Hamas-Effekt im Nordirak
Seit 15 Jahren regieren kurdische Parteien den Nordirak: zivilgesellschaftliche Initiativen blühen - und dennoch: der Österreicher Karim Qadir wurde wegen "Entehrung der kurdischen Führung" verurteilt.
von Mary Kreutzer
„Kurdische Tyrannen, verschwindet!" - so titelte jüngst die renomierte und unabhängige kurdische Wochenzeitschrift Hawlati. Der Journalist Hawez Hawezi forderte in seinem Artikel die beiden großen kurdischen Parteien PUK (Patriotische Union Kurdistans) und KDP (Kurdische Demokratische Partei) auf, sich aus der Regierung zurückzuziehen oder aber das Land zu verlassen. Die korrupten Machenschaften der kurdischen Funktionäre seien ein Schlag ins Gesicht der verarmten Bevölkerung, ihre politische Unfähigkeit nicht mehr tragbar. Kurz nach Veröffentlichung jener Zeilen wurde Hawez Hawezi prompt drei Tage inhaftiert, ein Prozess wegen „Diffamierung" erwartet ihn. Ann Cooper, Direktorin der New Yorker Journalistenvereinigung CPJ forderte indes die kurdischen Gerichte dazu auf, den Fall sofort ad acta zu legen. „Statt einen Journalisten zu verfolgen, der seinen Job macht, sollte lieber nach jenen Polizeikräften gefahndet werden, die Hawez Hawezi während seiner Verhaftung misshandelten." Die Kurdischen Behörden zeigten mit ihrem Vorgehen, dass ihr guter Ruf bezüglich Toleranz und freier Medien unverdient sei, so Cooper.
Modern Times in Kurdistan
Als 1991 Saddams Truppen den Ölstaat Kuwait überfielen und durch das Eingreifen der Alliierten der zweite Golfkrieg ausgelöst wurde, konnten sich die Kurden im Norden des Irak durch die Einrichtung einer Schutzzone vor den Klauen des Regimes retten. Während der Aufstand der schiitischen Bevölkerung im Südirak brutal niedergeschmettert und bis zur Befreiung im April 2003 in Saddams „Republik der Angst" verbleiben musste, wird der Nordirak seit nunmehr 15 Jahren von den Parteien Jalal Talabanis und Marzud Barzanis regiert. Unzählige ExilirakerInnen, darunter vor allem AkademikerInnen, Intellektuelle und Geschäftsleute, kehrten zurück in den Norden, um sich am Aufbau eines demokratischen und freien Iraks zu beteiligen. In dieser Zeit entwickelten sich eine reiche und bunte Mischung an zivilgesellschaftlichen Initiativen: Frauenhäuser und Frauenzentren, Schreibwerkstätten und Computerkurse für Häftlinge, Kampagnen gegen Weibliche Genitalverstümmelung in den ländlichen Regionen, Künsterateliers, NGOs, die für Kinderrechte kämpfen, unabhängige Zeitschriften und Radiosender, humanitäre nationale und internationale Hilfsorganisationen, u.v.m. Parallel zum wirtschaftlichen Aufschwung entstand durch diese Initiativen erstmals seit über 30 Jahren Diktatur die Möglichkeit, öffentlich Kritik an den herrschenden Verhältnissen zu üben. Doch einige kurdische Politiker tun sich schwer diese Entwicklungen mitzuvollziehen und fürchten um die Pfründe der Macht.
Österreicher in Haft
Karim Sayid Qadir ist österreichischer Staatsbürger und sitzt seit nunmehr fünf Monaten in einem Gefängnis der nordirakischen Stadt Erbil.
Im Oktober 2005 hatte er in einem offenen Brief seine Rückkehr in die ehemalige Heimat angekündigt. In diesem Schreiben kritisiert er nicht nur die verbreitete Korruption, er sparte auch nicht mit Beleidigungen und absurden Vorwürfen - u.a. sei Marsoud Barzani ein KGB-Agent und sein Sohn ein Zuhälter. Kurz nach seiner Ankunft war Qadir verschollen, um Tage später hinter den Gittern des Gefängnisses in Arbil wieder aufzutauchen. Es kam zu einem Schnellverfahren samt Verurteilung: 30 Jahre Haft wegen „Entehrung der kurdischen Führung und ihres Kampfes".
Nur durch internationalen Druck und dem Engagement seiner FreundInnen und Familienangehörigen kam es zu einer Neuverhandlung. Am 26. März 2006 wurde das Urteil gesprochen: 18 Monate Haft. Qadirs Gesundheit ist nach wiederholten Hungerstreiks angeschlagen, sein Anwalt will das Urteil anfechten.
Doch der Unmut über die Missstände im Lande und über die korrupte Verwaltung und wächst nicht nur unter Intellektuellen, wie die jüngsten Ereignisse in Halabja zeigen.
