Kurland

Deutschbaltische Kaufmannsfamilien
in Kurland (17.-19. Jahrhundert)

- ein Beitrag zur Genealogie und Geschichte der Deutschbalten von Herbert Becker

Vorbemerkungen des Verfassers:

Der folgenden Ausführungen beruhen - mit geringfügigen Änderungen - auf einem Artikel, der von mir im Herold-Jahrbuch, hrsg. im Auftrag des Herold, Verein für Heraldik, Genealogie und verwandte Wissenschaften zu Berlin, N. F. 5 (2000), S. 9-15 veröffentlicht wurde .(1)

Die dortigen Fußnoten habe ich für diesen Beitrag hier gesondert zusammengestellt > Kurland - 2.

Zunächst sei jedoch auf die nachstehende Karte hingewiesen. Sie zeigt die geografische Lage von Kurland im Baltikum, d. h. zusammen mit den beiden anderen vor 1914 bestehenden russischen Ostseeprovinzen Estland und Livland. Wegen ihrer für das o. a. Thema großen Bedeutung ist die kurländische See- und Handelsstadt Libau besonders hervorgehoben.

Kurland / Baltikum mit Libau vor 1914

Karte von Kurland / Baltikum mit Libau vor 1914
( bearb. von Herbert Becker )

Genealogie ist „zunächst eine historische Wissenschaft, d. h., sie betrachtet die Generationen in ihrem zeitlichen Ablauf auf dem Hintergrund der allgemeinen und lokalen Geschichte“(2). Insofern erscheint ein zumindest kurzer Rückblick auf die Geschichte Kurlands angebracht.

Kurland, das etwa den südlichen Teil der heutigen Republik Lettland umfaßt, gehörte im Mittelalter zu dem vom Deutschen Orden beherrschten Livland. Nach dem Zerfall Alt-Livlands (1561) wurde Kurland polnisches Lehnsherzogtum. Damit entstand ein besonderes politisches Gebilde, das unter der polnischen Krone erhebliche innere Selbständigkeit besaß (deutsche Behörden, deutsche Justiz, deutsche Sprache, evangelische Religion). Die eigentliche Herrschaft in Kurland übte der aus Deutschlandstammende Adel aus. In Kurland galt, wie der baltische Rechtshistoriker Oswald Schmidtin Anlehnung an einen Ausspruch von Rousseau meinte: Der Adel Alles, der Fürst nichts, die Städter weniger als nichts. (3)

Der weitaus größte Teil der auf dem Land lebenden Bevölkerung waren Letten, die seit der Eroberung Kurlands durch den Deutschen Orden mehr und mehr in Leibeigenschaft gerieten. Als Unfreie und „Undeutsche“ konnten sie z. B. nicht das Bürgerrecht in den Städten Kurlands erwerben. Hierdurch waren ihnen in den kurländischen Städten die Handwerkerzünfte und Kaufmannsgilden verschlossen. Den Juden war bis 1799 der Aufenthalt in Kurland mehr oder weniger streng verboten. Deshalb war bis zum Anschluß Kurlands an Rußland (1795) der Kaufmannsstand fast ausschließlich deutscher Herkunft.

Auch unter russischer Herrschaft hatten sich die gesellschaftlichen Verhältnisse in Kurland bis weit in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein nur wenig verändert. Zutreffend erklärte noch 1875 der livländische Landrat Arthur von Richter, daß die ständischen Verhältnisse der Ostseeprovinzen in der europäischen Welt eine Anomalie darstellten.(4)

Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts, besonders durch die sogenannte Russifizierung, begann ein grundlegender Wandel. Mit der Einführung der russischen Städteordnung (1877), durch welche anstelle von Rat und Gilden eine gewählte Stadtverordnetenversammlung trat, verlor die Standeszugehörigkeit und mit ihr die deutsche Kaufmannschaft als besonderer Stand an Bedeutung.

Die wechselvolle Geschichte Kurlands spiegelt sich deutlich in der Genealogie der deutschbaltischen Kaufmannsfamilien, die dort zwischen dem 17. und 19. Jahrhundert lebten, wider. Der deutsche Kaufmannsstand in Kurland war Teil einer fast mittelalterlichen Ständegesellschaft, in der die Stellung des einzelnen wesentlich durch Abstammung, Konnubium und Familienzusammengehörigkeit bestimmt wurde. Daher ist für die Sozialgeschichte Kurlands die Erforschung genealogischer Zusammenhänge von erheblichem Interesse.

