Kapitel Acht

Majo hatte indessen vom Werkschutz die Adresse der Kaserne in Erfahrung gebracht, in der Major Riefenstief stationiert war. Nachdem er dort angerufen hatte und um Rückruf des Majors nach dessen Eintreffen gebeten hatte, kümmerte er sich um die Schadensbehebung an den Kabeln, die aufgrund des Zwischenfalles mit Desideria aus ihren Halterungen gerissen waren. Allzu viele Kabel hatten sich glücklicherweise nicht gelöst, so daß nach etwa einer Stunde sämtliche Kabelverlegungsarbeiten abgeschlossen waren. Majo entließ seine polnischen Mitarbeiter in den vorgezogenen Feierabend, ihnen nochmals einschärfend, sie mögen den kommenden Tag ausnahmsweise einmal frisch rasiert und in Sonntagskleidung erscheinen, wenn auch selbst davon überzeugt, die beiden würden sich diese Anweisung arbeitsteilend nur zu je einem Part zu Herzen nehmen.

Auch Sonjas wasserfallartige Hetztirade über Majos Verhalten war bis auf die letzten Argumentationstropfen versiegt, so daß sie in der Überzeugung, Robert die Augen über dessen unsäglichen Mitarbeiter nun klar sehend geöffnet zu haben, den Container mittlerweile verlassen hatte. Da sie noch weniger Vertrauen in Roberts korrekter Garderobe besaß als Majo in die seiner Mitarbeiter, hatte sie noch im Abrauschen Robert angekündigt, die Nacht bei ihm zu verbringen, um dann gemeinsam mit ihm den kommenden Morgen zur Sprengung zu fahren.

Robert indessen war derart tief gedanklich in das zu erwartende Desaster versunken, daß er weder Sonjas Gardinenpredigt, noch die Ankündigung ihres Besuches sonderlich wahrgenommen hätte. Erst als Majo zurück in den Container stieg und die erfolgreiche Verkabelung aller Zünder meldete, wachte Robert aus seinen düsteren Gedanken auf.

­»Meinst du wirklich, wir sollten es darauf ankommen lassen?«

»Meinze nich, datt et getz’n bißken zu spät is, noch watt ändan zu wolln?«

»Ich weiß nicht, ich habe ein ungutes Gefühl.«

»Ich hab mir datt nochma durchen Kopp gehen lassen. Rein rechnerisch dürfte datt Loch kaum weita wern, höchstens ein paa Meta tiefa. Datt kontrolliert wieso keina mehr. Kann nur sein, datt uns ein paar Brocken um die Ohrn fliegen wern. Die Tribüne ist weit genuch wech von, nur hier inne Baracke könnte et ungemütlich wern. Aba da sitz ich ja nur drin.«

»Was meinst du mit ungemütlich?«

»Wird wohln bißken schaukeln, wenn der erhöhte Sprengdruck sich seitlich ausdehnt. – Komm laß uns datt Dummykabel noch anschließen, dann machen wa Schluß für heute.«

Robert nickte stumm. Majo schnappte sich einen Schraubendreher aus einer neben der Tür stehenden Werkzeugkiste und sein Händi, verließ den Container und folgte dem Überlandstromkabel, das über einige Holzpfosten hinweg vom Container zum Rednerpult vor der V.I.P.-Tribüne in etwa 500 Metern Entfernung führte. Dort angekommen, löste er die Halterung des roten Druckknopfes auf der Pultfläche, verschraubte zwei darunter liegende lose Drahtenden und setzte den Druckknopf wieder in seine Halterung zurück. Auf seinem Händi wählte er die Nummer von Roberts Taschenquälgeist.

»Ich drück getz ma.«

Mit der flachen Hand schlug er auf den roten Auslöser, was im Container eine rote Lampe aufleuchten ließ.

»Funktioniert!«, meldete Robert zurück.

Majo betätigte die Taste nunmehr im Takt, dreimal kurz, dreimal lang, dreimal kurz.

»Mach keine Witze!“, kommentierte Robert.

Majo unterbrach die Telefonverbindung und rief die Nummer des Werkschutzes an.

»Majeske hier. Ihr könnt‘ getz kommen. Wir sind soweit fertich.«

Der Werkschutz übernahm stets die Aufsicht über das Sprenggelände, sobald die Mitarbeiter der Raasch Pyrotechnik GmbH es verließen. Es gehörte zu den Regeln des Schwarzweiler-Projektes, daß dessen Mitarbeiter erst dann ihren jeweiligen Arbeitsplatz verlassen durften, nachdem die Lederjacken ihre beaufsichtigende Position bezogen hatten. Robert und Majo nutzten diese allabendliche Wartezeit bis zum Eintreffen des Werkschutzes gern für ein Feierabend-Bierchen. Während Majo zurück zum Container schlenderte, versuchte Robert Hubert van Strahlen telefonisch zu erreichen, um ihm persönlich mitzuteilen, daß die Raasch Pyrotechnik GmbH drei Stunden vor geplanter Zeit die Vorbereitungen für die Sprengung abgeschlossen habe. Zu seiner Enttäuschung erfuhr er von van Strahlens Sekretärin, daß der Vorstandsvorsitzende der RRAG wegen eines dringenden Zahnarzttermines an diesem Tage nicht mehr zu sprechen sei. Auch wenn Robert persönlich nicht viel von van Strahlen hielt, so wäre es ihm doch ein genugtuendes Gefühl gewesen, dem Chef des größten Energiekonzerns Europas den Abschluß eines korrekt ausgeführten Vertrages vor Ablauffrist zu melden – selbst wenn die Sprengkraft mehrere Korrekturen erfahren hatte. Doch unter Berücksichtigung aller chaotischen Umstände, unter denen dieses Projekt in die Wege geleitet worden war, konnte man Robert keinesfalls schlampige Arbeit vorwerfen. Er hatte sein Bestes getan, damit es überhaupt zu einer Sprengung kommen würde, was bei der ursprünglich vorhergesehenen Sprengmenge eher unwahrscheinlich gewesen wäre.

Robert saß bereits mit geöffneter Bierdose auf der Türschwelle zum Container, als Majo zurückkehrte. Er reichte Majo eine weitere Dose, nachdem dieser neben ihm Platz genommen hatte. Schweigend prosteten sich beide zu und nahmen kräftige Schlucke des erfrischend bitteren kühlen Nasses, blickten stumm und gedankenverloren auf das flache weite Spinnennetz der Zündkabelfläche vor ihnen.

»Kannst du dir vorstellen, wie das in ein paar Jahren hier aussehen wird?«, unterbrach Robert die Stille.

»Lieba nich. Dagegen wirta Mond ne belebte Postkahtenidülle abgehm.«

Robert nickte versonnen.

»Schon gewaltig, wie der Mensch die Umwelt verändert. Stell dir vor, das hier wird hier in hundert Jahren ein zwanzig mal fünf Kilometer breiter und hundert Meter tiefer Graben sein. Das Grand Canyon Europas.«

»Datt sinn ehm die Püramihn der Neuzeit. Egal watt der Mensch anpackt, er muß seine Spuhrn hintalassen. Oppa nun inne Wüste Steine aufeinanda stapelt, dia fon hunderte fon Kilometan angeschleppt hat oda mitten inne blühende Landschaft ein klaffendes Loch buddelt, keina wird in tausend Jahn genau sagen könn, warum eigentlich. Watt der Mensch auch macht, iss nur fürn kurzen Moment, bleibt aba für die Ewigkeit.«

»Du hättest Philosoph werden sollen, Majo.«

»Geh mir wech fonn! Weisse, datt geschaitat nur allzu oft die konsekwennte Steigerung von geschait iss? Nimma die Sprengung als Beispiel: Wir beide sorgen für ein monumentales Denkmal datt noch in Millionen Jahrn zu sehen is. Wer glaubze, wird sich in zehn Jahren aussa uns bein noch an uns erinnern? Unn noch schnella sinn geschaite Gedanken vagessen. Die Denkmäla bleim, wenn auch keina mehr weiß, wer se ma gedacht hat. Und irgendwann ist selps vagessen, warum se gedacht worn sinn. Im Lauf der Zeit änderse nix, auch nich als Philosoph, du weiß nur, dattet so is. Unn wenne datt weiß, kannze auch gleich die Klappe halten. Datt sinn ehm nur die Dummen, die glauben, mit lautem Gedöns die Stille der Ewichkeit übatönen zu könn. Der Witz dabei is nur, egal ob wir oda wer anders dat ersse Loch macht, et wird gemacht. Die ganze Menschheitsgeschichte is nix als Löcha: Du komms aussem Loch, buddelst dir deine Wohn- und Lebenslöcha und endest irgendwann im Loch. Du atmest durch Löcha, kucks durch Löcha, hörs durch Löcha, deine Nahrung geht durch Löcha. - Oda kuck dir datt Universum an: Lauta Loch mit ein bißken Mattehrie drin. Datt ganze Sein is nix als Loch!«[1]

Majo nahm einen tiefen, leerenden Zug aus seiner Bierdose und zerdrückte sie anschließend in seiner Hand.

