der Rhein-und-Ruhr Energieversorgung AG, dem größten Konzern Europas seiner Art, direkt anzulegen, so daß sich die Aggression auf das eher schwächste Glied der Kette entlud, andererseits schien sich die aufgebrachte Menge nach der Devise ‚Wehret den Anfängern‘ logischerweise gegen die Personen zu richten, die den ersten Spatenstich zu diesem Projekt unternahmen. – Wenn auch dieser Spatenstich eher symbolisch zu werten war, so geriet das Auflehnen dagegen fast immer durchaus handfest. So war in den letzten Monaten rund um das Sprenggebiet eine Absperrung entstanden, die in Aufbau und Abschreckung der ehemaligen innerdeutschen Grenzfestung glich. Doppelte Elektrozäune, Wachttürme, Flutlichtanlagen, Nebeltretminen, scharfe Wachhunde und bewaffnete Bedienstete des Bundesgrenzschutz, unterstützt von zahlreichen Mitarbeitern privater Wachgesellschaften, die einen weniger höflichen Umgang mit Demonstranten pflegten als ihre Kollegen des öffentlichen Dienstes[3], hüteten die künftige Hauptenergieversorgungsstätte Deutschlands besser als alle Goldreserven der Welt. Robert Raasch sah sich keineswegs verpflichtet, Ursachen und Wirkung dieser Festungsanlagen tiefschürfend zu analysieren. Zum einen bestand seine Tätigkeit darin, Löcher in Böden, Felsen und Wände jeglicher Art zu sprengen oder Hochbauten egal welchen Ausmaßes in Zustände zu versetzen, die es ihnen ermöglichten, größtenteils von Handfeger und Schaufel ortsverlegt zu werden und gleichzeitig dem Betrachter ihre aller-innersten Substanzen zu offenbaren, zum anderen wurde er hauptsächlich für das Nachdenken darüber bezahlt, diese seine Tätigkeit jedesmal zu einem gelungenen Schauspiel werden zu lassen. Wobei Roberts Auftraggeber unter ‚gelungen‘ vor allem schnell, präzise, sauber, vor allerst aber preiswert verstanden.

Was Roberts entgeldfreies Nachdenken betraf, so drehte es sich eher um näher liegende Dinge als politisches Geplänkel um alternative Energieversorgung oder gegenseitiges Abklopfen, bzw. Einbläuen von Meinungen. Näher liegende Dinge besaßen für Robert Raasch zwei Beine, trugen im allgemeinen weibliche Vornamen, hießen insbesondere Sonja Wolff und waren eigenartigerweise allesamt schwer ins Bett zu bekommen, so daß sie zuletzt doch ferner lagen als es Robert recht war. Wenn Robert aber einmal die lange Reihe der naheliegenden Dinge abgeschritten und all seine gedanklichen Möglichkeiten ausgespielt hatte, diese in erreichbare Nähe zu rücken und sein Alkoholpegel, der dem Vorgang des hypothetischen Möglichkeiten-Ausreizens förderlich diente, noch zusätzliche philosophische Betrachtungen zuließ, dann konnte es tatsächlich einmal geschehen, daß er, Robert Raasch, 35, Junggeselle, Diplom-Ingenieur und Pyrotechniker, politische Statements kreierte wie: »Wenn alle Die, die jetzt gegen das Braunkohle-Kraftwerk protestieren, nicht damals den Ausstieg aus der Atomenergie gefordert hätten, bräuchte ich auch nicht zu sprengen. Also laßt mich in Ruhe mein Loch machen und leckt mich am selben.« Es wäre jedoch äußerst voreilig, daraus zu schließen, Robert sei politisch einfühlslos und oberflächlich wie jeder andere auf seine Stammtischreden stolze Bundesbürger. Dies hätte er auch zurecht noch weiter von sich gewiesen als die Gesamtsumme seiner nah liegenden Dinge, denn im Grunde genommen schlummerte in ihm – wie eigentlich in jedem halbwegs seinen Beruf ernst nehmenden Pyrotechniker – die Seele eines Anarchisten.

