Pfeilschwänze (Ordnung Xiphosura) – Neues aus der Verwandtschaft der Spinnentiere
Pfeilschwänze (Ordnung Xiphosura) – Neues aus der Verwandtschaft der Spinnentiere
Text und Fotos von Tobias J. Hauke
Webspinnen, Skorpione oder Weberknechte gehören für uns Menschen sicherlich zu den bekanntesten Angehörigen der Spinnentiere (Klasse Arachnida). Doch wie viele Ordnungen gibt es insgesamt innerhalb dieser Klasse? Der Wikipedia-Artikel „Spinnentiere“ nennt etwa die folgenden zehn Ordnungen (Wikipedia, 2024): Milben (Acari), Geißelspinnen (Amblypygi), Webspinnen (Araneae), Weberknechte (Opiliones), Palpenläufer (Palpigradi), Pseudoskorpione (Pseudoscorpiones), Kapuzenspinnen (Ricinulei), Skorpione (Scorpiones), Walzenspinnen (Solifugae), Geißelskorpione (Uropygi).
Tatsächlich werden in der wissenschaftlichen Literatur heute aber weitaus mehr Ordnungen anerkannt. Das kommt oft daher, dass frühere Ordnungen „aufgespalten“ bzw. deren ehemalige Taxa niedrigerer Rangstufen inzwischen selbst in den Rang von Ordnungen angehoben wurden. Dies ist beispielsweise bei den Geißelskorpionen (nun zwei Ordnungen: Schizomida und Uropygi) oder den Zecken und Milben (Acari; nun sechs Ordnungen: Sarcoptiformes, Trombidiformes, Mesostigmata, Holothyrida, Ixodida und Opilioacarida) der Fall. Im Folgenden möchte ich allerdings eine andere Ordnung vorstellen, die nun quasi „von außen“ mit dazu kam: Die Ordnung der Pfeil- oder Schwertschwänze (Xiphosura).
Die Systematik der Pfeilschwänze
Innerhalb der Ordnung Xiphosura gibt es nach derzeitigem Kenntnisstand lediglich vier rezente Arten in drei Gattungen: Carcinoscorpius rotundicauda, Limulus polyphemus, Tachypleus gigas und Tachypleus tridentatus. Diese vier Arten gehören zu einer einzigen Familie, Limulidae. Daneben sind aber noch mehr als 80 ausgestorbene bzw. nur von Fossilien bekannte Arten beschrieben (Gorneau et al., 2024), was zeigt, dass die Artenvielfalt einst weitaus größer war als heute.
Pfeilschwänze werden allgemeinhin auch als „Pfeilschwanzkrebse“ oder „Molukkenkrebse“ (oder im Englischen: „horseshoe crabs“) bezeichnet, obwohl seit rund 200 Jahren klar ist, dass sie mit Krebsen oder Krabben, also den Crustacea, nicht näher verwandt sind. Stattdessen werden sie zu den Kieferklauenträger (Chelicerata) gezählt, also dem Arthropoden-Unterstamm, zu dem auch Spinnentiere (Arachnida) gehören. Doch ob sie in die innere oder äußere Verwandtschaft der Spinnentiere gehören, wird seit je kontrovers diskutiert. In der Vergangenheit wurde die Ordnung Xiphosura meist nicht zur Klasse Arachnida gezählt, sondern zusammen mit zwei bereits ausgestorbenen Ordnungen (den Seeskorpionen, Ordnung Eurypterida, und der Ordnung Chasmataspidida) in eine separate Klasse Merostomata gestellt. Nun, gestützt durch neuere Forschungsergebnisse, verdichtet sich aber der wissenschaftliche Konsens, dass die Ordnung Xiphosura doch zu den Spinnentieren (Klasse Arachnida) gehören könnte (Gorneau et al., 2024; Tab. 01).