»Und warum datt allet? Nur damit ich Arschloch morgen auf diesen vadammten Sprengknopf drücke!«

Zu den dunkelsten Kapiteln deutscher Kultur gehört einwandfrei deren Wehrhaftigkeit. Dunkel insofern, als kaum die Gründe, weswegen Deutsche protestierend auf die Straße ziehen, erhellbar sind. Während beispielsweise ein vor der unmittelbaren Haustür stattfindender Völkermord[2] kaum einen deutschen Demonstranten auf die Straße lockt, fühlt der selbe sich geradezu verpflichtet, sich gegen einen Krieg in einem weit entfernten ölfördernden Land vehement einzusetzen. Daraus zu schließen, es ginge ihm allein um die Sicherstellung preiswerter Benzinlieferungen, wäre ein sehr schnell gezogener Fehlschluß. Denn der durch die eigene Regierung drastisch verteuerte Benzinfluß läßt ihn überraschenderweise wiederum kalt. Auch protestiert er gern gegen genmanipulierte Kartoffeln, während Experimente mit Föten in den Mixern und Shreddern der Genlabore ihm weniger den Appetit verderben. So gern er auch für die legalisierte Ehe von Gleichgeschlechtlichen marschierend auf der Straße eintritt, so wettert er ebenso gern gegen Eheschließungen mit Ausländern an Stammtischen, wobei ihm auch das Schicksal von Robbenbabies sehr viel näher am Herzen liegt als das der alltäglich in der Nachbarschaft verprügelten Kinder. Diese offenkundige Unlogik im deutschen Demonstrations-Verhalten läßt sich kaum erklären – außer vielleicht mit Hilfe der Wetterkarte. Denn ebenso launisch wie die Atmosphäre auf Temperaturschwankungen reagiert das deutsche Volk auf temporäre Strömungen. Während es einmal vehement gegen die Mauer um die eigene Hauptstadt protestiert, nimmt es ein paar Tage später begeistert auf, daß die politischen Erben der Mauerbauer in den Senat just jener dieser Stadt ziehen. Gleichzeitig verweigert er die Nahrung von Rindfleisch, das eventuell in 30 Jahren eine Krankheit auslösen könnte, während er sich alltäglich in den Straßenverkehr stürzt, der nachweis- und durchschnittlich drei Todesopfer pro Tag im eigenen Land fordert. Vermutlich aber liegt der Schlüssel für diese Diskrepanzen allein in der sogenannten Informationsgesellschaft. Denn je weniger der Deutsche um Sachverhalte weiß, desto größer ist die Bereitschaft, sich dafür oder dagegen demonstrierend einzusetzen. Tatsächlich ließe sich anhand einiger Beispiele exakt nachweisen, daß die schwammigsten Informationen am ehesten die deutschen Gemüter bewegen. An dieser Stelle sei nun der Versuch unternommen, die Motive und unterschwelligen Gemütsströmungen jener Demonstranten zu erfassen, die gegen das Schwarzweiler-Projekt demonstrierten.

Da gab es zunächst die unmittelbar von diesem Projekt Betroffenen. Diese rekrutierten sich aus den Reihen jener rund 40.000 Bürger, deren Wohnungen und Häuser genommen werden sollten, um dem Tagebau zu weichen. Wenn auch deren Protest am ehesten nachzuvollziehen gewesen wäre, so zeigte gerade jene Gruppe die unterschiedlichsten Demonstrations-Profile, die weniger den Naturschutz als vorrangiges Argument führten, sondern eher den bestmöglichen Eigenprofit aus den in Aussicht gestellten Abfindungen und Entschädigungen für die zu verlassenden Wohnstätte. Nicht selten mußte sogar die letzte Lagerstatt der Oma herhalten, die während der letzten 20 Jahre kaum Besuch der Erben erfahren hatte, nunmehr aber immense Quadratmeterpreise in Anbetracht des plötzlichen Sentimentalschubes der Hinterbliebenen erzielte, um zumindest eine teure Erinnerung in Barwert zu erhalten. Kaum jemand zog ernste Erwägungen, die Gebeine der Verstorbenen umzubetten, in Betracht. Eher sollten diese post mortem und inhumiert durch die Schlote der Kraftwerke gen Himmel fahren, solange allein die Grabsteine eine neue Lagestatt fanden, ehe diese eventuell zu solchen des Anstoßes werden konnten, sollte ein Schaufelbaggerzahn eine Ecke aus den kostbar polierten Mineralien brechen. So sollte „unser Oma ihr klein Grüftchen“ sehr wohl, aber nicht deren moralischer Gegenwert verheizt werden. Auch etliche betroffene Landwirte protestierten energisch um den Werterhalt ihrer Ländereien. Spätestens nach der staatlich subventionierten BSE-Krise interessierte ein Erhalt des Rinderbestandes kein Schwein mehr, doch kein Bauer wollte wie ein dummer Ochs vorm Braunkohleberg stehen bleiben, wenn es ihm darum ging, seine Zukunft – nicht unbedingt die seines Berufstandes – zu sichern. Lästermäuler wie Majo verglichen die in die Höhe schießenden Grundstückspreise bereits mit Auslegeware gleichen Ausmaßes, die aus einander verwobenen 10-Euro-Scheinen bestand. Die prä-schludniggsche Regierung hatte weder Kosten noch Mühen gescheut, alle Forderungen nach Entschädigung eiligst unter den Geldteppich zu kehren, so daß letztendlich nicht nur allein der Brenn-, sondern auch der materielle Wert der zu fördernden Braunkohle ihrer verwandten kristallinen Form der Kohlestoffverbindungen doch recht nahe kam. Diese rein um ihre Güter kämpfenden Demonstranten stellten dann auch die militanteste Gruppe der Tagebau-Gegner, zumal deren Mitglieder schon alttraditionell über Waffen verfügten, die bereits während der Bauernkriege ihren Einsatz gefunden hatten. Aber auch so mancher Mähdrescher imponierte mit seinem gewaltigen Schneidewerk auf Demonstrationen, wenn Mistgabeln und Sensen allein gegen Wasserwerfer machtlos waren. Eine weitere recht schlagfertige Gruppierung bestand aus den üblichen Demo-Touristen. Wie hinlänglich bekannt, geht es diesen überwiegend jungen Menschen weniger um die Sache, mehr dafür ums Prinzip. Dieses Prinzip wiederum fußt auf dem inneren Drang nach natürlichem Gleichgewicht. Was der eine Teil dieser Jungschläger an Kopfbehaarung missen läßt, wallt um so mehr um die Schultern des Gegenparts. Fordert die eine Gruppe nach neuer Ordnung für die Zukunft, beharrt die andere auf alte bewehr(mach)ten Strukturen. Verunzierten die Mitglieder der einen Gruppierung ihre Körper mit Tätowierungen, verstümmelten sich die anderen mit allerlei metallenem Gehänge, doch trugen seltsamerweise die Anhänger beider Prügelclans vorzugsweise Lederkleidung, wenn auch unterschiedlichen Schnittes, auf der einen Seite eher schulterbetont, auf der anderen mehr die Proportionen der Geschlechtsmerkmale, bzw. diese selbst hervorhebend. Tatsächlich schien zwischen beiden Gruppierungen ein ewiger Modekrieg zu herrschen, denn allein, wenn diese aufeinandertrafen, zeigten sie sich in all ihrer Entschlossenheit, ihre Prinzipien durchzusetzen. Damit die breite Öffentlichkeit überhaupt davon in Kenntnis gesetzt werden konnte, stimmten beide Gruppierungen meist ihre Prügeltermine miteinander ab, so daß das Prinzip des Gleichgewichtes weiterhin gewahrt werden konnte. Ansonsten, in ihrer Privatsphäre, fielen die Mitglieder beider Gruppen kaum auf, sie kuschten als brave Bankangestellte, Lagerarbeiter, Arzthelferinnen und Azubis wie die meisten Menschen ihrer Altersklasse. Allein während ihrer öffentlichen Fehden sorgten sie dafür, daß das Vernunftszünglein an der Gesellschaftswaage weiterhin beide Gruppierungen gleichwertend mit einem grinsenden Kopfschütteln bedachte.

Rolf Bisams Sensationsreportage goß nicht nur Wasser auf die Mühlen Derer, die schon rein aus Prinzip den kommenden Tag als willkommenes Demo-Happening rot im Kalender angestrichen hatten, also autonome Gruppen, die stets ihren Unmut bekundeten, wenn irgendein Konzern irgend etwas unternahm, wie auch ultrarechte Skins, die es nicht zulassen wollten, daß Erstere allein die Aufmerksamkeit der Medien auf sich ziehen würden, darüber hinaus diverse Umweltschutzshowgruppen, die sich für ihre durchaus halsbrecherischen aber in ihrer Wirksamkeit eher fraglichen Aktivitäten eigens von altgedienten Stuntmen ausbilden ließen und vorzugsweise Wale mit ölenden und lärmenden Zweitakt-Außenborden an krebserregenden Polyäthylen-Schlauchbootwänden wasseraufwühlend einkreisten, damit diese eher den Schocktod darüber starben statt harpuniert zu werden, sowie etliche semiprofessionelle Amateurgaffer, die sich einen besonderen Kick davon versprachen, die eine oder andere Prügelei, eventuell sogar Platzwunden, besser noch: aus diversen Körpergliedmaßen hervortretende gesplitterte Knochen infolge putativer punktueller Schlagknüppelbehandlung seitens der Ordnungskräfte live miterleben zu können. Insbesondere aber die Bilder Desiderias und der Bisam’sche Hinweis, statt dieser Hobbydarstellerin sei am morgigen Tag die einschlägig bekannte Molly Dusty am selben Ort zu erwarten, erfreuten sich der Aufmerksamkeit zweier Gruppierungen, die das Schwarzweiler-Projekt bisher nur am Rande verfolgt hatten.