Natürlich, so wußte und dachte auch Robert Raasch, war es ein ausgemachter Schwachsinn, rund 71 Milliarden und 250 Millionen Kubikmeter Erde zu durchwühlen, zu zerkleinern und zu verheizen, zwei Bundesautobahnen komplett und etliche tausend Kilometer an Wasser-, Strom-, Erdgas- und anderen Versorgungsleitungen zu verlegen, 45 Tausend Bewohner von 21 Kleinstädten und Dörfern zu evakuieren, ungezählte Bauwerke, die einst unter Denkmalschutz standen, niederzuwalzen, etliche Tausend Hektar fruchtbarstes Ackerland unwiederbringlich zu verwüsten und den gesamten Grundwasserspiegel der Niederrheinischen Tiefebene um mehr als hundert Meter abzusenken, damit eine Nation von Sportschau-Zuschauern garantiert weitere zwanzig Jahre lang am Fernseher mitverfolgen durfte, ob nun Schalke oder der BVB höher auf der Tabelle stehen würden, ohne selbst zur Sicherung der Stromversorgung in die Pedale treten zu müssen, wenn ein paar wenige Kilo aufbereiteten Urans das Selbe gewährleistet hätten.

Für einen Scheiß-Sport überbezahlter und ungebildeter männlicher Werbespot-Models war, so befand Robert Raasch’s anarchistisch geprägtes alter ego, der ganze Aufwand doch ein wenig übertrieben. Zumal, Schalke hin, BVB her, die kerngespaltenen Fangemeinden doch alle das selbe Bier soffen, sehr zum Heimvorteil der Dortmunder Brauereien.

Doch jene Politiker, die unter dem hehren Fähnchen des Umweltschutzes einst den Stecker aus den Kernkraftwerken gezogen hatten, hatten ebenso vollmundig das ‚Projekt Schwarzweiler‘ befürwortet und sämtliche Subventionsschleusen zwischen Brüssel und Berlin geöffnet, das neue Jahrtausend unter das Zeichen der mittelalterlichen Braunkohle gestellt.

Robert Raasch war dennoch Demokrat genug, um zu wissen, daß die wählende Mehrheit es nicht anders gewollt hatte, und er sich somit schweigend der Dummheit beugte. Trotz allen gelegentlich gärenden seelischen Schluckaufs war Robert Raasch körperlich und geistig rundum gründlich glücklich deutsch: sich, seine Seele und den Rest der Welt mit stoischer Ruhe träge ertragend – ausgenommen Dienstfahrzeuge, genauer gesagt, das Dienstfahrzeug, das Robert während unseres Ausfluges in dessen Psyche mittlerweile erreicht, bestiegen und trotz der Ausführlichkeit der Beschreibung seiner energiepolitischen Einstellung noch immer ergebnislos mehrmals zu starten versucht hatte.

Robert fluchte, schlug mit den Handflächen aufs Lenkrad, rührte den Gangknüppel, als gelte es, das Gefährt allein durch Kurbelbewegungen aufzumuntern, steppte einen schwer einzuordnenden Tanzstil auf die Pedale und versuchte dem Zündschloß den rettenden, da zündenden Funken zu entwürgen. Es half alles nichts. Selbst das abermalige Fluchen, das so ähnlich klang, als wolle Robert dem Begriff von gefrorenem Wasser eine besondere Betonung mittels Zischlauten verleihen, änderte am Zustand des alten, rostfleckübersäten VW-Kübel, dessen besten Tage längst verstrichen waren, als die Bundeswehr sich noch feindbildlich auf die NVA stürzen konnte, nichts: Es blieb ein Standzeug wie jeder Lastesel, der sich halbwegs etwas auf seine Sturheit einbildete.

Der VW-Kübel, der tatsächlich einmal Verteidigungszwecken gedient hatte, war Bestandteil des total überalterten Fahrzeugparks, der mittels eines geschäftlichen Coups zwischen dem Vorstand der ’Rhein-Ruhr‘ und der Bundesregierung nach monatelangem gegenseitigen Über-den-Tisch-Ziehen für das Projekt Schwarzweiler angeschafft wurde. Dieser Handel lief sinngemäß folgendermaßen ab:

RRAG: Wegen Euch mußten wir alle unsere schönen AKW abschalten. Wie wir jemals diesen Riesenverlust verkraften können, interessiert Euch nicht die Bohne.

Bundesregierung: Wenn wir uns recht erinnern, sind damals alle euren AKW von uns subventioniert worden.

RRAG: Gut, daß Ihr selbst drauf zu sprechen kommt. Wenn Ihr uns auch nicht diesmal voll unterstützt, läuft gar nichts.

Bundesregierung: Wir lassen uns doch nicht erpressen!

RRAG: Wir könnten auch mit unseren französischen Nachbarn fusionieren und Euch weiterhin gelben[4] Atomstrom von jenseits der Grenze liefern. Stromimport ist nicht gerade billig.

