Alex Fritz - Erinnerungen: 1945 -1952

Dr. med. Alex Fritz (* 1922, + 2010) begann seinen Dienst beim Deutschen Institut für ärztliche Mission 1946 zunächst als Arzt. 1953–1960  war er als Missionsarzt in Nord-Sumatra tätig in einer von Bürgerkrieg und Gefahren gezeichneten Region mit 250 000 Einwohnern. Seit 1962 war Dr. Fritz Mitglied des Difäm und leitete den Verwaltungsrat und die Mitgliederversammlung von 1990-1994. Seine kurzweilig zu lesenden Aufzeichnungen dokumentieren die Jahre 1945 bis 1952 im damaligen Tropengenesungsheim.

Carl Huppenbauer

Vorratsraum "Hinterer Luftschutzstollen" 

Difäm-Direktor und Chefarzt Dr. Samuel Müller 

Kinderheim 1936 im Bau als Ersatz für die Baracke 

Kinderheim 

Missionarskinder im Kinderheim 

Ansichtskarte Tropengenesungsheim 1952... 

...mit Briefmarke von Bundespräsident Theodor Heuss... 

...der den Gartensaal des Tropengenesungsheimes besuchte. 

"Es begann, als meine Eltern - Basler Chinamissionare, der Vater promovierte für eine spätere Seminartätigkeit in Lilong/China an der Tübinger Universität - in der schwierigen Nachkriegszeit 1923 durch die Vermittlung von Herrn Paul Lechler sen. in der Dachgeschosswohnung im Schwesternheim in der Mohlstraße eine Bleibe fanden. Die beiden älteren Kinder waren in Basel im Missionskinderheim, aber da waren ja noch die beiden jüngeren zu Hause, und es lag nahe, diese bei den häufigen Missionspredigtreisen der Eltern im „Kinderheim“ des Tropengenesungsheimunterzubringen.

Das war damals allerdings noch nicht der schöne Bau, in dem jetzt das DIFÄM untergebracht ist; der wurde erst 1936 mit großzügiger Hilfe der Stadt Stuttgart, damals „Stadt der Auslandsdeutschen“, erstellt. Vielmehr war es Herrn Dr. Carl Huppenbauer gelungen, einige Jahre nach dem 1.Weltkrieg sehr preiswert eine große Militärbaracke aus Holz für das DIFÄM zu erwerben und diese als „Kinderheim“ dann oberhalb des Haupthauses am Hang aufzustellen. 

Nun kommt ein großer Sprung bis zum Jahr 1943. 

Wie schon im ersten Weltkrieg war das Tropengenesungsheim auch im letzten Krieg Fachlazarett für Tropenkrankheiten. Chefarzt Dr. Müller als Militärarzt der Reserve, Dr. Härle aus Ludwigsburg, ein außergewöhnlich netter alter Oberstabsarzt der Reserve, im ersten Weltkrieg in Mesopotamien eingesetzt, und Oberstabsarzt der Reserve, Dr. Martin Maisch, ein „DIFÄMER“, versorgten zusammen mit dem Liebenzeller Missionsarzt Dr. Herr, der viele Jahre in China gearbeitet hatte, die militärischen und zivilen Patienten 

Im Erdgeschoss waren die Mannschaften untergebracht, die Offiziere im I., und II. Stock. Doch durften hier, wenn Betten frei waren, auch „zivile“ Patienten untergebracht werden, die ansonsten im Ill. Stock lagen.

Das Erstaunliche war nun, wie gut dieses Miteinander von Militärlazarett und Missions-Tropen­genesungs­heim funktionierte. Saßen da doch im Speisesaal alle gehfähigen Patienten, Militär und Zivil bunt gemischt, zu den Mahlzeiten an den Tischen, und nie hat jemand an Tischgebet und Abendandacht Anstoß genommen. Und wie alle Lazarette hatte auch das Tropengenesungsheim seine „Spezialpatienten“: Elektriker, Schlosser, Bäcker, Metzger usw., die man für den Betrieb dringend brauchte und die so mit ihrer Malaria, Gelbsucht oder Amöbenruhr eben Dauerpatienten wurden. In den Hang zwischen Tropengenesungsheim und Kinderheim wurden damals mehrere tiefe Luftschutzstollen getrieben, die sich, wie später zu sehen, nicht nur als „Luftschutzkeller“ bewährten.

Als dann im Sommer 1945 die Franzosen die Lebensmittel aus den Kliniken und Lazaretten für sich beschlagnahmten, da hatte man im Tropenheim in weiser Voraussicht den größten Teil der Vorräte schon im hintersten Luftschutzstollen ("Kartoffelkeller") sicher gelagert und davor eine Abschlussmauer gebaut, so dass der Stollen hier zu Ende schien. Als dann nach einigen Monaten „die Luft wieder rein“ war, trug man die Mauer ab, und zehrte fast bis zur Währungsreform an diesen Vorräten.