Während der alltäglichen Nachmittagsflaute in der Deutzer Eckkneipe „Schäl Sigg“ verfolgte der Kellner Krassimir Bugovic eher gelangweilt das Fernsehprogramm, das von einem kleinen TV-Gerät hinter dem Tresen in den sonst leeren Gastraum flimmerte. Gedanklich hing er noch dem gestrig geplatzten Date mit einer Online-Bekannten hinterher. Zunächst hatte diese Frau ja noch seine Schläge willig hingenommen, nachdem er sie auf einem McDonald’s-Parkplatz in sein Auto gezerrt und ihr die Kleider vom Leib gerissen hatte. Als er dann ihre Brustwarzen hingebungsvoll zunächst mit extra starken Wäscheklammern langgezogen hatte, und sie unter schmerzvollem Stöhnen (und nach Androhung weiterer Schläge) gestanden hatte, sie vertraue ihm vollends, hatte sie doch allen Ernstes zurückgeschlagen, nachdem er die Wäscheklammern mit einem kräftigen Zuzwicken beider Kombizangenbacken luststeigernd ersetzen wollte. Hatte diese Schlampe denn nicht zugehört, als er während eines stundenlangen Chat-Gespräches ihr klar zu machen versuchte, daß absolutes Vertrauen und völlige Hingabe in ihn als Herrn und Meister unabdingbar seien, um sich und ihr ein einmaliges sexuelles Erlebnis zu gönnen? War sie denn nicht freiwillig gekommen, um sich in seine erfahrenen Hände zu begeben? Schließlich war er, Krassimir Bugovic, doch nur rein äußerlich der vom Außendiensmitarbeiter einer Staubsaugerfirma zum Hilfskellner avancierte akne-gesichtige niederwüchsige Mann, der von beiden Söhnen und seiner Frau wegen Vernachlässigung der ehelichen und Vaterpflichten aus der gemeinsamen Wohnung verjagt worden war. Innerlich war er der einfühlsame Frauenkenner und „Mann der Taten“, wie er sich im Chat nannte, der genau um die geheimen Lüste der Frauen wußte und sie ihnen völlig selbstlos mit seinen raffinierten Stimulationswerkzeugen, die er vorzugsweise in der Metallwarenabteilung eines Praktiker-Marktes erstand, bis über den Rand ihrer bisherigen Gefühls- und Erfahrungswelten zuteil werden ließ. Denn im tiefsten ihrer Körper, davon war Krassimir überzeugt, verlangte jede Frau nach ihrem starken Gebieter. Schon Nietzsche hatte die Peitsche beim Gang zum Weibe empfohlen. Und neben Konrad Duden galt einzig dieser Philosoph für Krassimir, der sich zutiefst seiner bulgarischen Herkunft schämte, als geistige Größe Deutschlands, wobei er beiden selbst ergebenst nachzueifern versuchte. Und waren bisher all seine Sklavinnen ihm nicht zutiefst ergeben und dankbar gewesen, wenn er sie nach Stunden der Lust aus ihren Fesseln und Ketten befreit hatte? Und hatten sie ihm nicht durchweg ihr Vertrauen geschenkt, indem keine von ihnen ihr gemeinsames Geheimnis verraten hatte? Alle Frauen, bis auf diese eine eingebildete Kuh von gestern, dessen war sich Krasssimir sicher, waren ihm, dem „Dom“ und seiner männlichen Ausstrahlung verfallen. Um so mehr begeisterten ihn nunmehr die Bilder einer nackten, sich zwischen zwei Männern, von denen einer sogar noch uniformiert war, windenden Frau. Diese beiden Kerle, so mußte Krassimir neidlos anerkennen, verstanden es, eine Frau angemessen zu behandeln. Im Gegensatz zu dem Kommentar des Journalisten, der diese Szene als empörend, menschenverachtend und frauenfeindlich schilderte, witterte Krassimir darin eher die Chance, daß sich anhand dieser Szene endlich die bisher von der breiten Öffentlichkeit eher ausgeschlossenen Sado-Maso-Anhänger mehr Beachtung verschaffen könnten. Wenn schon Tunten und Mannweiber heiraten dürfen, so forderte Krassimirs Gerechtigkeitssinn, dann sollten auch endlich die Beziehungen zwischen Doms und ihren Sklavinnen als normal gesellschaftsfähig angesehen werden können. Daß Molly Dusty darüber hinaus persönlich der Sprengung des Loches beiwohnen sollte, hatte doch schon mehr als nur Symbolcharakter, diente diese Naturaliendarstellerin doch nur allzu gern gleich mehreren Herren als willig-lüsterne „Dreilochstute“, wie Krassimir als Kenner von Hardcore-Videos nur allzu gut wußte. Wenn schon die Prominenz aus Politik und Wirtschaft diese Dame als ereignisbereichernde Begleitung betrachtete, dann war es, so folgerte Krassimir, nur recht und billig, wenn seine Chatfreunde aus den SM-Kreisen ebenso an diesem Ereignis teilnahmen. Wer weiß, vielleicht fand sich dabei auch die Gelegenheit, dieses vollbusige Miststück aus der Reportage einmal selbst ins hingebungsvolle Vertrauen zu ziehen. Ganz „Mann der Taten“ warf Krassimir seine Kellnerschürze auf den Tresen, schloß eigenmächtig die „Schäl Sigg“ für den Rest des Tages auf die Gefahr hin, fristlos gefeuert zu werden und begab sich schnurstracks an den PC seiner Anderthalb-Zimmer-Wohnung, um per Internet seine Bekannten in den einschlägigen AOL-Chaträumen zur Teilnahme an der Sprengung zu begeistern - Sklavinnen bitte an Hundeleinen mitzuführen.

Völlig anders als der kleine Bulgare reagierte Anne-Lore Rosenbutt auf die Erstausstrahlung der Bisamschen Reportage. Und dies nicht nur allein aufgrund ihrer Zugehörigkeit zum anderen Geschlecht. Schon rein äußerlich konnten die Unterschiede zwischen Krassimir und Anne-Lore kaum größer sein. Fiel Krassimir im Menschengedränge einer Fußgängerzone bestenfalls nur dann auf, wenn man während des Gehens konsequent auf seine Füße achtete, um nicht in Kaugummifladen, hochgezüchtete Bonsai-Wölfe und deren wie der ihrer Artverwandten Hinterlassenschaften oder eben in Krassimir zu treten, so war es eher unmöglich, Anne-Lore selbst übersehen zu wollen. Anne-Lore Rosenbutts Erscheinung ließ selbst hartgesottenste Spötter im Moment ihres Auftauchens lange für stille Augenblicke des Erstaunens verstummen. Anne-Lore war, rein vom Äußeren, eine Schönheit, die Inkarnation der perfekt modellierten Frau. Ihre Gliedmaßen waren wohlproportioniert, ihr Fleisch fest, das Gesicht freundlich, die Augen groß, faszinierend grau und ein wenig melancholisch, das lange blonde Haar voll und glänzend, ihr Busen wippte immer noch groß, straff und selbstbewußt bei jedem ihrer Schritte. Bereits aus der Ferne bot Anne-Lore einen erfreulichen Anblick am eher grauen Horizont durchschnittlich unscheinbarer Menschenmengen. Bei näherer Betrachtung jedoch wurde Anne-Lores Lebensproblem in eklatanter Weise offensichtlich. Nicht, daß an ihrer Schönheit bisher übersehene Makel augenfällig geworden wären, im Gegenteil: Anne-Lores venusartige Erscheinung wuchs mit jedem Schritt, der man sich ihr oder umgekehrt näherte .. und wuchs und wuchs ... bis sie in ihrem vollen Ausmaß von zwei Meter dreiundzwanzig Körperlänge über einem stand. Bei dieser imposanten Erscheinung ergriffen selbst die dreistesten Frauenhelden die Flucht, wenn sie Aug‘ in Brust, respektive Brust in Aug’, Anne-Lore gegenüberstanden. Mochten vielleicht einige wenige mutige Männer mit alpinen Ambitionen in Anne-Lores Körper ein lohnenswertes freeclimbing-Terrain vermuten und es daher gewagt haben, sie anzusprechen, so rafften sie spätestens dann ihre Trommelfellreste zusammen und retteten, was zu retten war. Anne-Lores süßliche Stimme erreichte mühelos auch bei morgendlichem Kater und starker Erkältung das doppelt gestrichene C, und dies in einer Lautstärke, die selbst Metallica-Bands bei Open-Air-Festivals aufgrund Lärmschutzbestimmungen und reinen Selbsterhaltungstriebes nie zu spielen wagten. Spätestens nach den ersten Ansätzen eines Small-talks mit Anne-Lore wägten auch die hormonell unter Höchstdruck stehenden Männer ab, ob es nicht gesünder wäre, die Lustschreie eines startenden Düsenjets zu ertragen oder nicht gleich die Freiheitsstatue zu besteigen als sich auf ein Schäferstündchen mit dieser kreischenden Übermasse Frau einzulassen. Und nur, weil Mutter Natur es etwas zu gut mit Anne-Lores Körper gemeint hatte, verkam sie in unbemannter Einsamkeit, aus der allmählich ein Haß auf alle Männer entwuchs, da diese offensichtlich allein nur passende Bettgespielinnen suchten und nicht das Herz einer sich nach Zärtlichkeit sehnenden Frau, geschweige denn den Menschen um es herum. Anne-Lore war Emanze. Indem ihr selbst eine Beziehung zu Männern vorenthalten wurde, glaubte sie um so deutlicher erkennen zu können, was die Männer wirklich mit ihren Geschlechtsgenossinnen anstellten. Da es ihr vergönnt gewesen war, nie als Sexobjekt betrachtet werden zu können, fühlte sie sich geradezu dazu verpflichtet, ihre artspezifischen Schwestern vor diesen sexistischen Monstern zu schützen. Im Laufe ihres jahrelangen Engagements um Aufklärung des männlichen Verhaltens, das sich allein auf Imponiergehabe, Machtlust, Sextrieb und Autowäsche stützt, hatte sie ein Gespür entwickelt, jede noch so unschuldige Äußerung aus einem Männermund als eine von seinem krankhaften Rollenverhalten gesteuerten Reflex haarkleinst zu analysieren und lautstark darzulegen. Die wenigen Männer also, die völlig vorurteilsfrei Anne-Lores Körpergröße zu übersehen imstande und auch hinter ihrer schrillen Stimme den Menschen zu hören bereit waren, ließen sich auf keine weiteren Begegnungen mit ihr ein, nachdem sie von Anne-Lore erfahren hatten, daß selbst die harmlose Feststellung, es sei doch schönes Wetter, aus männlichem Munde nichts weiter als eine dominant neandertalhafte Aufforderung zu plumpen Gerammele unter freiem Himmel sei und zutiefst die Gefühle einer selbstbewußten Frau verletze und sie zu einem reinen Lustobjekt degradiere. Männer, die einmal eine Diskussion mit Anne-Lore durchgefochten hatten, reagierten je nach Charakterstärke recht unterschiedlich. Entweder sie erklärten sie für total durchgeknallt, wendeten sich fortan Männern zu, oder erlernten die Gebärdensprache der Gehörlosen. In allen Fällen jedoch wagte es nie je eine Männerhand, Anne-Lore beruhigend zu streicheln und sie wissen zu lassen, daß wirklich kein Mann der Welt etwas für ihre Körpergröße könne, die in der Tat auf jeden Kerl, außer vielleicht Rübezahl, zunächst einschüchternd wirkte. Bei anderen Frauen jedoch, die aufgrund unterschiedlicher Ursachen ebenso ein männerloses Dasein fristeten, erfreuten sich Anne-Lores Thesen großer Beliebtheit, so daß sie recht bald zur Sprecherin einer Frauengruppe wurde, die sich selbst die „Emmazonen“ nannte, in ihren Aktionen gegen männliche Dominanz bisweilen kompromißlos vorging und angeblich selbst von den Hells Angels gefürchtet wurde. Anne-Lore erklärte die Ziele der Emmazonen nicht nur in für jederman(n) verblüffend simplen Zusammenhängen, die zu weitaus mehr verblüffenderen Erkenntnissen führten; um ihrer Gruppierung Gehör zu verschaffen, benötigte sie weder Podest noch Megaphon, so daß ihr die Rolle der Frontfrau der Emmazonen regelrecht auf den Leib geschrieben schien.