Die deutschen Kaufmannsfamilien lebten in Kurland fast ausschließlich in den Städten. Für sozialgeschichtliche und genealogische Forschungen zum deutschbaltischen Kaufmannsstand in Kurland ist die See- und Handelsstadt Libau besonders bedeutsam, denn nur dort, nicht in den anderen kurländischen Städten, hatte sich ein selbstbewußter, vom herrschenden Adel deutlich abgrenzender und wirtschaftlich starker Kaufmannsstand herausbilden können. Im Mittelpunkt der folgenden Darstellungwerden deshalb die deutschen Kaufmannsfamilien in Libau stehen.

Wie stark der Kaufmannsstand im Vergleich zu anderen kurländischen Städten in Libau vertreten war, geht aus der ersten hinreichend aussagefähigen Statistik für Kurland aus dem Jahre 1797 hervor. Dieser Statistik liegen die russischen Steuerlisten „Seelenlisten“ zugrunde. Hiernach gehörten 1797 zum Kaufmannsstand deutscher Nation in den kurländischen Städten (5):

Kurland : Kaufmannsstand 1797

Kurland : Deutscher Kaufmannsstand 1797

In der obigen Statistik sind alle Personen erfaßt, die einer Kaufmannsfamilie (steuerlich) zugerechnet wurden.

Aufschlußreich ist die Entwicklung der Gesamtzahl von Libauer Kaufmannsbürgern, d. h., der Anzahl an Kaufleuten, die das Libauer Bürgerrecht besaßen und der Großen (Kaufmanns-) Gilde angehörten (6):

Ende 1684 - 89

Ende 1710 - 45 (Pest von 1710)

Ende 1737 - 84

Ende 1766 - 116

Ende 1795 - 177 (1795 Anschluß Kurlands an Rußland)

Ende 1825 - 159

Ende 1855 - 95

Die Zunahme an Kaufmannsbürgern in Libau ist vor allem durch die starke Einwanderung aus Deutschland nach Kurland zu erklären. Durch seine geographische Lage an der Ostsee und an der wichtigen Überlandstraße Memel-Riga wurde Libau für zahlreiche aus Deutschland zugewanderte Familien das Tor zum Baltikum.

Die bis Ende des 18. Jahrhunderts starke Wanderungsbewegung zeigt sich auch an dem großen Anteil der zugezogenen Kaufleute. Von den Kaufleuten, die zwischen 1767 und 1795 das Bürgerrecht in einer der nachfolgend genannten Städte erhielten, stammten nicht aus dieser Stadt, sondern waren dorthin zugezogen: Libau 60 %, Windau 52 % und Goldingen 79 %. (7) In der preußischen See- und Handelsstadt Memel betrug der Anteil der zugewanderten Kaufleute an der Gesamtzahl der Kaufleute, die zwischen 1767 und 1795 Mitglieder der Kaufmannszunft von Memel wurden, 65 %.(8) Damit unterschieden sich in dieser Hinsicht die beiden benachbarten Hafenstädte Libau und Memel nur wenigvoneinander.

Besonders nach der Pest von 1710 zogen viele Einwanderer aus Deutschland in das weitgehend entvölkerte Kurland. Wie auch aus den Bürgerlisten von Windau und Goldingen ersichtlich ist, kamen die Kaufleute überwiegend aus Norddeutschland, zunächst aus Lübeck, später in zunehmender Zahl aus dem nahen Ostpreußen. Hingegen waren die Handwerker mehr aus Mitteldeutschland (Sachsen, Thüringen) in die kurländischen Städte eingewandert.

Für das 17. und frühe 18. Jahrhundert lassen sich die Herkunftsorte der Libauer Kaufmannsfamilien aufgrund der unzureichenden Quellenlage nur in einigen Fällen mit Sicherheit nachweisen.(9) So steht z. B. fest, daß die alten Libauer Kaufmannsfamilien Schilder und Schmedden aus Westfalen stammen, denn die Schilder und Schmedden gehörten zu den alten Ratsfamilien im Raum Essen/Wattenscheid. Der Zusammenhang zwischen dem Libauer und dem westfälischen Zweig der beiden Familien ist eindeutig belegbar. Im 17. und frühen 18. Jahrhundert waren die Schilder durch einen Bürgermeister und acht Ratsverwandte im Libauer Magistrat vertreten. Ein Teil der Kaufmannsfamilie Schilder zog später nach Riga.