Dr. Müller war offiziell Chefarzt des Hauses, besaß aber nicht die Facharztanerkennung für Innere Krankheiten; die hatte Oberarzt  Dr. Maisch, und nachdem das Haus sich rasch vom „Genesungsheim“ zu einem Krankenhaus wandelte, war für die klinische Arbeit eigentlich Dr.  Maisch zuständig. Es hat hier aber nie Spannungen wegen der „Kompetenzen“ gegeben.

Dass Dr. Maisch gerade als Internist einen sehr guten Ruf hatte kann man daraus ersehen, dass die Ärztekammer Südwürttemberg- Hohenzollern mir die 5 Jahre, die ich unter seiner Leitung gearbeitet hatte, voll auf die Facharztweiterbildung für Innere Krankheiten angerechnet hat! - Neben mir als Assistenzarzt waren dann meist noch zwei junge Kollegen als Medizinalassistenten am Haus. Diese Stellen waren sehr beliebt, nicht nur wegen des guten Essens am Hause, auf das wir nachher noch kommen; sie konnten vielmehr auch ihre 8 Wochen „Kinder“ hier ableisten. Und auch ältere Kollegen nutzten diese Gelegenheit zur Ableistung ihrer „Kinderzeit“ recht gerne! Die Kinderklinik hatte nämlich eine Vereinbarung mit dem Haus, dass sie bei Bettenmangel fertig untersuchte Kinder zur Weiterbehandlung hierher ins Kinderheim schicken konnte; offiziell überwachte Oberarzt  Dr. Grundler dann diese Behandlung, für die tägliche Arbeit war ich zuständig. Das hat mehrere Jahre lang recht gut geklappt.

Die apparative Ausstattung war, mit Ausnahme des Labors, das für damalige Verhältnisse durchaus modern war, ziemlich einfach. Immerhin gab es moderne Rektoskope und Zystoskope, die auch viel genutzt wurden, letztere besonders bei den Bilharziafällen - deutschen Kriegsgefangenen, die sich in franz. Gefangenschaft in Marokko infiziert hatten. Als Röntgengerät diente ein „Feldröntgengerät“ der Wehrmacht, das allerdings vom Strahlenschutz her gesehen für Patient und Arzt recht gefährlich war. Glücklicherweise konnte es dann bald durch ein gutes Siemensgerät ersetzt werden, das auch eine Bariumkontrastdiagnostik im Magen-Darmbereich wie auch i.v. und retrograde Pyelogramme zuließ. Und schließlich besaßen wir auch ein Ein-Kanal-EKG-Gerät. 

Besser ausgestattet war die Physiotherapie, und der Clou vom ganzen war natürlich die ,,Sudabadabteilung“ - subaquales Darmbad nach Prof. Olpp! 

In dieser Zeit wurde das Tropenheim von den Patienten wie eine Insel der Seligen empfunden- es wurde vom Volksmund auch prompt in „Drobenernährungsheim“ umgetauft! Dank der guten Beziehungen ins Gäu mussten nämlich bei den Hauptmahlzeiten die Kartoffeln nie rationiert werden, und Milch, Gemüse, Obst, Kompott und „Gesälz“ lieferte die eigene Gärtnerei und Landwirtschaft, .

Ebenso tüchtig und aufgeschlossen waren auch die jüngeren „Verbandsschwestern“. Das „Betriebsklima“, wie man heute zu sagen pflegt, war ausgezeichnet. So durfte z.B. vor der Währungsreform jede Person, die im Tropengenesungsheim beschäftigt war, vom Oberarzt bis zur Putzfrau an ihrem Geburtstag zwei Freundinnen oder Freunde zu einem Geburtstagskaffee einladen, bei dem es echten Bohnenkaffee, Sahne und Kuchen gab. Und ein Höhepunkt im Jahr war immer der Betriebsausflug, wie z. B. auf den Roßberg. Da fuhr in der Frühe der Lastwagen voraus mit dem Essen und Trinken; wenn man ankam waren die Tische festlich gedeckt, und  Dr. Müller und Oberschwester Helene servierten! Anschließend wurden Ballspiele gemacht- wobei ich leider einmal der Oberschwester Helene wohl einen recht großen „blauen Flecken“ auf ihrem verlängerten Rücken beibrachte, was sie aber mit gutem Humor ertrug und allseits große Freude hervorrief!