So beschritt Anne-Lore keine umständlichen Hirnwindungen als sie die Bisamsche Reportage sah, sondern nahm den Expreß-Gedankengang, der sie direkt zu einer Spontan-Demonstration der Emmazonen führte, um gegen den eklatant sexistischen Chauvinismus der durchweg männlichen Braunkohleabbau-Lobby zu protestieren. Zudem hatte sie der Anblick ihrer sich hilflos windenden Schwester derart erregt, daß sie sich beinahe wünschte, ebenso vergewaltigt zu werden, allein, damit ihr Haß auf die Männer darin Bestätigung fand. Nur allzu gern hätte sie sich als Ersatzopfer für Desideria angeboten, wenn sie damit weitere Schwestern vor ähnlichem Unheil hätte bewahren können. Doch diesen ihr selbst unheimlichen Gedanken verbat sie sich und schrie statt dessen telefonisch die Emmazonen zu einer Anti-Loch-Demonstration für den kommenden Tag zusammen.

Robert und Majo hatten unterdessen ihre Bierdosen geleert. Feldwebel Riefenstief hatte sich über Majos Händi rückgemeldet und mitgeteilt, Desideria Alphonsina Celeste Kniepkötter sei nach kurzer Vernehmung und mündlicher Verwarnung – da keine Anzeige wegen unbefugten Betretens eines Privatgeländes vorlag – von einem Fahrer des Bundesgrenzschutzes zu ihrer Wohnung gebracht worden. Majo ließ sich die Adresse geben. Kurz darauf war der Werkschutz erschienen, hatte die beiden von ihrer letzen Wacht an diesem Ort erlöst und sie bekletterten den störrischen VW-Kübel, der nunmehr auch eine seiner letzten Fahrten antreten sollte, so er nicht in einem der in Deutschland von der präschludniggschen Regierung neu in Mode lancierten Kriegsbeteiligungseinsätzen noch (formal) benötigt würde.

Weder Robert noch Majo warfen einen Blick zurück auf den letzten feierabendlichen Anblick ihrer bisherigen Arbeitsstätte. Mehr als der einsame Bürocontainer in einer weiten Ebene wäre ihnen auch kaum aufgefallen. Lediglich die V.I.P.-Tribüne war in den letzten Stunden zu ihrer Vollendung gewachsen und der Schaufelradbagger seinem Bestimmungsziel um einige hundert Meter näher gekommen. Über Nacht würde er pünktlich den Rand des zu erwartenden Sprengloches erreicht haben. Sonst hätte dieser letzte Blick auch nicht viel Sehenswertes geboten, einmal abgesehen von einem Schwarm Tauben, der seine gerade Flugbahn über dem Sprengfeld unterbrach, es im weiten Bogen umflog um alsdann die ursprüngliche Richtung mehr oder minder weiter geradlinig einzuhalten. Aber auch diese kleine Unregelmäßigkeit hatte sich derweilen seit Urzeiten schon oft genug zugetragen, daß sie an diesem Ort ein alltäglicher Anblick gewesen wäre – hätte ihr je jemand Aufmerksamkeit geschenkt.

Am Werktor angekommen, verabschiedeten sich Robert und Majo, ein kurzer Blickwechsel zwischen den Freunden genügte, um sie beide wissen zu lassen, daß sie lieber nicht weiter darüber nachdenken mochten, was der kommende Tag an Überraschungen für sie bieten würde. Während Robert seinen Audi bestieg und davonfuhr, zog Majo seine schwarze Lederkombi aus der Packtasche seiner Chopper, vervollständigte mit einem Helm das Outfit eines Astronauten, schwang sich in den Sattel und blubberte mit dem satten Geräusch von 1000 luftgekühlten Kubikzentimetern im Viervierteltakt davon. Obwohl sie beide in Dortmund wohnten und hätten eine Fahrgemeinschaft bilden können, zogen beide es vor, getrennt zu fahren. Robert waren Fahrzeuge mit nur zwei Rädern ebenso suspekt, wie Majo Automobile, die jünger als dreißig Jahre waren. Außerdem befand Majo ein Motorrad für das alltägliche Verkehrsgewühl im Rhein-Ruhr-Gebiet als ungemein wendiger und zeitsparender, was Robert eher mit „Straßen-Kamikaze“ ausdrückte. Dabei war Majo alles andere als der Raser-Typ, lediglich bei seinem Augenmaß, um Lücken zwischen sich überholenden LKW oder im Gegenverkehr auszumachen, stützte er sich vorzugsweise auf Einheiten, die wegen Platzmangels auf keinem herkömmlichen Lineal markiert waren. Als Majos Sozius tat man gut daran, die Augen geschlossen zu halten und den Glauben an Schutzengelheere, die Majo bisher erfolgreich verteidigend beigestanden hatten, gründlich runderneuern zu lassen. Robert mutmaßte bisweilen, wenn er Majo ihn und weitere Fahrzeuge im Berufsverkehr hakenschlagend überholen sah, daß Majo selbst auf diesen Rat baute – sehend würde kein Lebewesen der Welt sich derart zwischen sich bewegenden Tonnenlasten hindurchschlängeln, es sei denn, es glaubte felsenfest daran, dazu auserkoren zu sein, als Ketchup zu reinkarnieren.

Majo hatte sich, in Essen angekommen, an der erstbesten Tankstelle einen Stadtplan besorgt und Desiderias Wohnstraße ausfindig gemacht, sich den Weg von seinem Standort dorthin eingeprägt und stand binnen zehn Minuten vor Desiderias Haustür. Wie er der Klingelpalette des vierstöckigen Mehrfamilienhauses am Essener Stadtrand entnehmen konnte, wohnte Desideria im obersten Stockwerk des Nachkriegsgebäudes. Der Name Kniepkötter schien der einzige deutschstämmige inmitten der anderen sieben zu sein, die neben den Klingelknöpfen vermerkt waren. Wenige Sekunden nach Majos Klingeln ertönte der Türsummer, eine Gegensprechanlage gab es nicht. Nachdem Majo die acht Treppenabsätze, je zwei Stufen nehmend, emporgestiegen war, fand er Desiderias Wohnungstür nur angelehnt vor. Aus der Wohnung wich leichter, nach exotischen Gewürzen duftender Geruch eines Räucherstäbchens und gab dem eher nach abgestandenem Kohl riechenden Treppenhaus eine angenehme Note. Majo klopfte an die Tür.

»Ich bin in der Küche,« antwortete Desideria, was Majo als Aufforderung, die Wohnung zu betreten, deutete. Er schloß die Tür hinter sich, wobei durch den Luftzug ein metallenes Windspiel kurz aufklimperte und folgte einem mit Kellenschlag weiß verputzten Flur, an dessen Wänden geschnitzte Holzmasken afrikanischer wie ostasiatischer Herkunft hingen. Die zweite Tür rechts stand offen und führte in die Küche. Desideria stand vor dem Herd, den Rücken Majo zugewandt, in einen königsblauen Seidenkimono gehüllt und goß heißes Wasser aus einem Brühkessel in eine Teekanne.

»Setz Dich. Der Tee ist gleich fertig.«

Nur wenigen Menschen ist es vergönnt, in ihrem langen Dasein je den Augenblick zu erleben, in dem ihnen eine innere Stimme sagt: „Endlich heimgekommen!“. Nicht, daß diese Momente ebenso rar verteilt wären wie ein Sechser im Lotto plus Superzahl. Die meisten Menschen erleben diese Augenblicke innerster Übereinstimmung mit sich und der Welt einfach deswegen nicht, weil sie gedanklich mit ganz anderen Dingen beschäftigt sind. Entweder basteln sie an einem neuen Stützgerüst zum Aufbau dessen, was sie für eine Karriere halten, oder sie betrügen ihre Ehefrau mit einer Jüngeren, oder werfen gar ihren TV-Apparat aus dem Fenster, weil Deutschland aus der Fußball-Weltmeisterschaft rausgeflogen ist. Wieder andere sind ihr ganzes Leben damit beschäftigt, sich über die energische Gangart des Nachbarn schräg gegenüber zu ärgern oder die ganze Welt für das eigene Versagen verantwortlich zu machen. Die Mehrzahl der Menschheit indes hat schlichtweg gar keine Zeit dafür, diese Momente der Glückseligkeit bewußt zu erfassen, da sie allen anderen Dingen, die das Leben bieten könnte, nachrennen – um auch wirklich nichts zu verpassen. So wird es auch den vom Freizeitangebot gestreßten Menschen des angehenden 3. Jahrtausends zwischen all den wichtigen Händi-Anrufen, den dringend zu beantwortenden SMS-Nachrichten und Terminen im Fitneß-Center, im Golfclub und mit One-night-stands kaum zu vermitteln sein, daß sie ihr Leben lang stets zwar überall, aber nie Zuhause sein werden. Also sparen wir uns die langen Erklärungsversuche, überlassen wir Denen, die ihren eigenen unumstößlichen Ruhepol aufzuspüren in der Lage sind, ihr ganz privates inneres Glück und glauben einfach daran, daß Majo in den Augenblicken, in denen Desideria ihm mitteilte, der Tee sei gleich fertig, sich ihm dann lächelnd umwand und sagte, sie hätte ihn bereits erwartet und Majo nichts anderes sah als einen Wärme ausstrahlenden Blick aus zwei kobaltblauen Augen, die farblich bestens zu dem Seidenkimono harmonierten, der wiederum Desiderias Körperkonturen vortrefflich umschmeichelte und einen tiefen Einlick in ein ebenso tiefes Tal zwischen zwei anatom-geometrisch raffiniert spiegelbildlich perfekt abgestimmten Fleischkuppeln gewährte, der gemischte Duft aus ziehendem Tee und Räucherstäbchens dezent-exotisch die Sinne stimulierte und die gemütliche Atmosphäre einer kleinen Küche, deren Funktion zum überwiegenden Teil noch manuell zu erschließen war und aus einer Epoche stammte, in denen Resopal, PVC und Linoleum noch nicht einmal als Begriffe in den Köpfen derer Erfinder existierten, einzig und allein dieses Gemisch der Sinneseindrücke tief in sich einsog, eine neue Tür seiner Seele öffnete, sie mit „Zuhause“ beschilderte und ohne zu wissen warum, immer wieder gern zu betreten bereit war. Und während Majo sein eigenes inneres Ich um ein weiteres Zimmer anbauen spürte, erwiderte er ebenso ruhig den Blick Desiderias, nunmehr wissend, daß kein Universum in der Lage wäre, diesen Blickaustausch in irgend einer Weise zu irritieren. Nicht einmal ihre Augenlider wagten es, kurzfristig diesem langen Sehen und Erkennen von zwei Ichen zum Wir ihre Jalousien dazwischenzuschalten.