Bundesregierung (seufzend): Na schön. Wir müssen an die anstehenden Wahlen denken.

RRAG: Und an die vielen Arbeitslosen ...

Bundesregierung (zerstreut): An wen? Ach so ja, natürlich, natürlich. – Also, was braucht Ihr?

RRAG: So ziemlich alles: Schraubenzieher, Muldenkipper, Schaufelradbagger, Kantinenessen, ein neues Verwaltungsgebäude, diverse Overalls und Kittel mit unserem eingestickten Firmenlogo und ... einen Wagenheber.

Bundesregierung: Wozu um Gottes Willen einen Wagenheber?

RRAG: Falls eines unserer Fahrzeuge mal einen Platten haben sollte. Überlegt doch mal: Der Wagen bleibt liegen. Die gesamte Logistik wird unterbrochen, bricht vielleicht völlig zusammen, kann erst mühevoll wieder aufgebaut werden, nachdem ein Abschleppdienst nach Stunden die Panne behoben hat. Bis dahin kann ganz Schwarzweiler still liegen. Die Arbeiter lungern herum, sind unmotiviert, können erst mit Gehaltszulagen wieder aufgemuntert werden – und wer soll die Kosten tragen? Ein Wagenheber ist einfach unentbehrlich.

Bundesregierung (zähneknirschend): Also gut. Ihr bekommt Euren Wagenheber, aber nur einen kleinen.

RRAG: Wir sind stets zu Kompromissen bereit ...

So geschah es, daß die Bundesregierung, um die Kosten für den Wagenheber halbwegs aufzufangen, beschloß, den Fuhrpark des Projektes Schwarzweiler aus längst abgeschriebenen Bundeswehrbeständen zu stellen. Größtenteils waren dies Fahrzeuge, von denen Spötter behaupteten, sie seien selbst von diversen Sport- und Wehrgruppen schmählichst während Verkaufsaktionen abgelehnt worden. Diverse andere, mit eher pragmatischem Humor ausgerüstete Zeitgenossen, darunter vor allem Majo Majewske, teilten eher die Auffassung, der Braunkohleabbau diene im wesentlichen dazu, die Holzkohlevergaser der Abräumfahrzeuge zu beheizen.

So erwies sich die Bestellung eines Wagenhebers als die mittlerweile berühmt gewordene geschäftliche Weitsichtigkeit des RRAG-Vorstandes. Im Gegensatz allerdings zur ebenso voll staatlich subventionierten Werkskantine. Erfreute sich der Wagenheber allgemeiner Beliebtheit beim Personal, so brachten die Werksangehörigen und Subunternehmer ihre Pausenbrote lieber von daheim mit. Soviel Wehmut verband sie nicht zu ihrer einstigen Wehrdienstzeit, um durch die Mahlzeiten daran erinnert zu werden.

Da Robert freundlicherweise mittlerweile grübelnd vor geöffneter Motorhaube seines VW-Kübel verharrte und unentschlossen zwischen spontaner intuitiver Behebung des Fehlers und Fußmarsch zur Pressekonferenz von einem geistigen Bein aufs andere wankte, bleibt uns noch etwas Zeit, eine weitere kurze Episode zur Entstehungsgeschichte des Schwarzweiler-Projektes zu schildern.

Überraschenderweise waren sich Bundesregierung und RRAG-Vorstand schnell einig geworden. Im großen und ganzen lautete der Geschäftsvertrag, daß die Bundesregierung zahlt, die ’Rhein-Ruhr‘ sich im Gegenzug verpflichtet, ihren guten Namen zur Verfügung zu stellen. Da aber die regierenden Politiker, MdB’s, Staatssekretäre, Ministerialräte und alle anderen rücksichtslos und zu schnell fahrenden Bundesbürger des Öffentlichen Dienstes, die niemals ein Strafmandat zu zahlen hatten, egal, wie oft sie bei Übertretungen, respektive Überfahrungen der Straßenverkehrsordnung erwischt wurden, trotz drastischer Diätenerhöhung kaum das Geld zusammenlegen konnten, um das Projekt Schwarzweiler zu finanzieren, baten sie um freundliche Unterstützung seitens der Bevölkerung, allerdings erst, nachdem sie mehrfach versichert hatten, das Projekt stünde auf gesunden finanziellen Füßen.