Ich aber war zusätzlich für die Durchführung der traditionsreichen subaqualen Darmbäder (SUDABAD) nach Prof. Olpp zuständig. (Der Patient liegt dabei in der warmen Badewanne und erhält dann durch eine spezielle Apparatur eine Darmspülung mit 25 l Kamillenlösung. Sie waren bei den Patienten mit chronischer Obstipation überaus beliebt; zu meinen treuesten „Kunden“ gehörte ein französischer Oberst, der eigentlich Altphilologe war und sich einen Spaß daraus machte, meine schon sehr im Schwinden begriffenen griechischen und lateinischen Kenntnisse wieder aufzumöbeln.

Eines Tages kam Herr Lechler zu uns und fragte, was wir denn besonders dringend benötigen würden. Einer seiner Freunde in New York würde uns gerne etwas Gutes tun. Nun, die Antwort war leicht: Im ganzen Land war der „flächendeckende“ Wurmbefall der ganzen Bevölkerung mit Spul- und Madenwürmern beim Fehlen jeder wirksamen Wurmmedizin wirklich zum Problem geworden. Ein Übriges tat die allgemein übliche „Kopfdüngung“ bei Gemüse- und Salatpflanzen, sowie die weithin doch sehr ungenügenden hygienischen Bedingungen.

Wir baten also um Zusendung von Ol. Chenopodii und Rizinusöl, für den Gebrauch im Haus gedacht. Was dann aber aus New York ankam, das waren 20 Liter Ol. Chenopodii -zu einer Behandlung braucht man zweimal 20 Tropfen! sowie ein großes Blechfass mit Rhizinusöl. An diesem Segen wollten wir doch auch die Allgemeinheit teilhaben lassen und teilten dem Gesundheitsamt in Tübingen wie auch den niedergelassenen Kollegen mit, dass wir ambulante Spulwurmkuren durchführen könnten. Schon von der Lazarettzeit her hatte das Haus einen großen Ruf in der effektiven Bandwurmbehandlung und Extr. fil. maris und Acranil gab es ja glücklicherweise auch nach dem Krieg noch in ausreichender Menge, und auch an Bandwurmpatienten war kein Mangel. -Aber was sich nun abspielte, überraschte uns völlig: Es sprach sich mit Windeseile herum, dass man hier seine Würmer loswerden könne, und eine wahre Wallfahrt zur „Wurmlinger Kapelle“, wie der Tübinger Volksmund uns prompt apostrophierte, setzte ein! Es blieb uns nichts andres übrig als Frau Babick völlig für die Wurmkuren einzusetzen; wobei es für uns fast lebenswichtig war, die Patienten nach der zweiten Dosis gleich wieder aus dem Haus zu werfen - unsere Toiletten hätten für den Ansturm nicht ausgereicht! Dafür beklagten sich dann aber die „Anlieger“ an dem Weg zum Bahnhof in Leserzuschriften darüber, dass in zunehmendem Masse bei ihnen geklingelt und um Toilettenbenützung gebeten werde. - Denn nun kamen auch die Firmen - bis nach Frankfurt und Hanau -und sandten ihre Belegschaft mit Sonderzügen zu uns zur Entwurmung. An solchen Tagen war dann die Wurmambulanz für andre Leute gesperrt. Eines Tages schickten uns auch die Uracher Fabriken gemeinsam ihre Belegschaften mit einem Sonderzug; es waren die alten Waggons, mit Extratüren für jedes Abteil und wenig Zugtoiletten. Auf der Heimfahrt zogen dann die Leute in ihrer Not zwischen Metzingen und Urach die Notbremse, der Zugführer konnte, um die Sittlichkeit zu wahren, gerade noch geistesgegenwärtig pfeifen und schreien: Manne nach links, und Weiber nach rechts -und schon kam es zu einer Massendüngung der Kirschbaumwiesen. Die lokale Presse ließ sich natürlich solche Leckerbissen nicht entgehen - wir waren in aller Munde. Die Tübinger Chronik rief in einem satirischen Artikel gar nach dem Staatsanwalt, um das kriminelle Komplott zwischen der Gärtnerei Kaipf am Fuße des Tropenheimberges und uns zu beenden: Nach der Wurmkur kaufen die Leute natürlich beim Gärtner Kaipf den kopfgedüngten Salat zum Mittagessen- und schon ist in einigen Wochen die nächste Kur gesichert!! Und als dann die Kopfdüngung verboten wurde, da kam es zu einem Aufschrei der Stuttgarter Gärtner: Nur dadurch würde der Salat so rösch wie ihn die Stuttgarter mögen!

Nach der Währungsreform erschienen plötzlich alle nötigen Arzneien wieder auf dem Markt und wir konnten die „Wurmambulanz“ schließen; wir, d. h Frau Babick!- hatten bis dahin über 22 000 ambulante Wurmkuren durchgeführt!

Unsere nächste Tat war die Gelbfieberimpfung. So langsam reisten ja doch wieder Kaufleute und Techniker auch ins tropische Ausland, und die dazu oft erforderliche Gelbfieberimpfung konnte man nur bei der KLM am Frankfurter Flughafen und sonst im Ausland bekommen.