Und es sei es nur allzu selbstverständlich, wand sich Desideria nach drei Minuten der Teekanne zu, entfernte den Teesack und stellte die Kanne auf ein Stövchen, während Majo zwei Teeschalen und eine Zuckerdose mit braunem Kandis aus einem Wandregal auf den Tisch stellte, als sei diese Zeremonie schon tausende Male zwischen ihnen abgelaufen. Desideria füllte beide Teeschalen und setzte sich Majo gegenüber auf einen Stuhl, führte die Tasse zum Mund und blickte Majo über deren Rand erneut an. Majo füllte seinen Tee mit Kandis und lauschte kurz dem Knistern des sich auflösenden Zuckers.

»Ich habe die Wünschelrute ausprobiert.«

Desideria nickte kurz.

»Ich weiß ...«

Majo grinste.

»Ich wäre wohl kaum hier, wenn nicht.«

»Wirklich nicht?«

Majo beließ es bei einem verlegenen Lächeln als Antwort.

»Woher wußtest Du, daß da etwas unter der Erde steckt?«

Daisy hob erstaunt die Augenbrauen.

»Wieso unter?«

»Bei mir schlug die Rute nach unten aus.«

»Und wie erklärst DU Dir das?«

Majo zuckte mit den Acheln.

»Ich dachte zunächst an ein elektromagnetisches Feld aufgrund des dichten Zündkabelnetzes.«

»Daran denkst Du jetzt aber nicht mehr?«

»Es erklärt nicht, weswegen Du davon wußtest, aus rund hundertfünfzig Kilometern Entfernung, um genau dorthin zu fahren und es festzustellen.«

»Ich weiß nicht, was da ist.«

Majo stutzte.

»Aber ...«

»Ich weiß nur, DASS da etwas ist. Und daß es besser wäre, es so zu lassen, wie es ist. – Frag mich nicht, WARUM ich es weiß, ich weiß es.«

Nachdenklich trank Majo seinen Tee. Er wußte aus eigener Erfahrung, wie oft er aus reiner Intuition handelte, deren Ursachen er kaum zu erklären in der Lage wäre. Womöglich lag jedem Menschen eine Art sechster Sinn inne, Situationen und Dinge zu spüren, die knapp unterhalb eines verstandesgesteuerten Bewußtseins lagen. Hatte nicht sein eigener Drang, Unerklärliches zu erforschen, genau dort seinen Ursprung, weil sein eigener sechster Sinn ihn Dinge spüren ließ, denen er nachgehen wollte? Hatte ihn nicht genau das in die Küche Desiderias geführt? Nur: entkleidete er sich nun vor ihr und vollzog er ein religiös anmutendes Ritual?

»Und was ist mit dieser – ähm – Hingabe, dieser ekstatische – na ja – Zustand?«

Desideria blickte Majo tief in die Augen, öffnete ihren Kimono.

»Die Dinger haben mich am Werkschutz vorbei kommen lassen und mir auch Eure Beachtung geschenkt. – Hätte ich ohne diese kleine Show eine Chance gehabt, die Stelle zu betreten? – Du kannst doch auch nur offen sagen, was Du denkst, wenn Du in Deinen Dialekt verfällst. – Die Menschen wollen halt nur allzu oft ihre Denkschubladen bestätigt haben. Dann bin ich halt die spinnerte Esoterikerin. – Im übrigen danke für die Regenjacke, das fand ich sehr gentlemanlike.«

Majo schmunzelte.

»Touché!«

»Wie heißt Du eigentlich?«

»Thomas.«

Desideria lächelte.

»Thomas, ich fände es schön, würdest Du mich berühren wollen.«

Die Farbpalette menschlicher Begegnungen zaubert sekündlich neue Tupfer in die Welt und dennoch laufen immer noch genügend Menschen einander vorbei, ohne die selbe Farbe auf der Nasenspitze des Gegenübers wie auf der eigenen zu erkennen. Seit Menschengedenken ist das Phänomen der Liebe auf den ersten Blick bekannt, wie sich seit ebenso gleich langer Zeit Hirne darüber hartgrübeln, was denn die Liebe an sich sei. Und wenn sie dann einigermaßen grob umrissen werden kann, gibt es genügend moralische, soziale wie auch egoistische Bedenken, sie nicht zuzulassen, und wenn, dann nur mit langen Listen aller möglichen Einschränkungen, die von „was sollen denn die Nachbarn denken“ über „wenn das alle machten, wo kämen wir dann hin“ bis hin zu „Ich liebe Dich nur, wenn Du mir alle Freiheiten läßt“ alle Feigheitsnuancen menschlicher Natur beinhalten, die das sich bedingungslose Fallenlassen in ein Wir abbremsen wollen. Angesicht aller Gründe, die die Angst vor dem Du herbeizitiert, um dem Gegenüber nicht seelennackt gegenüber stehen zu wollen, ist es vielleicht gut so, daß derlei viele potentielle Lebenspartner aneinander vorbei laufen – sie würden sich wahrscheinlich eh nur ein Leben lang argwöhnend einander belauern und sich gegenseitig unterstellen, der jeweils andere erfülle das eigene Mißtrauen. Um so schöner ist es doch, zwei Menschen anzutreffen, die allein ihren inneren Stimmen zu folgen bereit sind und das „aber wir kennen uns doch noch gar nicht!“ mit einem „na und, dann lernen wir uns eben gleich richtig kennen!“ argumentativ ins Aus setzen.

Desideria und Majo begannen ihre körperliche Entdeckungsfahrt zunächst zaghaft.

Während wir die beiden ungestört ihren privaten sensitiven Erfahrungen überlassen, die ein intensiver Erstkontakt zweier sich noch fremder Häute, so deren Träger sich dieser als ihre größten Sinnesorgane bewusst sind, in lustvolle Grenzgebiete psychedelischer Entzückung entführt, die zu erkunden und nachzuempfinden dem Leser gefälligst selbst überlassen bleibt, gönnt sich der Autor an dieser Stelle eine Zigarettenpause, darüber sinnierend, wie um Teufels Willen er sich in eine beginnende Romanze eines seiner Protagonisten verstricken konnte, die überhaupt nicht geplant war ...

Es ist immer wieder erstaunlich mitanzusehen, wie allein aufgrund der weiblichen Anatomie, bei der Fett- und Drüsengewebe der Schwerkraft trotzend auf die richtigen Stellen verteilt sind, selbst die stoischsten Junggesellenhirne ihren Dienst versagen. Auch wenn diese weiblichen Rundungen noch textil verhüllt sind, setzt augenblicklich bei Männern das sogenannte Fleischerladen-Syndrom ein: Bevor irgendwer fragt, ob es noch ein wenig mehr davon sein dürfte, stammelt Mann ergebenst geifernd schon „Ja bitte!“, jeglichen Selbsterhaltungstrieb und letzten Funken an Stolz und Ehre negierend, augenblicklich bereit, sich selbst, all sein Hab und Gut inklusive aller positiven Zukunftsperspektiven unter Einschluß der eigenen Ehefrau und gemeinsamer Kinder von den Gipfeln dieser Fleischhügel in deren tiefste Täler zu stürzen, nur, um sich ein wenig seiner Körperflüssigkeit zu entledigen, wobei sich diese, so denn Mann diesen Sturz sich selbst im Spiegel wieder erkennend überlebt, oft genug als lebenslange Einzelhaft erweisen, aus der es nicht nur kein Entrinnen mehr gibt, sondern auch sonderbar schnell zu erudieren beginnen und sich die Gipfel der einst festen Hügel immer näher an deren Talsohlen heran nivellieren, während im ungefähr gleichen Tempo die einstigen Hügelträgerinnen sich als zänkische Foltermägde schwabbeliger Konsistenz entpuppen. Kaum aber, sollte es einem Mann je gelingen, aus dieser Lustfalle zu entfliehen, stürzt er sich in gleicher Weise, bar jeglichen Erinnerungsvermögens und erfolgreichen Lernprozesses, in 20 Jahre jüngere Fleischtäler. Hierfür zeichnen offenbar die selben Gene verantwortlich, die eine Stubenfliege beim Anblick eines Pfund Gehackten zum Kamikaze-Anflug auffordern. Offensichtlich hatte Kafka die Evolution besser begriffen als Darwin: Zumindest die Männer haben mit Insekten sehr weit mehr gemein, als bisher angenommen..

Majos sonst brillant funktionierendes und analytisch jedwede Situation erfassendes Hirn gönnte sich ebenfalls eine Pause und widmete sich allein der – wenn auch genussvollen – optischen Betrachtung der fleischlichen Kernschmelze, deren beider Betreiber einfach geschehen ließen, was immer mit ihnen geschah. Während Desideria, die ein urplötzliches Nachholbedürfnis aufgrund ihrer bisherigen Entsagung verspürte, quasi im Eiltempo Erfahrungen sammelte, bei denen selbst der Verfasser des Kamasutra in Schamesröte versunken wäre und sie allmählich begriff, die nun wirkliche Wünschelrute ihres Lebens gefunden zu haben, hätte Majo, wenn denn sein Hirn dazu bereit gewesen wäre, lange in den Annalen zurückblättern müssen, um sich zu erinnern, wann er bei einer Frau so oft, so kurz hintereinander, so ergiebig und vor allem so bereitwillig gekommen war.