Auch die Herkunft der alten Libauer Kaufmanns- und Ratsfamilien Poepping und Stahlhodt ist nachgewiesen. Beide Familien stammen aus Lübeck. Die Familie Poepping läßt sich seit etwa 1500 in Lübeck nachweisen, wohin sie wahrscheinlich aus Westfalen eingewandert war. Ein Kaufmann aus dieser Familie war um 1600 „Rigafahrer“, d. h., er betrieb Seehandel mit dem Baltikum. Ein Sohn von ihm ließ sich in Libau nieder, wurde dort 1636 Kaufmann und später Ratsverwandter. In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts zog die Familie Pöpping aus Libau fort, offenbarnach Riga, denn dort wurde einer der in Libau geborenen Söhne 1720 Kaufmann.

Mit der Kaufmannsfamilie Pöpping mehrfach verwandt war das alte Lübecker Ratsgeschlecht Stahlhodt. Ein Sohn aus dieser Familie, der Kaufmann Jürgen Stahlhodt, kam über Memel nach Libau, wo er Ende des 16. Jahrhunderts Bürger und Ratsverwandter wurde. Bereits 1629 erlosch diese Kaufmannsfamilie in Libau im Mannesstamm. Da jedoch die vier Töchter des Jürgen Stahlhodt in angesehene Libauer Kaufmannsfamilien einheirateten, lebte durch deren Nachkommen die Familie Stahlhodt in Libau, wenngleich unter anderem Namen, fort.

Lübeck war bis Ende des 18. Jahrhunderts eine der wichtigsten Städte für die Auswanderung aus Deutschland nach Kurland. Von besonderer Bedeutung für die Genealogie deutschbaltischer Kaufmannsfamilien in Kurland sind die Kinderprotokolle des Lübecker Waisenhauses 1691-1841.(10) Hiernach wurden während dieserZeit 67 Zöglinge aus dem Lübecker Waisenhaus, die fast alle aus sozialen Unterschichten Lübecks stammten, nach Kurland zur Lehre bei den dortigen Kaufleuten geschickt.

Von den 39 Zöglingen des Lübecker Waisenhauses, die im 18. Jahrhundert in die Lehre bei Libauer Kaufleuten kamen, erwarben später 14 als Kaufleute das Libauer Bürgerrecht und 5 blieben wahrscheinlich als Kaufgesellen in Libau. 20 der ehemaligen Zöglinge, also etwa die Hälfte, sind vermutlich nach ihrer Kaufmannslehre aus Libau fortgezogen. In einigen Fällen waren die Libauer Kaufleute, die Zöglinge aus dem Lübecker Waisenhaus als Lehrlinge aufnahmen, selbst ehemalige Zöglinge dieses Waisenhauses. Mehrere der Zöglinge aus dem Lübecker Waisenhaus gründeten in Libau Familien, wurden angesehene Kaufleute dieser Stadt und sind so Beispiele für den sozialen Aufstieg im 18. Jahrhundert in Kurland. Auf ein besonders herausragendes Beispiel, den Libauer Bürgermeister Hermann Heinrich Stender, der Zöglingdes Libauer Waisenhauses war, wird in anderem Zusammenhang noch eingegangen.

Der soziale Aufstieg für viele Zuwanderer aus Deutschland, die in Kurland Familien gründeten, wurde begünstigt durch die Pest von 1710, deren demographische und soziale Auswirkungen für Kurland bis weit in das 18. Jahrhundert reichten. (11) Man schätzt, daß etwa 50 % der Bevölkerung Kurlands an der Pest starben. Von der gesamten Bürgerschaft der kurländischen Stadt Windau überlebten lediglich 7 Familien! In der Libau benachbarten Stadt Grobin fielen bis auf 8 alle Bürger der Pest zum Opfer.In Libau selbst starben an der Pest, wie genauere Untersuchungen des Verfassers aufgrund der Kirchenbücher und der Bürgerverzeichnisse ergaben, etwa 56 % der Kaufmannsbürger.