In diesem Kontext ist insbesondere die Arbeit von Ballesteros et al. (2022) hervorzuheben. Dieses Autorenteam hat in beispiellosem Umfang die entwicklungsgeschichtlichen Beziehungen (Phylogenie) der Spinnentiere untersucht. Zu diesem Zweck wurden Genom- und Transkriptom-Daten von mehr als 500 Arten aus allen rezenten Chelicerata-Ordnungen analysiert. Zusätzlich dazu wurde auch eine Datenmatrix morphologischer Merkmale von 514 rezenten sowie fossilen Chelicerata-Taxa erstellt und mit den molekularbiologischen Daten kombiniert, um eine ganzheitliche Untersuchung der evolutionären Beziehungen zu ermöglichen. Die wohl wichtigste Erkenntnis dieser umfangreichen Arbeit war, dass die Arachnida in ihrer früheren Zusammensetzung keine natürliche (monophyletische), sondern eine paraphyletische Gruppe darstellen. Das bedeutet, dass zwar alle Angehörigen auf einen gemeinsamen Vorfahren zurückzuführen sind, aber es noch weitere Nachfahren dieses Vorfahren gibt, die zuvor von den Spinnentieren ausgeschlossen waren. Und zwar sind damit insbesondere die Pfeilschwänze (Xiphosura) gemeint, denn diese finden sich entwicklungsgeschichtlich eingebettet in mitten der anderen rezenten Ordnungen der Arachnida wieder, genauer gesagt als Schwestergruppe der Kapuzenspinnen (Ricinulei). Weiterhin bestätigt diese Arbeit zwar die natürliche (monophyletische) Gruppierung der marinen Merostomata, die aus den Xiphosura, sowie den bereits ausgestorbenen Eurypterida (Seeskorpione) und Chasmataspidida besteht. Jedoch erscheinen diese eben innerhalb der Arachnida (wie schon erwähnt als Schwestergruppe zu den Ricinulei) und nicht als eine externe Schwestergruppe. In der Konsequenz bedeuten die Ergebnisse von Ballesteros et al. (2022) nun, dass Spinnentiere (Klasse Arachnida) nur dann eine natürliche (monophyletische) Gruppe darstellen, wenn die Pfeilschwänze (Xiphosura) zu ihnen gezählt werden.
Darüber hinaus diskutiert das Autorenteam noch weitere Implikationen, die diese neuen Erkenntnisse mit sich bringen. Insbesondere der sogenannte „Landgang“, also der Übergang von einer Lebensweise im Wasser zu der an Land, spielt im evolutionären Kontext oft eine wichtige Rolle. Dass nun aber mit den Pfeilschwänzen eine rein marine Gruppe zu den anderen, überwiegend terrestrischen Spinnentieren gezählt wird, könnte darauf hindeuten, dass sich der Landgang mehrmals unabhängig innerhalb der Chelicerata ereignet hat, so wie das auch schon bei anderen Wirbellosen herausgefunden wurde (Ballesteros et al., 2022).
Schließlich sei noch erwähnt, dass manche Forschungsarbeiten (z.B. Lozano-Fernandez et al., 2019) auch teilweise gegensätzliche Erkenntnisse zur Phylogenie der Chelicerata lieferten. Die Kontroverse um die Eingruppierung der Pfeilschwänze dürfte somit vorerst noch bestehen bleiben, bis zukünftige Studien die letzten Unsicherheiten klären können (Garwood & Dunlop, 2023).
Pfeilschwänze und deren Bedeutung für den Menschen
Pfeilschwänze stellen eine recht alte Tiergruppe dar, was zahlreiche Fossilfunde belegen. Die ältesten bekannten Xiphosura-Fossilien werden auf ein Alter von etwa 480 Millionen Jahre datiert und stammen somit aus dem Ordovizium (Garwood & Dunlop, 2023; Rudkin et al., 2008). Dementsprechend finden sich derartige Fossilien auch häufig in den Ausstellungen von Naturkunde-Museen wieder. Viele dieser frühen Pfeilschwänze sind den heutigen Arten erstaunlich ähnlich, sie haben sich also im Laufe der Evolution morphologisch kaum verändert, wohl als gute Anpassung an die aquatische Lebensweise.
Die rezenten vier Arten leben an den Küstengewässern in zwei Erdteilen: Die Art Limulus polyphemus kommt in Nordamerika entlang der Atlantik-Küste und dem Golf von Mexiko vor, während die drei asiatischen Arten Carcinoscorpius rotundicauda, Tachypleus gigas und Tachypleus tridentatus an den Küsten Südost- und Ostasiens sowie im Indischen Ozean vorkommen. Pfeilschwänze ernähren sich räuberisch von anderen kleineren Meerestieren. Zur Paarung kommen die geschlechtsreifen Männchen und Weibchen an Stränden zusammen und die Eier werden schließlich im Gezeitenbereich in den Sand abgelegt. Die geschlüpften Jungtiere benötigen dann recht lange, rund zehn Jahre und mehr, bis sie wiederum selbst die Geschlechtsreife erreichen. Während dieser Zeit weisen Pfeilschwänze eine hohe Sterblichkeit auf und fallen als Jungtiere vielen anderen Fressfeinden zum Opfer.