Irgendwie, wahrscheinlich mittels eines jäh auftretenden Wurmloches, zumindest konnten sich beide nicht mehr daran erinnern, war es ihnen gelungen, aus dieser innigen nackten Körperverschlingung heraus aus Desiderias Küche in eine weitere in Majos Eisenbahnwaggon zu gelangen. Mittlerweile befanden sie sich in jener Phase der sexuellen Ekstase, in der der Körper schon erhebliche Erschöpfungssymptome signalisiert, aber derart aufgeputscht durch freigesetzte körpereigene Drogen, die alberne Seite des Geschlechtsverkehrs dominieren läßt. Desideria, noch immer mit Majos Rute experimentierend, bat Majos besondere Muse für eine neue Saxophon-Komposition sein zu dürfen. Majo war nur allzu gern bereit, Desideria dies ganz spezielle „Ständchen“ zu widmen. Auch wenn die daraus entstandene Improvisation selbst dem hartgesottensten Free-Jazz-Liebhaber bis dato tabuisierte Tonfolgen gelehrt hätte, da vom harmonischen Aspekt eher .. nun ja ... von zu vielen Kieksern durchzogen, so doch von der körperlichen Perfomance recht originell vorgetragen, beschlossen Desideria und Majo, der feierlich als „Twice Blow-Blues“ getauften Komposition in Zukunft noch weitere Variationen hinzuzufügen, an denen sie noch eifrig üben wollten, bevor sie letztendlich dann doch völlig erschöpft in Löffelchen-Stellung vereinigt einschliefen.

Während Majo und Desideria zumindest um Glissando und Adagio bemüht waren, stand Roberts und Sonjas gemeinsame Nacht eindeutig unter dem Einfluß eines Allegro furioso, dirigiert von Sonjas Kümmern um Robert.

Den Kopf voller düsterer Vorahnungen hatte Robert seine Wohnung erreicht, wäre am liebsten sofort ins Bett gekrochen, um den kommenden Tag zu verschlafen oder sonstwie sich der Sprengung zu entziehen. War die Erkenntnis, im schlimmsten Falle das Sechsfache an Sprengwirkung zu erreichen, schon beunruhigend genug, wusste Robert weder Desiderias mysteriöses Gastspiel noch Sonjas Geständnis, völlig unbrauchbare Laborwerte erhalten zu haben, einzuordnen. Was Robert aber vollends die Sprengung fürchten ließ, war Majos seltsame Entdeckung im Sprengfeld, die er weder ihm, noch Sonja auch nur halbwegs verständlich vermitteln konnte. Wenn Robert in seinen letzten Jahren eine blind verlässliche Größe gefunden hatte, dann war es Majo gewesen. Und ausgerechnet diese Inkarnation der vorausschauenden Gelassenheit wollte mit einem Stück Draht völlig aus dem Häuschen Etwas demonstrieren, was Robert auch nur zu Erahnen nicht gelingen wollte. Dies konnte nichts Gutes verheißen. Sonjas Ankündigung, ihn während des Abends aufzusuchen, völlig aus seinen dunklen Gedanken verdrängt, entkleidete Robert sich, schnappte sich eine noch ungeöffnete Flasche Whiskey aus dem Barfach seines Wohnzimmerschrankes, legte eine CD der Dire Straits auf, bestieg die Dusche und zelebrierte den Auftakt eines rituellen Interimhirntodes.

Das noch nicht völlig betäubte Gehör Roberts sendete die Botschaft „An der Wohnungstür klingelt es“ mehrmals vergeblich an die cognitive Zentrale des Hirns, die sich bereits das Freischwimmer-Abzeichen im Glennfiddich-Pool erkämpfte. Irgendeine noch halbwegs auf Autopilot geschaltete Motorik ließ den mittlerweile krebsrot unter heißem Wasser angelaufenen und in nichts als verschrumpelte Haut gekleideten Robert triefnass quer durch die Wohnung torkelnd tapsen, die Tür öffnen, angestrengt die Augen fokussieren, Sonja und ihre eineiige, ihm bis dato unbekannte, Zwillingsschwester erkennen, überrascht „Hallo, Ihr beinn Süsssn!, Lussss auf einn kleinn Dreier?“ lallen und jäh eingenickt gegen Sonjas Brust plumpsen, an der er abwärts, allein abgebremst durch die Reibung des Gesichtes an Sonjas Körper, wie ein recht toter und nackter, nasser, schlaffer Sack zu Boden und zu Sonjas Füßen glitt.

„Da trifft was Dein Gesicht.“

„Laß mich in Ruhe.“

„Und es rauscht!“

„... Rauscht?“

„Ja, klingt irgendwie nach Brandung oder Fernseher ohne Empfang.“

„Egal, laß es rauschen.“

„Und naß ist es auch.“

„Ist mir auch wurscht, ich will sterben, meinetwegen auch naß!“

„Und kalt ist es!“

„Kalt?“

„Saukalt!“

„ ...?“

„Beschissen eiskalt, sag ich Dir: scheißkalt!“

Gleichzeitig prustend, bibbernd, Wasser spuckend und den Kopf schüttelnd erwachte Roberts in der Duschwanne zusammengekauerter Körper. Reflexartig wehrte er mit den Armen den eiskalten Wasserstrahl ab, der eigenartigerweise nicht von oben, sondern seitlich seinen Kopf traf. Kurz darauf ließ der Strahl von ihm ab und traf die Wanne knapp neben seinen Füßen. Robert wischte sich das Wasser aus den Augen und erblinzelte schemenhaft Sonjas Gestalt, diesmal solo, in ihrer Rechten den Duschkopf haltend, den linken Arm im majestätischen Winkel in die Hüfte gestemmt.

»Wo kommst Du denn her?«

Als Antwort erhielt Robert erneut einen Schwall kalten Wassers im Gesicht, den er mit der Rechten abzuwehren versuchte.

»Scheiße, was soll das?«

Stumm senkte Sonja den Brausekopf, zauberte von irgendwoher ein Wasserglas und reichte es Robert.

»Trink!«

Verständnislos, jedoch Sonjas Befehlston gehorchend, nahm Robert das Glas in Empfang, setzte es an die Lippen, nahm einen Schluck, erwachte binnen Millisekunden jäh zu einer Rakete, schoß aus der Duschkabine hinaus an Sonja vorbei zur Toilette und übergab außer dem soeben genommenen Schluck Salzwasser auch den Rest seines Mageninhaltes der bewährten Abwasserentsorgung der Dortmunder Stadtwerke in gekrümmt würgender Haltung. Sonja stellte den Wasserfluß ein, hängte den Brausekopf zurück an seinen angestammten Platz und beobachtete Roberts reziprokes Besäufnis eisigen Blicks mit verkniffenen Lippen, die etwas in spöttische Schieflage gerieten, als sie Roberts Männlichkeit, die unter dem eiskalten Wasser Shrimpsstatur eingenommen hatte, tapfer aber winzig unter den Kontraktionen von Roberts Bauchdecke hervorstehend, gewahr wurde.

Robert hatte sich endlich gründlich ausgekotzt und bediente erschöpft die Toilettenspülung, atmete, sich an der Wand abstützend, mehrmals tief durch.

»ZiehdirwasanundkommdannindieKücheichhabstrakenKaffeeaufgesetzt«, warf Sonja Robert ein Handtuch in den Rücken und verließ das Badezimmer.

Es gibt Situationen, in denen ein Mann es vermeiden sollte, Aug’ in Aug’ einer Frau gegenüberzutreten, um auch nur eine geringe Chance zu erheischen, von ihr respektiert zu werden. Volltrunken nackt, beziehungsweise nackt und sich übergebend, sind zwei dieser zu vermeidenden Situationen. (Sich in flagranti von der von der Geliebten mit einer anderen Frau erwischen zu lassen, und sich dann herausreden wollen mit: „Guck mal Schatz, mir wird gerade was beigebracht, was wir unbedingt auch mal ausprobieren sollten“, zeugt zwar von einer gewissen Originalität, gehört aber auch zu den eindeutig zu vermeidenden Situationen.) Jede andere normalsterbliche Frau hätte Robert nach diesem doppelten Faux-pas sich selbst und seinem Schicksal überlassen, nicht einmal eine begleitende stumme Komparsenrolle dieser tragischen Figur in Erwägung ziehend. Sonja jedoch handelte gemäß ihrer ureigenen Natur, nun war sie unverrückbar fest davon überzeugt, daß nur sie allein noch Robert aus seinem Lebenssumpf herausziehen konnte.

Während Robert sich abtrocknete, mit um die Hüften geschlungenem Handtuch ins Schlafzimmer tappte, sich dort Boxershorts und Bademantel überstreifte, versuchte er, das Geschehen zwischen letztem erinnerlichen Schluck aus der Whiskeyflasche und Sonjas Auftauchen im Badezimmer zu rekonstruieren. Wie konnte sie nur in die Wohnung gelangt sein? Noch war ihre Freundschaft nicht so gefestigt, daß er ihr den Wohnungsschlüssel überlassen hätte. Echote da nicht irgendwo in seinem Kopf ein leises Klingeln? Hm ... Auf dem Weg vom Schlafzimmer über den Flur in die Küche trat sein nackter Fuß auf eine nasse Stelle im Teppich. Oh nein! – Hatte er selbst die Wohnungstür geöffnet, angetrunken, duschnaß und in Roberts-kostüm? Und dann ...? Äußerst schlechten Gewissens schlich er in die Küche und füllte mit diesem Verhalten den absoluten Spitzenplatz der vermeidenden Situationen gegenüber einer Frau aus: Trete ihr nie reuevoll gegenüber! Dies wird Dir mindestens ein Leben lang vorgehalten werden.

Sonja taxierte schweigend vom Küchentisch aus Roberts Erscheinen. Na immerhin, das aufrechte Gehen schien er einigermaßen wieder beherrschen zu können. Mit einem Nicken forderte sie ihn auf, ebenfalls am Küchentisch Platz zu nehmen und goß ihm heiß dampfenden Kaffe aus einer Kanne in eine bereitgestellte Tasse. Robert setzte sich, kratzte sich an der Schläfe.