Die außerordentlich hohen Bevölkerungsverluste wurden in den folgenden Jahrzehnten mehr als ausgeglichen durch die große Zuwanderung aus Deutschland. Hierzu gehörten auch viele Kaufmannsgesellen. Aus dem „Cassa-Buch“ der Libauer Blauen Garde, einer städtischen Garde, der alle Kaufmannsgesellen angehören mußten, lassen sich für fast alle Kaufmannsgesellen für die Zeit 1750-1802 die Herkunftsorte entnehmen. Hiernach kamen von den insgesamt 572 Libauer Kaufmannsgesellen aus Libau 32 %, den anderen Städten Kurlands 17 %, dem übrigen Kurland (also aus dessen ländlichen Gebieten) 15 %, Est- und Livland einschl. Riga 2 %, Memel 10 %, dem übrigen Ost- und Westpreußen 12 %, Lübeck 5 %, dem übrigen Norddeutschland 4%.

Von den aus Libau stammenden Kaufmannsgesellen wurden später 71 % Kaufmannsbürger. Hingegen wurden von den Kaufmannsgesellen, die nicht aus Libau stammten, nur 47 % Libauer Kaufmannsbürger. Etwa 45 % der zugezogenen und 16 % der aus Libau stammenden Kaufmannsgesellen verließen Libau. Offenbar blieben viele der fremden Kaufmannsgesellen nur zur Ausbildung während ihrer Lehrlings- oder Gesellen zeit in Libau. Hierbei war besonders die Wanderungsbewegung zwischen Libau und der benachbarten preußischen See- und Handelsstadt Memel bedeutsam. Von 56 Kaufmannsgesellen, die aus Memel kamen und zwischen 1750 und 1802 der Libauer Blauen Garde angehörten, wurden 22 in Libau Kaufmannsbürger und 15 später Mitglieder der Kaufmannszunft in Memel.

Aber auch viele der Kaufleute, die in Libau das Bürgerrecht erwarben, blieben nicht in dieser Stadt. So sind zwischen 1738 und 1825 etwa 22 % der Kaufmannsbürger aus Libau wieder fortgezogen. Von 553 Kaufleuten, die zwischen 1738 und 1825 Libauer Bürger wurden, stammten 40 % aus Libau, waren 28 % Söhne von Libauer Kaufmannsbürgern, heirateten 62 % in Libau, und zwar 33 % Töchter und 5 % Witwen von Libauer Kaufmannsbürgern.

Ein erheblicher Teil der Libauer Kaufmannsfamilien entstammten Handwerkerfamilien oder dem deutschen ländlichen Mittelstand in Kurland.(12) So kamen von den 364 Kaufgesellen, die aus Kurland stammten und zwischen 1750 und 1802 der Libauer Blauen Garde angehörten, etwa 23 % nicht aus den kurländischen Städten, sondern vom Land. Viele von ihnen heirateten Töchter von Handwerkerfamilien oder aus anderen gegenüber dem Kaufmannsstand sozial tiefer stehenden Schichten. So war der Libauer Kaufmannsstand im 18. und 19. Jahrhundert nicht völlig abgeschlossen, sondern wurde immer wieder aus anderen sozialen Schichten ergänzt.

Jedoch im Gegensatz zu den neu zugewanderten Kaufgesellen und Kaufleuten haben jene, die aus den alteingesessenen Libauer Rats- und Kaufmannsfamilien stammten, fast immer Töchter aus Kaufmannsfamilien oder sozial nicht tiefer stehenden Schichten (Pastoren, Juristen, Ärzte) geheiratet. In den Libauer Kirchenbüchern sind für den Zeitraum 1653-1795 48 Eheschließungen von Töchtern der alten Rats- und Kaufmannsfamilien Harring, von der Horst, Laurentz und Vahrenhorst verzeichnet. Diese Töchter heirateten in 37 Fällen Kaufleute, in jeweils 3 Fällen Pastoren und Juristen. Hieraus läßt sich schließen, daß von den alten Kaufmannsfamilien darauf geachtet wurde, durch die Wahl von zumindest sozial ebenbürtigen Heiratspartnern nicht gesellschaftlich abzusteigen. Außerdem ermöglichten sorgfältiggeplante Heiraten innerhalb des Kaufmannsstandes, über verwandtschaftliche Bindungen geschäftliche Beziehungen zu vertiefen.