Und da kamen nun die vielen Missionarskinder zu uns ins Kinderheim, die in ihrem ganzen Leben außer ihren Eltern und vielleicht einer Missionsschwester nie Europäer gesehen hatten und nur Chinesen gewohnt waren! Sie fühlten sich unter all den „Langnasen“ todunglücklich, die Kleineren verlangten ständig nach ihrer Amah- der chinesischen Kinderfrau!, und sie brachten unsere Kinderschwestern zur Verzweiflung und Tränen, da sie nur chinesisch sprachen und sich köstlich darüber amüsierten, dass wir alle das nicht verstehen konnten. Zum Glück legte sich das dann nach einiger Zeit. Die „Kasernierung“ der Kinder im Kinderheim hatte natürlich zwei Seiten; es war sicher erholsam für die Eltern, besonders wenn sie dazu noch krank waren, sich nicht ständig um die Kinder kümmern zu müssen, und die Kinder fühlten sich unter all den Kameraden die sie da hatten, und bei den wirklich rührend besorgten Kinderschwestern auch rasch sehr wohl. Es wäre auch schwierig gewesen, all die vielen Kinder auf den „Normalstationen“ im Haus unterzubringen und zu behandeln resp. den ganzen Tag zu beschäftigen. Aber natürlich gab es auch Eltern, die mit der Trennung von ihren Kindern gar nicht so recht einverstanden waren. Aufs Ganze gesehen überwogen aber doch wohl die positiven Aspekte dieser Einrichtung. Als dann das DIFÄM unter Dr. Scheel dringend Räume brauchte wurde das Kinderheim aufgegeben, das DIFÄM zog dort ein. 

Großes Aufsehen erregten auch die Missionsschwestern, die während des Krieges in Japan gewesen waren. Erst bei den Holländern in Niederländisch-Indien interniert, waren sie dann nach der Eroberung durch die japanische Armee nach Japan gebracht worden. Nach dem Kriegsende mussten sie sich selbst durchschlagen, meist fanden sie Arbeit bei der amerikanischen Besatzungsmacht und waren so, zumindest in den Augen pietistischer Kreise, entsetzlich amerikanisiert und emanzipiert! Sie rauchten eifrig, benutzten reichlich make up und trugen modische Hosenanzüge; kurzum, für viele war das geradezu ein Skandal!!Frau Babick hatte für unser Labor wunderschöne Farbtafeln mit allen Erregern tropischer Krankheiten wie Malariaplasmodien, Filarien, Leishmanien usw. sowie den entsprechenden Überträgern angefertigt- die kamen uns bei solchen Kursen natürlich sehr zu gute.   

So langsam veränderte sich nun die Struktur des Hauses. Es war Dr. Maisch gelungen, eine Absprache mit der AOK Tübingen zu treffen, wonach die Behandlungskosten für ihre Mitglieder bei Inneren Erkrankungen auch in unserem Haus übernommen wurden, und zwar zu den gleichen Sätzen wie in der Medizinischen Klinik, damals 2,70 Reichsmark! So stieg die Zahl der bei uns behandelten AOK-Mitglieder deutlich an - vorher galten alle Patienten als „Selbstzahler“, und das waren naturgemäß fast nur Privatversicherte. Es kamen damals auch viele Patienten aus Fabrikantenfamilien aus Reutlingen, Metzingen, Gomaringen und der Alb zu uns.

In der Zeit als wir häufig Malaria tertiana-Patienten im Hause hatten, führten wir auch für die Unikliniken in Tübingen und Frankfurt Malariakuren nach Julius Wagner-Jauregg bei Patienten mit progressiver Paralyse durch; dies hörte dann aber auf, als die Malariapatienten „ausgingen“ und für die Behandlungen andere fiebererzeugende Mittel wie Pyrifer u.ä. eingesetzt wurden.

Nun aber auch noch einiges „Nichtmedizinisches“ aus dieser Zeit: Der schöne Gartensaal war häufig Schauplatz für Konzerte und Vortragsabende. Und als Bundespräsident Heuss Tübingen besuchte, da gab es sonst keinen geeigneten Saal in Tübingen, Empfang und Festessen fanden im Gartensaal statt. Ich erinnere mich noch, wie Heuss in seiner Dankesrede feststellte, dass er sich wohl in nicht allzu ferner Zeit in Ausübung seiner Dienstpflichten bei all den Festessen zu Tode gegessen haben werde. Äußerst beliebt- besonders in der Zeit vor der Währungsreform- war bei Theologieprofessoren und Pfarrern der Predigtdienst im Tropenheim. Durfte doch der Prediger anschließend mit seiner ganzen Familie am Mittagstisch teilnehmen."