Zwischenzeitlich hatte sich jedoch herausgestellt, daß ein kurzsichtiger Rechnungsprüfer das Kleingedruckte des Vertrages zwischen RRAG und Bundesregierung schlichtweg überlesen hatte. Es sollte sich herausstellen (so zumindest der klägliche Versuch einer Pressemitteilung), daß die darin geforderten Heizkosten für den Swimmingpool des Penthouses des neuen RRAG-Verwaltungsgebäudes das Bundesetatloch um einen neunstelligen Betrag erweiterte.[5] Sicherheitshalber wurde besagter Rechnungsprüfer auf einen hochdotierten Posten im Wirtschaftsministerium verlegt, ihm eine Brille mit Kassengestell verordnet, in der Hoffnung, ihn somit unschädlich gemacht zu haben, und nette Wortschöpfungen wie Braunkohlecent, Öko-Zusatzsteuer, Kumpelsolidaritätszuwendung, Energiesicherungsbeitrag und Einmaliger Zukunftsinvestitionsaufwand machten das Wenige, was den Bürgern nach Entrichten dieser Neuschröpfungen am Monatsende übrig blieb, um so gehalt-voller.

Doch kehren wir zum eigentlichen Ort des Geschehens zurück und schauen Robert zu, wie er schwungvoll zärtlich einen Drei-Kilo-Hammer auf den Zündverteiler sausen läßt. »Pung!« ein darauf folgendes »Glepp« verrät uns das Zufallen der Heckklappe, und ein »Krriiitsch« der Fahrertür läßt uns Roberts Besteigen des Fahrzeugs richtig vermuten, denn ein weiteres knirschendes Quietschen bestätigt das Schließen der Tür. »Bruii, bruii.« Dieses dem nostalgischen, audiosensiblen Automobilisten wohlbekannte und ohrschmalzerwärmende Geräusch eines 35-PS luftgekühlten Vierzylinder-Boxermotors veranlaßte Robert, sich nunmehr zu sputen und ordentlich Gas zu geben. »Brrrruuuuiiii!« So ratterte das Gefährt in Richtung Absperrung und dahinterliegendem, von frisch errichteten Braunkohlekraftwerken abwechslungsreich zerklüfteten Horizont, vorbei an Rohrleitungen für die Wasserausspülung des Sprengloches sowie die Absauganlage, vorbei an der V.I.P.-Tribüne, die soeben im gebührenden Sicherheitsabstand errichtet wurde, damit zum Zeitpunkt der Sprengung handverlesene, bzw. von hand-zu-hand-gewaschene Prominenz aus Politik, Wirtschaft und Showbiz als medienträchtige Kulisse dem Schwarzweiler-Spatenstich beiwohnen konnte und letztlich sehr, sehr lange vorbei an dem sich seinem künftigen Einsatzort im Schneckentempo (50 cm/sec.) nähernden Ungetüm von Schaufelradbagger.

Dieses erdfressende Monster, dessen jede einzelne seiner Dutzend Radschaufeln ein Einfamilienhaus einfach so, knurps, knurps, hätte verschlingen können, stellte in sich einen kollektiven Weltrekord an Größe, PS-Stärke, Entwicklungs- und Baukosten, sowie Stromverbrauch dar. Trotz seiner extremen Geländetauglichkeit hätte der durchschnittliche Otto-Motor-Normalverbraucher Rallye-Fahrer-Typus Golf-GTI kaum seine Freude an diesem technischen Wunderwerk aus Stahl, Förderbändern und rutschfesten, seitenlagestabilen Fahrketten gehabt, fehlte es ihm eindeutig an sportiven Beschleunigungswerten, wirksamen Möglichkeiten des Tieferlegens, bzw. effektvollen Flächen zur Anbringung von Aufklebern diverser HiFi-Gerätehersteller und/oder Heckspoiler. Doch insgesamt gesehen war der Bagger schon o.K., jedenfalls aus der Sicht eines Jumbo-Jet-Piloten, denn dieser hätte ohne Schwierigkeiten auf jeder einzelnen von dem Bagger hinterlassenen Fahrspuren landen können, glatter und verdichteter konnte auch die neueste Flugpiste nicht sein. So war dieses modernste Dinosaurierbaby der Schwermetallindustrie das nachhaltigst wirkende zivile Unkrautvernichtungsmittel, das die Menschheit je entwickelt hatte, mit Sicherheit wohl auch das längste.[6]

Robert atmete erleichtert auf, als sein Gefährt aus dem Schatten dieses Kolosses fuhr. Diese lebendig gewordene Gigantomanie aus kreischenden Kettengliedern, nahe dem Niederstfrequenzbereich wummernden Generatoren und vibrierendem Stahlrohrskelett flößte ihm mehr Respekt ein als ein TNT-beladener Güterzug. Mit knirschenden Bremsen hielt er vor dem Pressebunker.