Dieses elitäre Heiratsverhalten scheint sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gelockert zu haben, denn seit dieser Zeit gibt es zunehmend Beispiele dafür, daß zugewanderte Kaufgesellen durch Einheirat in alte wohlhabende Kaufmannsfamilien sozial aufsteigen konnten. Zwei dieser Beispiele werden im Zusammenhang mit einer Untersuchung der Lebensläufe von Stadtältesten der Libauer Großen (Kaufmanns-) Gilde noch etwas näher dargestellt.

Die zehn Stadtältesten der Libauer Großen Gilde, an deren Spitze ein Stadtältermann stand, waren ausnahmslos Kaufleute. Sie hatten in Libau erhebliche Bedeutung. Sie entschieden über die wichtigsten kaufmännischen Angelegenheiten dieser See- und Handelsstadt. Nur aus ihren Reihen wurde der Magistrat ergänzt, d. h., alle Bürgermeister, Gerichtsvögte und Ratsherren mußten vorher Stadtälteste der Großen Gilde gewesen sein. Demnach waren in Libau im Gegensatz zu den anderen kurländischen Städten nur die Kaufleute ratsfähig. Die entscheidende Bedingung, um in höhere städtische Amter aufzusteigen, war jedoch nicht der Besitz eines größeren Vermögens, sondern die Eigenschaft, Kaufmannsbürger zu sein.

Aus den Lebensläufen von 61 Kaufleuten, die zwischen 1783 und 1817 zu Stadtältesten der Libauer Großen (Kaufmanns-) Gilde gewählt wurden, ergibt sich: Von ihnen stammten 49 % aus Libau, waren 36 % Söhne von Libauer Kaufmannsbürgern und 16 % Söhne von Libauer Ratsherren, heirateten 66 % Töchter von Libauer Kaufmannsbürgern und 26 % Töchter von Libauer Ratsherren, wurden 52 % zu Libauer Ratsherren gewählt und zogen 13 % aus Libau fort. Das Durchschnittsalter der Stadtältesten betrug beim Eintritt in die Libauer Blaue Garde 23 ]ahre, beim Erwerb des Bürgerrechts 28 ]ahre, bei der 1. Heirat 32 ]ahre, der Wahl zum Stadtältesten 35 ]ahre, zum Ratsherrn 39 Jahre, beim Tod (durchschnittliches erreichtes Lebensalter, wenn zuletzt in Libau ansässig) 64 ]ahre.

Um das Bürgerrecht zu erhalten, mußte man ehelich geboren, frei und christlich sein. Wenn man diese Voraussetzungen erfüllte, war die Herkunft aus einer sozial tieferen Schicht kein entscheidendes Hindernis, um Kaufmannsbürger zu werden. So befanden sich unter den Libauer Ratsherren und Ältesten der Großen (Kaufmanns-) Gilde nicht wenige, die aus Handwerkerfamilien oder unteren sozialen Schichten stammten.

So wurde beispielsweise der Libauer Bürgermeister Hermann Heinrich Stender 1741 als als Sohn eines „Aussackers“ in Lübeck geboren. Er kam 1759 aus dem schon erwähnten Lübecker Waisenhaus nach Libau in die Lehre zum Kaufmann und Bürgermeister Christoph Rump. Bei diesem diente er auch seit 1766 als Kaufmannsgeselle. Nach dessen Tod 1772 wurde er Inhaber der Firma „Seel. Christoph Rump Erben“ und wohlhabender Kaufmannsbürger. 1777 heiratete er eine Tochter des Libauer Ratsherrn und reichen Kaufmanns Friedrich Hagedorn. 1778 wurde er Stadtältester, 1780 Ratsherr und 1789 Bürgermeister. Bei seinem Tod (1804) vermachte er einen Teil seines Vermöens dem Libauer Waisenhaus.

Ein weiteres Beispiel für sozialen Aufstieg ist der Libauer Kaufmann Christian Gottlieb Unger. Er wurde 1762 in Memel als Sohn eines armen Schneiders geboren. 1779 kam er in die Lehre zum Libauer Kaufmann und Stadtältesten ]oachim Perlmann, der später Bürgermeister wurde. 1784 wurde Unger Kaufmannsgeselle und 1791 Kaufmannsbürger. 1795 heiratete er eine Tochter des Libauer Kaufmanns und Ratsherrn Johann Bruno Vahrenhorst. 1796 wurde er Stadtältester, 1798 Ratsherr und 1818 Bürgermeister. Er besaß ein großes Vermögen, das er jedoch später verlor, denn nach seinem Tod (1838)wurde über den Rest seines Vermögens ein Konkursverfahren eröffnet.