»Kann es sein, daß ich ...?«

»TrinkerstmaleinenSchluckundnimmdashier.«

Sonja schubste ihm eine Blisterpackung Aspirin-Tabletten über den Tisch zu. Skeptisch betrachtete Robert die Kaffeetasse.

»Ohne Salz?« fragte er zaghaft.

»OhneSalzundZuckeraberdasEinesageichDirgleichdasnächsteMalschläfstdudeinenRauschimTreppenhausaus.«

»Erspare mir bitte die Details, trotz Filmriß.«

Vorsichtig nippte Robert an seinem Kaffee, fürchtend, ihn sofort wieder ausspeien zu müssen. Doch wider Erwarten akzeptierte Roberts Magen, wenn auch mit leichtem Grollen, die heißflüssige Koffeinzufuhr.

»WasinallerWelthatdichdazuveranlaßtausgerechnetheutedichzubesaufen.«

Roberts Sprachorgane setzten bereits zum „Wann denn sonst, wenn nicht ausgerechnet heute?“ an, sein Hirn leitete es jedoch auf die Nebenstraße »Ich hab’ einfach Schiß vor morgen.« um, auf der weniger Gegenverkehr aus Sonjas Mund zu erwarten war.

»Wenn Du meinst, daß es in einem Fiasko enden könnte, dann blase die Sprengung einfach ab.«

Sonjas starker Drang des Kümmerns hatte einen mütterlichen Tonfall angenommen, der keine Hochgeschwindigkeitsphonetik mehr zuließ.

Robert schnaubte auf.

»Mit welcher Begründung? – Abgesehen davon, daß wir das heute schon alles durchgekaut hatten?«

»Daß du im letzten Moment doch noch einen Fehler in deinen Berechnungen gefunden hast.. – Und, um einer eventuellen Gefahr vorzubeugen, du alles noch einmal berechnen mußt.«

Robert nahm einen weiteren Schluck Kaffee, allmählich begannen seine Geister, sich wiederzubeleben.

»Das kauft mir niemand ab. Immerhin handelt es sich nicht um einen Raketenstart.«

»Könnte aber einer werden, wenn auch in umgekehrter Richtung..«

»Genau das ist doch der Punkt: Könnte! Ich habe absolut nichts Genaues in der Hand. – Und glaube mir, sobald ich einen Fehler eingestehe, wird van Strahlen schon dafür sorgen, daß mir bei der zweiten Berechnung ständig jemand über die Schulter schaut. Dann kann ich sofort einpacken – und du auch, mit deinen nicht vorhandenen Messwerten.«

Sonja fischte aus ihrer Handtasche Zigarettenetui und Feuerzeug.

»Dann können wir nur inständig beten, daß morgen nichts schief läuft – wenn doch, sollten wir schon eine Ausrede parat haben.«

Robert entging völlig, daß Sonja mittlerweile im Plural sprach.

»Und welche?«

Sonja zündete sich eine Zigarette an, inhalierte kurz und blies den Rauch mit erhobenem Kinn gen Küchendecke.

»Sabotageakt, zum Beispiel.«

»Und wer, bitteschön, soll es gewesen sein?«

»Na, wer wohl, nach seinem Benehmen heute während der Pressekonferenz und auf dem Sprenggelände?»

Sonja nahm einen tiefen Zug Nikotin und blickte ebenso tief in Roberts Augen. Robert stutzte einen Moment, erschrak und wies das Ungesagte sodann sofort empört von sich,

»Sonja, nein! Das hatten wir bereits geklärt. Ich opfere nicht meinen besten Freund UND Geschäftspartner, nur um meine eigene Haut zu retten!«

»War ja nur eine Idee - aber er würde passen.« insistierte Sonja ruhig.

Der einzige Unterschied zwischen Mensch und seinen Mittieren besteht darin, daß allein nur er die Fähigkeit besitzt, Sündenböcke zu kreieren. Während die in sozialen Gruppen lebenden Tiere trotz aller Rang- und Hackordnung eine vergleichsweise hohe Toleranzschwelle gegenüber individuellen Verhaltens ihrer Artgenossen besitzen, ja sogar artfremde Waisenkinder – so sie nicht gerade ein Glied der unteren Nahrungskette darstellen - hegend und pflegend in ihre eigenen Reihen aufnehmen, zeigt sich Mensch zeit seiner Existenz im höchsten Maße intolerant und feige. In nur den seltensten Fällen, wenn eine Angelegenheit schief läuft, oder innerhalb einer Gruppierung ein Komplott auffliegt, wird der wirklich Schuldige zur Verantwortung gezogen. Sofort wird der Verdacht auf jemand anderen gelenkt, der in der Regel der Unschuldigste von allen ist.. Entweder, er befindet sich in einer ethnischen Minderheit, trägt die falsche Frisur, eine krumme Nase oder übergroße Schuhe, oder stottert, bzw. lacht nicht über derbe Witze unterhalb der Gürtellinie und glaubt nicht wie all die anderen an den Osterhasen, bzw, irgendwelche anderen parallelen Geistesweltinstanzen, sprich, derjenige, der sich von der Uniformiertheit der Mehrheit abhebt, wird als der Schuldige geopfert, um genau diese zu wahren. Daß dies genau dem Evolutionsprinzip einer Weiterentwicklung entgegenwirkt und letzthin zu einer starren Konformität führt, die nur in einem Massensuizid enden kann, in dem die Menschheit letztendlich an sich selbst erstickt, darf als Erkenntnis in einer Welt des globalen Gleichschaltungswahns nicht mehr erwähnt werden – es sei denn, man erklärt sich freiwillig bereit, oben geschilderte Sündenbockrolle in aller Konsequenz einzunehmen. In diesem Fall wäre der Aufklärer der Schuldige – ein immerwährender Teufelskreis also, die sich ewig in den eigenen Schwanz beißende Schlange, die nur dann und wann durch einen kurzen Schluckauf einer Revolution sich aus ihrer Selbstverschlingung löst, um alsdann doch sofort wieder nach dem eigenen Hinterteil zu schnappen. Kein Wunder also, daß die Tierwelt dem Mensch den Vogel zeigt, diesen argwöhnisch scheut und freudig sich selbst weiter im Verborgenen evolutioniert[3], darauf wartend, daß der letzte Mensch sich an sich selbst verschluckt..

Sonja war alles andere als bereit, Majos Loyalität zu Robert, respektive umgekehrt, zu akzeptieren, insbesondere aus zwei Gründen nicht. Zum Einen durfte nicht auffliegen, daß sie Robert und Majo mit nur geschätzten Daten versorgt hatte, nach denen diese ihre Sprengladungen berechnet hatten, daher mußte sie zumindest einen der beiden auf ihrer Seite wissen, und da schied Majo wegen gegenseitiger Antipathie aus, zum Anderen besaß sie schon allein das biologische Vorrecht gegenüber Majo, mit Robert zu schlafen – und somit diesen willig zu machen. Daraus lernen wir, daß der Herr im Haus nur so lange etwas zu sagen hat, solange er nicht mit der Dame im Bett liiert ist. Oder, wie eine Friederike Nietzsche es ausdrücken würde: Gehst Du zu dem Manne, vergiß das kleine Schwarze nicht.

Doch Roberts körperliche wie auch geistige Verfassung war an jenem Abend kaum für die Integration weiblicher Reizpräambeln konstituiert, wie auch dessen rein natürlicher Fortpflanzungstrieb bestenfalls mit in-vitro-Zeugungen von Aspirinbrausewasser gerade noch so im Leerlauf aufrecht erhalten werden konnte.

Sonja wäre jedoch nicht Sonja gewesen, wenn sie deswegen Roberts ladehemmende Flinte ins Korn geworfen hätte – zumal die Ladehemmung aufgrund destillierten Roggens vorübergehender, respektive durchhängender Natur war. Sonja nutzte vielmehr die Gelegenheit, Roberts Wohnung prüfenden Blickes zu inspizieren. Auch wenn sie es mißbilligte, daß eine Mietswohnung für einen Diplom-Ingenieur standesgemäß sei, so mußte sie doch eingestehen, daß die Wahl der Möbel wie auch der Zustand der Wohnung eher dem Klischee einer Junggesellenbude widersprach. Zumindest erschienen die Möbel als – wenn auch nach rein funktionellen Aspekten gewählt - neueren Kaufdatums höherer Preisklasse und stilistisch zueinander passend adrett arrangiert. Allein die Küche verriet eine gewisse Verliebtheit in elektrische Geräte seitens eines entweder technikbesessenen Besitzers oder eines völlig unbegabten Kochs, der mehr der Funktionalität von Brotschneidemaschine, Eierkocher, elektrischer Zitronenpresse, elektrischem Dosenöffner und Kartoffelschälmaschine vertraute als den eigenen Händen. Ebenso im Wohnzimmer fand sich ein zeitgenössisches Denkmal an Hi-Tech in Form eines kombinierten TV- und Stereoanlagen-Turms mit zwei imposanten Lautsprechertürmen, die vage an das World-Trade-Center erinnerten, boten die doch einen markanten Blickfang in der skyline der sonst eher flach gehaltenen Möbel. Daß diese Schalltürme kaum je genutzt wurden, Roberts Sammlung an CDs und DVDs erreichte nicht einmal die Quote an Lebensjahren ihres Besitzers, entging selbst Sonjas musternden Blicken. Auch das Fehlen eines Bücherschrankes entging Sonjas Inspektion. Ebenso wie Robert leistete sie sich selbst die spärliche Pflichtlektüre eines Bücherclubs, dessen gebundene Ausgaben die Clubmitglieder eher an die

Abnahmeverpflichtung banden als wirklich zum Lesen fesselten. Als ebenso geilgeiziges Zugeständnis gegenüber den gestalterischen Künsten erwiesen sich die beiden im Wohnzimmer unter rahmenlosen Bildhaltern halogenpunktbestrahlten Bilder an den sonst nackten weißen Rauhfasertapeten. Das imposantere zeigte eine Fotoreproduktion einer bei Sonnenuntergang aufgenommenen Meeresbucht mit Blick aufs Meer, dessen Horizont von einigen aus dem Wasser ragenden bizarr geformten Felsnadeln zerklüftet war. Das zweite Bild zeigte eine Grafik eines unbekannten Künstlers, der mit spärlichen, trockenfarbigen schwarzen Pinselstrichen das Gesichtsporträt einer jungen Frau auf Plakatkarton gezaubert hatte. Entsprach der Stil der Zeichnung dem Comic, strahlte der intensive Blick der Augen eine geradezu fotosurrealistische Lebendigkeit aus. Hätte Sonja gewußt, daß dieses Bild entstanden war, als Majo die Farbreste aus seinem Pinsel abstreichen wollte und Robert es vor dem Altpapiercontainer gerettet hatte, hätte sie ihre eigene Faszination von dieser Grafik weit von sich gewiesen.

