Text von Tobias J. Hauke, Volker Herzig und Julian Kamzol & Abbildungen von Tobias J. Hauke
Chromatogramm, das aus einer Auftrennung eines Vogelspinnengifts mittels Hochleistungsflüssigkeitschromatographie (HPLC) an einer Umkehrphase resultiert. Die gestrichelte Linie zeigt den Gradient der Fließmittelkomponente B (hoher organischer Anteil), die durchgezogene Linie das Signal des UV-Detektors. Die Anzahl der Peaks im Chromatogramm deutet die komplexe Zusammensetzung des Vogelspinnengifts an.
Giftzusammensetzung
Spinnengifte sind komplexe Cocktails aus hunderten bis tausenden chemischen Molekülen. Darunter sind Verbindungen mit geringerer molekularer Masse, wie beispielsweise Salze, Amine oder Aminosäuren, bis hin zu großen Proteinen oder Enzymen. Hauptbestandteil der meisten Spinnengifte sind allerdings Verbindungen im mittleren Massenbereich (etwa 1– 10 kDa), sogenannte Peptide. Über 1.000 dieser Verbindungen konnten bereits im Gift einer einzigen Spinnenart nachgewiesen werden (Palagi et al., 2013). Darunter spielen wiederum vor allem solche Peptide eine besondere Rolle, welche reich an Cysteinen (= bestimmte Aminosäuren) sind. Diese Cysteine ermöglichen eine Quervernetzung der ansonsten kettenförmig angeordneten Moleküle, was den Peptiden eine gewisse Stabilität und eine bestimmte räumliche Struktur verleiht. Derartige „Cystein-reiche“ Peptide wirken vor allem an Ionenkanälen (Kuhn-Nentwig et al., 2011). Geladene Teilchen können die Zellmembranen, die das Zellinnere vom äußeren Extrazellulärraum abschirmen, in der Regel nur durch bestimmte Poren, den Ionenkanälen, überwinden. Im Zellinneren liegen mehr negativ geladene Teilchen, außerhalb der Zellen mehr positiv geladene Teilchen vor. Es entsteht also eine elektrische Spannung, das sogenannte Membranpotential, das vor allem durch unterschiedliche Konzentrationen an Natrium-, Kalium-, Calcium- und Chloridionen bestimmt wird. Öffnen sich Ionenkanäle, findet ein Ladungsausgleich statt, und es fließen Ionen von der Seite der Membran mit höherer Konzentration auf die mit niedrigerer Konzentration. Auf diese Weise werden in Nerven- und Muskelzellen elektrische Reize weitergeleitet. Der Öffnungszustand der Ionenkanäle kann dabei etwa durch die Höhe des Membranpotentials oder durch Substanzen, die von außen oder innen an den Kanal binden, gesteuert werden (Silbernagl & Despopoulos, 2007). Toxine, die an eben diesen Ionenkanälen wirken, können also gezielt die Reizweiterleitung beeinflussen und bieten damit eine effektive Möglichkeit, zum Beispiel die Atmung oder Muskulatur funktionsunfähig zu machen und damit Beutetiere an der Flucht zu hindern. Indem also viele Vogelspinnen-Toxine an Ionenkanälen (z.B. spannungsabhängige Natrium- / Kalium- / Calcium-Kanäle; Herzig & King, 2013) wirken, vermitteln Vogelspinnengifte einen neurotoxischen Wirkmechanismus.