Diese und andere Beispiele für sozialen Aufstieg sind jedoch nicht die Regel. Vielen (wahrscheinlich den meisten) Kaufmannsgesellen und Kaufleuten gelang es nicht, über bescheidene Lebensverhältnisse hinauszukommen. Die genannten Zahlen deuten darauf hin, daß ein großer Teil der Kaufmannsgesellen nicht in Libau ansässig wurde.Offenbar war es vielen von ihnen aus finanziellen Gründen nicht möglich, sich in Libau als Kaufmann zu etablieren und dort eine Familie zu gründen. Im Cassa-Buch der Blauen Garde sind viele Kaufmannsgesellen vermerkt, die aus Libau fortzogen, um - wie es in dieser Quelle heißt - „woanders ihr Glück zu suchen“.

Wie bereits erwähnt, riß die Pest von 1710 in das Bürgertum der kurländischen Städte und so auch in die alten Libauer Kaufmannsfamilien gewaltige Lücken. Hinzu kam, daß die sehr erheblichen Belastungen des Nordischen Krieges den Wohlstand dieser Kaufmannsfamilien ruinierte. Nach und nach wanderten viele von ihnen während der ersten Hälfte des 18. ]ahrhunderts aus. Daher gab es am Ende des Jahrhunderts nur wenige Kaufmannsfamilien, die schon vor 1710 in Libau ansässig waren. Zu diesen gehörten die Harring, von der Horst, Laurentz, Vahrenhorst und Voegeding. Diese Familien waren Ausnahmen, denn wegen der starken Bevölkerungsfluktuation gab es in Libau nur eine geringe Zahl an Kaufmannsfamilien, die dort mit mehr als vier Generationen vertretenwaren.

Durch den Niedergang des Handels während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts verstärkte sich noch die Abwanderung von Kaufmannsfamilien aus Kurland. Viele kurländischen Kaufleute gingen vor allem nach Riga und St. Petersburg. Bereits im 18. Jahrhundert gab es in Riga und später auch in St. Petersburg zahlreiche Kaufmannsfamilien, die aus Deutschland über Kurland dorthin zugewandert waren. Auffallend ist, daß diese Wanderungsbewegung nur sehr selten in die umgekehrte Richtung erfolgte. Das zeigt sich auch daran, daß von den 572 Kaufmannsgesellen, die zwischen 1750 und 1802 der Libauer Blauen Garde angehörten, lediglich 7 aus Riga und 4 aus dem übrigen Est- und Livland kamen. Offenbar boten Riga und später St. Petersburg bessere Erwerbsmöglichkeiten als Kurland, denn diese großen Ostseestädte wurden von der russischen Regierung gegenüber den kurländischen Städten handels- und zollpolitisch stark begünstigt.

Die Abwanderung aus Kurland ist eine der Gründe dafür, daß in der Liste der Libauer Großen Gilde aus dem Jahre 1857 kaum ein Name der Kaufmannsfamilien aus der Zeit um 1800 und kein Name einer Libauer Kaufmannsfamilie aus der Zeit vor 1710 zu finden ist.

Ein weiterer Grund für das Erlöschen alter Kaufmannsfamilien liegt darin, daß viele verstorbene Kaufleute entweder keine legitimen männlichen Nachkommen hinterließen oder ihre Söhne nicht mehr dem Kaufmannsstand angehörten. Nicht wenige Söhne wohlhabender kurländischer Kaufleute ergriffen im 18. und 19. Jahrhundert akademische Berufe (Pastoren, Ärzte, Juristen) und wurden dadurch - wie man die Akademiker in Kurland nannte - Literaten. Ein Beispiel hierfür sind die drei Söhne des aus Memel um 1790 nach Libau eingewanderten, aus einer calvinistisch-schottischen Familie stammenden Kaufmannsbürgers Jakob Ludwig Melville: Der erste wurde Pastor, der zweite Jurist und der dritte Arzt in Kurland. So entstand in zahlreichen Fällen aus einer Kaufmanns- eine Literatenfamilie. Durch Herkunft und Einheirat waren ohnehin viele kurländische Kaufmannsfamilien mit Literatenfamilien verwandtschaftlich eng verbunden.