Leider sind die Populationen der Pfeilschwänze stark rückläufig und mit Limulus polyphemus und Tachypleus tridentatus werden zwei der vier Arten inzwischen nach der IUCN Roten Liste als gefährdet eingestuft (bei den anderen beiden Arten mangelt es bislang an der Datengrundlage zur Beurteilung des Gefährdungsstatus). Dies liegt zum Einen daran, dass die Lebensräume dieser Tiere aufgrund von Bebauung, Verschmutzung und anderen menschlichen Einflüssen immer kleiner werden. Zum Anderen werden Pfeilschwänze auch direkt vom Menschen „genutzt“ und dafür in großem Umfang aus der Natur entnommen. So werden Pfeilschwänze etwa als Nahrungsmittel oder insbesondere in den USA auch als Köder für die Fischerei sowie für die Aquarienhaltung gefangen (Laurie et al., 2019; Smith et al., 2016). Vielleicht am bekanntesten ist aber wohl die industrielle Nutzung für eine biomedizinische Anwendungen: Und zwar werden gewisse Zellen, die sogenannten Amöbozyten, aus der Hämolymphe der Pfeilschwänze gewonnen und aufbereitet, weil damit Pyrogene (Stoffe, die Fieber auslösen können) in in-vitro Tests nachgewiesen werden können. Diese Anwendung wird als Limulus-Amöbozyten-Lysat (LAL)-Test bzw. als Tachypleus-Amöbozyten-Lysat (TAL)-Test bezeichnet (je nach dem, ob die Zellen aus der nordamerikanischen Art Limulus polyphemus oder aus den asiatischen Tachypleus-Arten gewonnen werden). Vom Europäischen Arzneibuch wird der LAL-Test etwa empfohlen, um sicherzugehen, dass Parenteralia (pharmazeutische Injektions- und Infusionszubereitungen) nach deren Herstellung Pyrogen-frei sind. Zwar laufen Bemühungen, Tier- bzw. tierabhängige-Versuche zu reduzieren und ins Europäische Arzneibuch wurden erst kürzlich auch Alternativverfahren zur Testung auf Pyrogene aufgenommen (Paul-Ehrlich-Institut, 2024). Dennoch ist global gesehen die Nachfrage immer noch recht hoch bzw. sogar steigend und so werden weiterhin große Mengen an Pfeilschwänzen gefangen, um deren Hämolymphe zu gewinnen. In China wird auch der restliche Köper verwertet, etwa das Exoskelett zur Chitin-Gewinnung (Laurie et al., 2019; Smith et al., 2016).
Es bleibt zu hoffen, dass der Lebensraumschwund sowie das gezielte Fangen durch den Menschen nicht zum Aussterben der Pfeilschwänze führen und diese alte Tiergruppe auch zukünftig auf unserem Planeten bestehen kann. Immerhin haben diese Tiere nicht nur für uns Menschen eine besondere Bedeutung, sondern spielen auch in deren natürlichen Ökosystemen eine wichtige Rolle.
Versteinerter Pfeilschwanz, Mesolimulus walchi, ausgestellt im Museum für Naturkunde Berlin.
Auf Eis gelagerte Pfeilschwänze werden neben anderen Meerestieren auf dem Zentralmarkt in Phnom Penh, Kambodscha zum Verkauf als Nahrungsmittel angeboten.
Pfeilschwanz im Aquarium des Tierpark Hellabrunn, München.
English Summary
Arachnids (class Arachnida) encompass numerous orders, including well-known groups such as spiders, scorpions, and harvestmen. A remarkable addition to this class is the order of horseshoe crabs (Xiphosura), which are now also classified as arachnids by some authors.