Dieses aus mehreren Bürocontainern zusammengestellte Flachgebäude hatte ursprünglich außerhalb der Absperrung gelegen, um auch der Öffentlichkeit zu beweisen, daß die Konzernleitung nichts zu verbergen habe und es keinerlei Geheimnisse um das Projekt gäbe.

Schnell jedoch wurde der Zaun um die Container gezogen, nachdem die Öffentlichkeit ihre Meinung zum Projekt mittels Baseballschlägern, Molotowcocktails, Motorradketten und diversen anderen schlagkräftigen Argumentationshilfen während einer sogenannten ‚Bürgerinformation‘ zum Ausdruck gebracht hatte, wobei es sich hier ausnahmslos nur um harmlose Familienväter und fürsorgliche -Mütter bürgerlicher Provenienz handelte, die lediglich ihrer stillen Ohnmacht gegenüber der Zwangsenteignung von Grund und Boden etwas Luft verschaffen wollten.

Die wirklich gefährlich werden könnenden Demonstranten hatte man mit einer spontan abgehaltenen Neuheitenmesse an Kettenfahrzeugen, Wasserwerfern, Schutzschilden, Elektroschockgeräten aus Polizei- und BGS-Kollektionen und gelegentlichen Echtzeit-Vorführungen am lebenden Objekt, wahlweise individuell oder kollektiv, erfolgreich fern halten können. Woraus zu schließen ist, daß die menschliche verspielte Neugier, technische Neuerungen auszutesten, ein immer noch zu sehr unterschätzter Trieb ist.

Beide aufeinander getroffene Parteien waren sich anschließend darüber einig, daß dieser volksfestartige Tumult ein derart einschlagender Erfolg gewesen war, so daß es in unregelmäßigen Abständen immer wieder zu Nachahmungen kam, sich gegenseitig jenes denkwürdige Ereignis ins Gedächtnis (bisweilen auch die das Gedächtnis umhüllende Kalziumschale) einhämmernd. Manche sollten jene Stunden tatsächlich für den Rest ihres Lebens in Erinnerung behalten haben, bevor sie sich spontan aus dem lokalen Getümmel im speziellen und aus dem Chaos des Universums im allgemeinen final verabschiedeten.

Robert ignorierte das mittlerweile alltäglich gewordene Bild der Menschenmenge rund um den Zaun, hörte kaum mehr das Pfeifen und Buhen aus hunderten von Kehlen, das traditionsgemäß jeden Schwarzweiler-Mitarbeiter empfing, der sich von innen der Absperrung näherte. Er konnte sich der Scharfschützen-Qualitäten der privaten Wachmänner sicher sein, die von ihren Wachttürmen aus jeden Gegenstand, der den Zaun überflog, mit einer MG-Salve pulverisierten, bevor er Robert treffen konnte. Robert passierte die beiden Ledernacken, die lässig Kaugummi kauend vor dem Hintereingang des Pressebunkers Wache schoben, nickte ihnen kurz zu und wurde direkt hinter der Blechtür von Sonja Wolff, der Leiterin der Geologischen Abteilung, alias »die erotischste Eruption, die die Hölle je ausgespuckt hat« (Zitat Robert), alias »Getz halt ma die Luft an« (O-Ton Majo), alias »geilster Arsch des Universums« (allgemeine männliche Hochachtung) empfangen.

»WurdeauchZeitwiesiehstdudennausvanStrahlenistauchschondahattestdukeinJackettwieweitseidihrmitderVorbereitungziehdirzumindestdasdaüber.«

Und bevor Robert gedankliche Lücken zwischen die einzelnen Wörter setzen, den Redeschwall sortieren und zu passenden Antworten ansetzen konnte, hatte Sonja ihn bereits in einen Technikerkittel gezwängt.

»NaistzwarauchnichtdasGelbevomEihastDumaleinenKammaberimmernochbesseralsDeineolleWestelaßmalichhabselbsteinenneinwaswärtIhrMännernurohneunssojetztbistDuhalbwegskameratauglichrasierenhättestDuDichauchkönnen.«

Und schon waren Roberts Haare gescheitelt, seine Fingernägel inspiziert, seine Brille geputzt und der Staub von seiner Hose geklopft.