Eine cremeweiße lederne Sitzlandschaft, hufeisenförmig um einen gläsernen Couchtisch drapiert, terrakottafarbener Veloursteppich, farblich passend zu den Stores, die perlweiße Gardinen umrahmten und die halbhohen Eichenholzkommoden komplettierten die postmodern museale Sterilität einer Möbelkatalogwohnlandschaft, auf deren Bildern bezeichnenderweise das einzig lebendige Element: deren Bewohner, nie zu sehen waren. Doch als Kind ihrer Zeit übersah auch Sonja das Fehlen jeglicher persönlicher Individualität in Roberts Wohnung und konstatierte lediglich die durchaus positive Ordnung wie auch Sauberkeit von Roberts Feierab-- und Wochenendschließfach.

Nach diesem erstmaligen Kontrollgang, der Sonja noch davon abhielt, diverse Schubladen zu öffnen, oder gar das Schlafzimmer zu inspizieren, kehrte sie in die Küche zurück, befand Robert für regeneriert genug, ihn zu einer Einladung zu einem Essen in einem Restaurant aufzufordern, schließlich hatte es sie selbst auch gehörig Energie gekostet, seinen leblosen Körper vom Treppenflur in die Duschwanne zu zerren. Vielleicht auch würde er durch das gemeinsame Essen dann doch noch gestärkt genug für gemeinsam geteilte körperliche Aktivitäten sein.

Majo wachte jäh auf. Ein beunruhigender Gedanke hatte seinen Desiderias Körper zärtlich umschlingenden Schlaf völlig ignoriert, sich derweilen ausgeformt und dazu entschlossen, einen Warnschuß an Adrenalin auszulösen, der auch Majos restlichen Denkapparat in Alarmzustand weckte. Majo entschied sich, sich sanft aus der körperlichen Innigkeit mit Desideria zu lösen, ohne auch sie zu wecken und diesem Gedanken aufmerksam bei einer Zigarette und einem Glas Tee zu lauschen. Majos „Warum“ hatte erneut um Aufmerksamkeit gebeten, daran erinnert, daß er ursprünglich Kontakt mit Desideria aufgenommen hatte, um in Erfahrung zu bringen, was es mit dem Drahtbügel-Phänomen auf sich hatte. Und nun, nachdem diese Geschichte ihr rein kommerzielles Muß an sexuellem Inhalt erfüllt hatte, war erneut der Detektiv Majo gefragt. Wieso hatte van Strahlen unerbittlich darauf gepocht, die V.I.P.-Tribüne in hundertfünfzig Metern Entfernung von dem zu erwartendem Kraterrand der Sprengung aufzubauen? Van Strahlens ausgewiesene Sicherheitsparanoia hin, dessen gleichzeitige Mediengeilheit her, eine Zuschauertribüne, die in diesem Abstand zum Ort des Geschehens errichtet war, stellte einen Widerspruch in sich dar. Trotz aller Versicherungen Roberts, wie auch von ihm selbst, außerhalb des Sprengradius bestünde nicht die geringste Gefahr einer Verletzung, hatte van Strahlen die Positionierung der Beobachtungsränge nach seinem Willen durchgesetzt. Auch wenn sich dies nach den letzten Erkenntnissen der zu befürchtenden Sprengwirkung als eine weise Entscheidung herausstellen sollte – aus welchem Einblickwinkel sollte van Strahlen diese Voraussicht entnommen haben? Hubert van Strahlen war ein durch und durch nach vorgegebenen Fakten handelnder wie auch funktionierender Mensch, der einzig durch laufende Fernsehkameras zu spontanem Tun zu verführen war. Intuitiv handelnd war er mit Sicherheit nicht, schon gar nicht in Sicherheitsfragen. Van Strahlens selbst für seine Verhältnisse übertriebene Distanz zwischen Sprenggebiet und Publikumsrängen gehörte ebenso hinterfragt wie Desiderias Gespür für eine Anomalie innerhalb der Sprengzone, die auch durch Sonjas Laborwerte der Bohrkerne bestätigt wurde wie auch das eigentümliche Verhalten des Drahtbügels in Desiderias wie auch seinen eigenen Händen.

Im völligen Dunkel des Küchenbereiches seiner umgebauten Eisenbahnwaggons sinnierte Majo teeschlürfend vor sich hin. Nur vage nahm er Desiderias Schatten wahr, der sich ihm näherte. Er spürte ihre Hand über seinen Kopf streichen.

»Ist das die berüchtigte Zigarette danach?«

»Datt is schon eher datt Glimmen eina Zündschnur eina unkontrollierten Bombe. Habe ich dich geweckt?» wechselte Majo wieder ins Hochdeutsche.

»Du nicht, aber das Fehlen deiner Umarmung. Was trinkst du da?«

Bevor Majo antworten konnte, probierte Desideria einen Schluck aus dessen Tasse.

»Hm, lecker. Was ist das?«

»Gripstee, spült die Hirnzellen frei, hilft gegen Kopfschmerz, Erkältung und Bronchitis und hält die Blase sauber. Besteht aus Ingwer und Zitronengras«

»Als Verhütungsmittel taugt es zufälligerweise nicht?«

»Post coitem wahrscheinlich nicht. ... Ups! ... Sollte ich dich etwas Wichtiges zu fragen vergessen haben?«

»Nö, auch wenn mein Vorname blöd klingt, wenn es eine Sie werden sollte, dann wäre sie auch gewünscht.«

»Sicher?«

»Sicher!«

»Dann sei es so. Zumindest das wäre geklärt.«

»Und was treibt sonst den potentiellen Vater unserer gemeinsamen Frucht aus der Liebeshöhle?«

»Besprechen wir das weiter unter der Bettdecke, wird allmählich kalt hier.«

»Nur, wenn ich auch eine Tasse Gripstee bekomme.«

Die beiden machten es sich erneut in Majos ausladendem Futon gemütlich.

[1] Diesen philosophischen Anflug Majos sollten wir uns bis zum Ende dieses Buches als Gedächtnisstütze zwischen zwei Synapsen des Hypothalamus klemmen – am besten gleich neben die bereits vergilbten Notizen „Müll rausbringen“, „Einkommenssteuererklärung nachreichen“ und „Unbedingt mal hemmunglosen Sex haben wollen“ - also jene drei genetischen unabdingbaren Bausteine einer jeglich menschlichen Daseinsberechtigung die zu oft völlig vernachlässigt im Stammhirn vor sich hingammeln. - Nicht zu verwechseln mit den zwei genetischen Bausteinen, die uns vom Affen unterscheiden: unseren befellten Verwandten ist das Finanzamt ziemlich egal, wie sie auch jederzeit an beliebigen Plätzen hemmungslos miteinander kopulieren. Wir hingegen haben zusätzlich (lediglich!) den Willen dazu, wie auch die Fähigkeit des Betens, die wiederum dazu dient a) besagten Sex herbeizureden und b) dem persönlich bearbeitenden Finanzbeamten den Tod zu wünschen.

Andernfalls erinnert auch ein gelegentlicher Blick durchs bei LIDL und ALDI handesüblich erhältliche häusliche Elektronenrastermiskroskop, daß zwischen den Molekularverbindungen egal ob von organischer oder nicht-organischer Materie ein erheblicher Anteil von Nichts den Raum ausfüllt. Allerdings bewegen sich um diese Nichtse von Atomkernen noch viel winzigere Nichtse von Elekronen dermaßen verdammt schnell, daß sie erfolgreich den Schein einer stabilen und undurchdringlichen Masse wahren. Folglich ist es nur eine Frage der Geschwindigkeit der einzelnen Elektronen, die den jeweiligen Körpern Form und Struktur geben. – Wer also schnell genug laufen kann, für den stellen Mauern absolut kein Hindernis dar, es gilt, lediglich den richtigen Augenblick zu erwischen, in denen die Elektronen einer Betonwand und die des eigenen Körpers nicht den selben Platz einnehmen. (Der Klügere bewegt sich in diesem Beispiel lediglich einen Schritt zur Seite, bevor er Anlauf nimmt)

Dieses grundlegende physikalische Prinzip machen sich insbesondere Finanzminister aller Länder zu nutze. Staatsschulden, sprich: Löcher aus nicht vorhandenem Geld werden allein durch rasanten Transfer ebenfalls real nicht vorhandener Finanzen derart gedeckelt, dass sich durchaus solide darauf ausruhend regieren läßt. (Einem Gummiband ähnlich aber leiert auch die solideste Finanzdeckelung durch zu schnellen Transfer irgendwann einmal aus und komplette Staaten stürzen unweigerlich in die sich dann jäh auftuenden monetären Löcher. Um den zornigen Gott des Mo-Lochs zu besänftigen und sich selbst an der Regierung zu halten, werden dann oft Steuerzahler geopfert, an das Loch geführt und hineingestoßen.)

Auch die Tatsache, dass Physiker selbst im Zusammenhang allerdichtest zusammengedrängter Materie immer noch von einem schwarzen LOCH reden, sollte uns zu denken geben.

[2] Die jüngste historische Europarand-Notiz: Der Kosovo!

[3] Während die Fauna im Jahresdurchschnitt drei neue Arten kreiert, sind selbst mittlerweile den menschlichen Modeschöpfern und Designern die Ideen ausgegangen. Einzig die neue Wortkreation „stylisch“ soll kalten Kaffee als ultraheiße Ware vorgaukeln.