The order Xiphosura today comprises only four extant species, all belonging to the family Limulidae, while over 80 fossil species point to a once greater diversity. Although commonly referred to as horseshoe crabs, they are not true crabs but belong to the Chelicerata, a subphylum of arthropods, and are increasingly recognized as part of the Arachnida. Recent molecular-biological studies, such as those by Ballesteros et al. (2022), reveal that arachnids in their previous composition are paraphyletic unless Xiphosura is included, as they are closely related to the hooded tickspiders (Ricinulei). These findings raise new evolutionary questions, particularly about the transition to land, as the purely marine Xiphosura may suggest multiple independent land transitions within Chelicerata. As some previous studies provided conflicting results, however, the phylogenetic classification of horseshoe crabs still remains a controversial topic that requires further clarification.
Horseshoe crabs are an ancient group of animals that have remained morphologically unchanged for hundreds of million years. The four extant species inhabit the coastal waters of North America and Asia. However, their populations are severely threatened by habitat loss, direct exploitation for food, bait, and biomedical applications, particularly the Limulus Amebocyte Lysate (LAL) test used for detecting pyrogens. Despite efforts to reduce animal-dependent testing methods, demand for horseshoe crabs remains high, increasing their risk of extinction, even though they are of significant importance to both humans and their ecosystems.
Literatur:
Ballesteros, J. A.; Santibáñez-López, C. E.; Baker, C. M.; Benavides, L. R.; Cunha, T. J.; Gainett, G.; Ontano, A. Z.; Setton, E. V. W.; Arango, C. P.; Gavish-Regev, E.; Harvey, M. S.; Wheeler, W. C.; Hormiga, G.; Giribet, G. & Sharma, P. P. (2022): Comprehensive species sampling and sophisticated algorithmic approaches refute the monophyly of Arachnida. Mol. Biol. Evol. 39(2): msac021.
Ban, X.-C.; Shao, Z.-K.; Wu, L.-J.; Sun, J.-T. & Xue, X.-F. (2022): Highly diversified mitochondrial genomes provide new evidence for interordinal relationships in the Arachnida. Cladistics 38: 452-464.
Garwood, R.J. & Dunlop, J. A. (2023): Consensus and conflict in studies of chelicerate fossils and phylogeny. Arachnologische Mitteilungen / Arachnology Letters 66: 2-16.
Gorneau, J. A.; Cala-Riquelme, F.; Tourinho, A. L. & Esposito, L. A. (2024): Biodiversity of arachnids. in S. M. Scheiner (Editor): Encyclopedia of Biodiversity (Third Edition), Academic Press, Volume 2, 453-489.
Laurie, K.; Chen, C.-P.; Cheung, S. G.; Do, V.; Hsieh, H.; John, A.; Mohamad, F.; Seino, S.; Nishida, S.; Shin, P. & Yang, M. (2019): Tachypleus tridentatus (errata version published in 2019). The IUCN Red List of Threatened Species 2019: e.T21309A149768986.
Lozano-Fernandez, J.; Tanner, A. R.; Giacomelli, M.; Carton, R.; Vinther, J.; Edgecombe, G. D. & Pisani, D. (2019): Increasing species sampling in chelicerate genomic-scale datasets provides support for monophyly of Acari and Arachnida. Nature Communications 10 (2295): 1-8.
Paul-Ehrlich-Institut (2024): Ersatz von Tierversuchen – Kaninchen-Pyrogentest weitgehend gestrichen. Abgerufen am 15.12.2024. https://www.pei.de/DE/newsroom/hp-meldungen/2024/240718-kaninchen-pyrogentest.html
Rudkin, D. M. ; Young, G. A. & Nowlan G. S. (2008): The oldest horseshoe crab: a new xiphosurid from Late Ordovician Konservat-Lagerstatten deposits, Manitoba, Canada. Palaeontology 51: 1–9.
Smith, D. R.; Beekey, M. A.; Brockmann, H. J.; King, T. L.; Millard, M. J. & Zaldívar-Rae, J. A. (2016): Limulus polyphemus. The IUCN Red List of Threatened Species 2016: e.T11987A80159830.
Wikipedia (2024): „Spinnentiere“. Abgerufen am 05.12.2024. https://de.wikipedia.org/wiki/Spinnentiere
Dieser Text ist Teil eines von mir geschriebenen Artikels, der auch in der Zeitschrift ARACHNE erschien:
Danksagung: Ich möchte mich herzlich bei Prof. Dr. Henrik Krehenwinkel (Trier) für kritische Anmerkungen zum Manuskript bedanken.