»Hallo Sonja.«

»BevorwiraberdieSprengungerklärenwirdvanStrahlendieSicherheitsmaßnahmenerläuternwasachsojahallo.«

Sie setzte ihm einen flüchtigen Kuß auf die Wange.

»Wie denn, schon wieder? Das kauen wir doch täglich seit zwei Wochen durch.«

»DukennstdochvanStrahlenerwillebenbeweisendaßwirallesunterKonttrollehabenohGottduhastjaunterschiedlicheSockenan.«

Bevor Sonja oder Robert oder gar beide Maßnahmen ergreifen konnten, Roberts Socken (rechts blau, links grau) paarig gleichfarbig zu gestalten, erschien auch Hubert van Strahlen, Vorstandsvorsitzender der Rhein-und-Ruhr Energieversorgung AG, persönlich im Türrahmen zum Konferenzraum.

»Ach, Raasch, wo bleiben Sie denn? Wir wollen endlich anfangen.«

»Ich war mit dem Sondermodell Rupert Scherfing unterwegs.«

»Immer witzig, der Raasch, immer witzig. Aber jetzt kommen Sie.«

An dieser Stelle lassen wir van Strahlen, Sonja und Robert ohne uns den Konferenzraum betreten und ersparen uns die wirklich langweiligen Ausführungen von Herrn van Strahlen über die getroffenen Sicherheitsvorkehrungen.

[1] Die Länge dieses Satzes sollte die für die deutschsprachige Gegenwartsliteratur typische Fünf-Worte-Syntax bis zum Ende dieses Jahrhunderts wohl durchaus kompensieren können. Wer bis hierhin lesend durchgehalten hat, hat den PISA-Test mit Bravour bestanden und wird mühelos den Rest des Buches auch noch schaffen.

[2] Ich verweigere mich der deutschen Wortschöpfung, die so weltoffen klingen soll und von keiner anderssprachigen Nation, am allerwenigsten von den angelsächsisch sprechenden, verstanden wird.

[3] „rüpelhaftes“ Benehmen diesen schwarzbelederten Gorillas vorzuwerfen, wäre auch den diplomatischst sprechenden Zungen auszudrücken nie in den Sinn gekommen, zumal die Ledernacken dies eher als die klare, aber undeutlich ausgesprochene Arbeitsanweisung „Rübe ab!“ bereitwillig angenommen hätten.

[4] Um die verschiedenen Stromerzeuger unterscheiden zu können, wurde der Strom hierzulande eingefärbt, ähnlich wie das Mineralöl, das nicht steuerhinterzieherisch als Dieselkraftstoff mißbraucht werden sollte. Pfiffige Bastler jedoch umgingen diese Farbgebung und versorgten ihre Heime mit eigenen Rotstromaggregaten.

[5] Dies trifft zwar nicht ganz den exakten Wortlaut besagter Pressemitteilung, da ursprünglich von einem „mehrstelligen“ Betrag gesprochen wurde. Auch das Penthouse wurde samt statisch offenbar unabdingbarem 30-geschossigen Verwaltungshochhaus-Fundament aus der Pressemitteilung gekürzt, um mehr Zeit für die weitaus wichtigeren Aktfotos einer an Überdosis Silikon (beim Lehnen über die Kante einer Tiefkühltruhe das Gleichgewicht verloren und erfroren während ihr momentaner Tagesabschnittsgefährte diese Körperhaltung als Aufforderung zu einem spontanen Genpool-Shake - seither ist das Kürzel „GPS“ in aller Munde - mißverstand ... es ist also nicht stets ratsam, einen kühlen Kopf zu bewahren, wenn’s heiß hergeht) verstorbenen Billigseifenoper-Darstellerin mit optisch effektiver Vorher-Nachher-Bildreportage zu gewinnen. – Seither verzichtet auch ein namhafter Küchengeräthersteller auf die Behauptung, er wüßte, was Frauen wünschen.

[6] Zum Ende des 2. Jahrtausends waren sich Werbetexter und Hersteller darin einig geworden, die Länge eines Produktes gleich welcher Art als besonderes Qualitätsmerkmal hervorzuheben. So entstanden Zwei-Ton-Musikstücke, Naschereien, T-Shirts, aber auch Werbespots für bayerische Automobile, die als Kino-Agenten-Film liefen, in kaum noch zu ertragender Länge. Siehe auch die Regierungszeit des wohl längsten Bundeskanzlers.