Proteste in Halabja
„Schande über den Mob von Halabja!", schreibt der Blogger Vahal Abdulrahman in seinem erbosten Kommentar auf KurdMedia.com. Doch Hunderte von Mails und Artikeln namhafter und unbekannter Kurden und Kurdinnen widersprechen ihm und finden viel mehr, dass die Regierung sich schämen sollte. Welcher Mob? Was ist in Halabja passiert?
Dort, wo bis zum 16. März 2006 das imposante Halabja Memorial Museum die Einfahrt in die irakisch-kurdische Stadt prägte, sind heute nur noch die ausgebrannten Grundmauern des Gebäudes zu sehen. Die Gedenkstätte, errichtet und finanziert von der Kurdischen Regionalregierung, wurde am 18. Jahrestag des Giftgasangriffes auf Halabja von einer Menge aufgebrachter Menschen gestürmt und in Brand gesetzt. Auch jenes Schild, das Tausende Male von ausländischen Journalisten oder irakischen Rückkehrern fotografiert wurde und zum Symbol für Halabja geworden war:
„Baathisten ist der Eintritt verboten", wurde zertrampelt.
Doch entgegen allen Beteuerungen seitens der kurdischen Behörden, dies sei das Werk „fremder Kräfte", „völlig Unbekannter", versichern Journalisten, die Augenzeugen jener Demonstration vom 16. März wurden: Es waren Überlebende und Angehörige der Opfer des Giftgasangriffes von 1988 auf Halabja, die den Protestzug von einigen Tausend Menschen anführten. „Seit Monaten verlangen die Leute hier von der Regierung, ihre Forderungen nach Entschädigung der Opfer, nach sozialen und wirtschaftlichen Projekten und den lange versprochenen Wiederaufbau endlich umzusetzen, andernfalls würde niemand sie davon abhalten, die offiziöse und ritualisierte Gedenkfeier im Halabja Memorial Museum zu stürmen.
Warten auf Entschädigung
Die Stadt versinkt in Armut, doch die Behörden stellten sich taub und blind", sagt Fallah Mordakhin, ein Jurist aus Halabja und Mitarbeiter einer deutsch-österreichischen Hilfsorganisation, die in Halabja ein Frauenzentrum und einen unabhängigen Radiosender unterstützt. Er selbst überlebte als Kind den Giftgasangriff in den Berghöhlen an der irakisch-iranischen Grenze.
Der Saldo der Antiregierungs-Demonstration ist erschreckend: ein jugendlicher Teilnehmer wurde erschossen, Duzende teils schwer verletzt. Man spricht von über Hundert Inhaftierten, die genaue Zahl weiß niemand.Das Fotomaterial der Kameraleute, welche die Geschehnisse in Halabja dokumentiert hatten, wurde trotz zahlloser Proteste konfisziert. In einem offiziellen Statement ließ man drohend wissen, dass die Filme zu neuen Verhaftungen führen könnten.
Profiteure des Aufruhrs
Die verschwörungstheoretischen Vermutungen, dass die Ausschreitungen von „Iranern" und „Islamisten" geplant wurden, muten umso absurder an, wenn man erfährt, dass Mariwan Halabjaee einer der Organisatoren der Proteste war.
Sein Buch „Sex, Sharia und Frauen in der Islamischen Geschichte", welches vor wenigen Monaten veröffentlicht wurde, sorgte für Aufregung unter den Islamisten. Seitdem wird Halabjaee mit Morddrohungen konfrontiert.
Auch wenn islamistische Gruppierungen nichts mit den Unruhen zu tun hatten, so versuchen sie selbstredend vom Unmut der Bevölkerung gegen die Regierung zu profitieren. Daban Shadala ist Vetreter der PUK in Österreich und repräsentiert jenes moderne Segment, das für eine Öffnung und eine Demokratisierung der Parteistrukturen eintritt. „Ich befürchte einen HAMAS-Effekt im Nordirak, wenn das hier so weitergeht. Nicht nur entäuschte und verärgerte Wähler könnten zu den Islamisten überlaufen, auch verlieren wir eine junge, gebildete und aufstrebende Schicht, die in unserer Parteien keine Chance haben, weil sie nicht zur „richtigen" Familie gehören."
Es ist nicht das erste Mal, dass sich Kurdinnen und Kurden für ihre wirtschaftlichen und sozialen Interessen gegen die Regionalregierung organisieren. Bereits im September 2005 war es im nordirakischen Kallar zu sozialen Unruhen gekommen, einige Forderungen der Protestierenden wurden anschließend erfüllt. „Auch das ist der neue Irak, trotz aller Rückschritte", meint der Jurist und Menschenrechtsaktivist Fallah Mordakhin.
„Bis zur Befreiung im April 2003 herrschten in den Bergen hinter Halabja noch islamistische Terrorbanden. Wer damals demonstrierte, dem wurde der Kopf abgehackt."
Quelle: Die Furche Nr. 13/30. März 2006