Oft traten Söhne aus kurländischen Kaufmannsfamilien (wie z. B. aus der Familie Becker) in den russischen Zivil- oder Militärdienst ein und erwarben dort, wenn sie bestimmte Ränge erreichten, den persönlichen oder erblichen Dienstadel.(13)

Mit dem Erlöschen alter Kaufmannsfamilien traten, wie ein Vergleich der Bürgerlisten zeigt, neue Kaufmannsfamilien in den Vordergrund. Junge Kaufmannsgesellen und Kaufleute zogen nach Libau und gründeten dort neue Kaufmannsfamilien. Manche von ihnen stammten aus alten Kaufmannsfamilien der anderen kurländischen Städte. Beispiele hierfür sind die Familien Gamper aus Goldingen, Mahler aus Windau undGoldingen, Tottien aus Mitau. (14)

Einige der neuen Kaufmannsfamilien in Libau waren über die Frauen mit den alten Libauer Kaufmannsfamilien verwandtschaftlich verbunden, so daß sie mitunter ihre Abstammung in mütterlicher Linie weit in die Libauer Vergangenheit zurückverfolgen konnten. Wohl noch wichtiger war, daß durch die Heirat von Witwen oder Töchtern von Kaufmannsbürgern Vermögen übertragen wurde und alteingesessene Firmen, wenngleich auch oft unter einem anderen Namen, fortgeführt werden konnten. Ein eindrucksvolles Beispiel hierfür ist die Kaufmannsfamilie Puchert:

1853 wurde Georg Dietrich Puchert, Sohn eines Müllers in Kurland, Kaufmannsbürger in Libau, nachdem er vorher als Kaufmannsgeselle bei der Firma Hagedorn gedient hatte. 1854 heiratete er eine unehelich geborene Tochter des Libauer Kaufmanns Heinrich Hagedorn. Später wurde die Tochter wahrscheinlich von ihrem Vater legitimiert,denn sie führte bei ihrer Eheschließung den Familiennamen Hagedorn.

Ihr Vater, Heinrich Hagedorn, war ein Urenkel des gleichnamigen Heinrich Hagedorn, der aus Bremen kam und um 1727 in Libau Kaufmannsbürger wurde. Heinrich (I.) heiratete die Tochter eines Libauer Kaufmanns. Zu den Vorfahren dieser Tochter gehörten in mütterlicher Linie die Libauer Kaufleute Johann Plander und Melchior Schilder, welche um 1670 Libauer Bürgermeister waren. Nach dem Tod von Heinrich (II.) Hagedorn (1860) erbte die Familie Puchert dessen Haus im Stadtzentrum von Libau. Die Familie Puchert baute später dieses Haus aus und betrieb darin das Getreide-Engros-Geschäft. Georg Dietrich Puchert war Großkaufmann, Reeder sowie seit 1869 Ratsherr und 1887-88 Bürgermeister von Libau. Nach seinem Tod (1910) setzten seine Söhne in Libau den Getreidegroßhandel fort.

Um 1939 starb Friedrich Puchert, der letzte noch lebende Sohn von Georg Dietrich Puchert. Er war ein sehr wohlhabender Kaufmann und Bürger der Libauer Großen Gilde. Ein großer Teil seines Vermögens dürfte wohl auf das Erbe der reichen Libauer Kaufmannsfamilie Hagedorn zurückzuführen sein. Durch die Einheirat in die Familie Hagedornwar die Familie Puchert über mehr als 7 Generationen hinweg mit Kaufmannsfamilien verbunden, die seit der Erteilung des Stadtprivilegs (1625) Wirtschaft und GesellschaftLibaus maßgeblich prägten.

Bedingt durch die politischen Umwälzungen seit 1914, vor allem durch die Umsiedlung als Folge des deutsch-sowjetischen Abkommens von 1939, kam der weitaus größte Teil der deutschbaltischen Familien nach Deutschland. Diese Familien kamen in ein Land zurück, aus welchem ihre Vorfahren Jahrhunderte zuvor ausgewandert waren. Ziel vieler deutschbaltischer genealogischer Forschungen ist es, das Schicksal dieser Familienüber eine Reihe von Generationen bis auf ihre Ursprungsheimat in Deutschland zurückzuverfolgen. Die genealogische Erforschung deutschbaltischer Kaufmannsfamilien, diein Kurland, insbesondere in Libau, ansässig waren, kann hierzu einen wichtigen Beitrag leisten.