"Melken" einer Vogelspinne zur Giftgewinnung
Vogelspinnengift-Toxine in der Schmerzmittel-Forschung
Obwohl Vogelspinnengifte im Allgemeinen für den Menschen als vergleichsweise harmlos gelten, wurden diese bislang intensiv beforscht. Denn aufgrund der stattlichen Größe vieler Vogelspinnenarten lassen sich deren Gifte in ausreichenden Mengen gut gewinnen. In der Regel werden dafür die Chelizeren-Grundglieder elektrisch stimuliert und das dabei austretende Gift in geeigneten Behältnissen gesammelt – dieser Vorgang wird häufig als „Melken“ bezeichnet. Mit der Forschung an Spinnengiften erhofft man sich neue Substanzen zu entdecken, die beispielsweise als Arzneimittel eingesetzt werden können. Es wurden in Vogelspinnengiften bereits einige Toxine – auch diese gehören zu den „Cystein-reichen“ Peptiden – entdeckt, die bestimmte Ionenkanäle des Nervensystems blockieren, welche bei der Schmerzempfindung eine wichtige Rolle spielen. Deshalb werden diese Toxine derzeit als Leitstrukturen für potentielle neuartige Analgetika (= Schmerzmittel) bei der Behandlung von chronischen Schmerzen betrachtet (Saez et al., 2010). So konnte ein Toxin aus dem Gift der asiatischen Vogelspinnenart Haplopelma doriae (bzw. Cyriopagopus doriae) identifiziert und charakterisiert werden – das sogenannte μ-Theraphotoxin-Hd1a –, das selektiv den menschlichen spannungsabhängigen Natriumkanal vom Subtyp 1.7 (hNaV 1.7) inhibiert (Klint et al., 2015). Seit der Entdeckung, dass eine sogenannte „Loss-of-Function“ Mutation im Gen, das für den hNaV 1.7 kodiert, zu einem Verlust des Schmerzempfindens führt (Cox et al., 2006), gilt dieser Ionenkanal als interessantes molekulares Ziel neuartiger Analgetika. Und mit Hilfe von aus dem Gift der afrikanischen Vogelspinnenart Heteroscodra maculata isolierter selektiver Toxine konnte erst kürzlich die physiologische Bedeutung des spannungsabhängigen Natriumkanals vom Subtyp 1.1 (NaV 1.1) bei der mechanischen Schmerzempfindung aufgeklärt werden – einem Ionenkanal, der bis dahin kaum erforscht war (Osteen et al., 2016). Folglich könnten sich Toxine aus Vogelspinnengiften zukünftig sowohl als Leitstrukturen für die Entwicklung neuartiger Schmerzmittel erweisen als auch als "molekulare Werkzeuge" dienen um neue Zielstrukturen für die Behandlung von Schmerzen aufzudecken.
Zitierte Literatur:
Cox, J. J.; Reimann, F.; Nicholas, A. K.; Thornton, G.; Roberts, E.; Springell, K.; Karbani, G.; Jafri, H.; Mannan, J.; Raashid, Y.; Al-Gazali, L.; Hamamy, H.; Valente, E. M.; Gorman, S.; Williams, R.; McHale, D. P.; Wood, J. N.; Gribble, F. M. & Woods, C. G. (2006). An SCN9A channelopathy causes congenital inability to experience pain. Nature 444, 894–898.
Herzig, V. & King, G. F. (2013): The neurotoxic mode of action of venoms from the spider family Theraphosidae. In: Nentwig, W. (Ed.), Spider Ecophysiology. Springer, Heidelberg, 203-215.
Kuhn-Nentwig, L.; Stöcklin, R. & Nentwig, W. (2011): Venom Composition and Strategies in Spiders: Is Everything Possible? Adv. Insect. Physiol. 60, 1-86.
Osteen, J. D.; Herzig, V.; Gilchrist, J.; Emrick, J. J.; Zhang, C.; Wang, X; Castro, J.; Garcia-Caraballo, S.; Grundy, L.; Rychkov, G. Y.; Weyer, A. D.; Dekan, Z.; Undheim, E. A. B.; Alewood, P.; Stucky, C. L.; Brierley, S. M.; Basbaum, A. I.; Bosmans, F.; King, G. F. & Julius, D. (2016): Selective spider toxins reveal a role for the NaV1.1 channel in mechanical pain. Nature 534, 494–499.
Palagi, A.; Koh, J. M. S.; Leblanc, M.; Wilson, D.; Dutertre, S.; King, G. F.; Nicholson, G. M. & Escoubas, P. (2013): Unravelling the complex venom landscapes of lethal Australian funnel-web spiders (Hexathelidae: Atracinae) using LC-MALDI-TOF mass spectrometry. J. Proteomics 80, 292-310.
Saez, N. J.; Senff, S.; Jensen, J. E.; Er, S. Y.; Herzig, V.; Rash, L. D. & King, G. F. (2010): Spider-Venom Peptides as Therapeutics. Toxins 2, 2851-2871.
Silbernagl, S. & Despopoulos, A. (2007): Taschenatlas Physiologie. Thieme-Verlag, Stuttgart. 441 S.
Dieser Text ist Teil unseres Vogelspinnengift-Posters:
Kamzol, J.; Hauke, T. & Herzig, V. (2016): Vogelspinnengift. mygale.de