3. Gleichgewicht gegen Kippen beim gelenkten Fahren

3.1 Zusammenfassung

Liegt der Schwerpunkt des Systems Fahrer - Fahrrad nicht in der Senkrechten, so tritt infolge der Schwerkraft ein Kippmoment um die x-Achse auf, das ohne ein entgegengesetztes Drehmoment zum Kippen führt. Kippmomente können auch durch äussere Kräfte, zum Beispiel Seitenwind verursacht werden. Auch solche Momente müssen für eine stabile Fahrt kompensiert werden.

In Abwesenheit von äusseren Kräften lässt sich die Gleichgewichtsbedingung sehr einfach geometrisch formulieren. Gleichgewicht ist erreicht, wenn der Summenvektor der Schwerkraft und der Zentrifugalkraft um den selben Winkel verkippt ist wie der Schwerpunkt (siehe Bild 3). Die Zentrifugalkraft ist proportional zur Geschwindigkeit im Quadrat. Das heisst, dass sie mit abnehmender Geschwindigkeit sehr rasch abnimmt und irgendeinmal nicht mehr genügt um Kippmomente zu kompensieren. An ihre Stelle tritt eine der Zentrifugalkraft verwandte Kraft, die spezifisch für das Fahrrad ist. Hier wird sie Knickkraft genannt. Wird der Lenker instantan gedreht, so beschreibt die Trajektorie des Vorderrades einen Knick. Erfolgt die Drehung langsamer, so entsteht an Stelle eines Knicks ein vorübergehend sehr kleiner Kurvenradius. Genau wie der Kurvenradius in einer stationären Kurvenfahrt eine Zentrifugalkraft auslöst, bewirkt der momentane kleine Kurvenradius eine momentane analoge Kraft, die Knickkraft. Sie wird ausgelöst durch ein rasches Ausdrehen des Lenkers.

Bild 3: Im Gleichgewicht liegt der Summenvektor von Zentrifugalkraft und Schwerkraft in der Symmetrieebene.


In der Tat stellt man fest, dass beim Verlangsamen der Geschwindigkeit unterhalb Fussgängertempo rasche Korrekturbewegungen am Lenker erforderlich werden um das Gleichgewicht zu halten. Man befindet sich dann nicht mehr im Zentrifugalkraft Regime, sondern im Knickkraft Regime. Gleichgewicht ist immer noch möglich, allerdings nicht mehr als stationäres, sondern nur noch als dynamisches Gleichgewicht.

3.2 Drehmomente der Schwerkraft und der Zentrifugalkraft

Die Schwerkraft erzeugt ein Drehmoment um die x-Achse, das für kleine Kippwinkel proportional zur Verkippung θs des Schwerpunkts gegenüber der Vertikalen ist.

Dabei ist g die Erdbeschleunigung (9.81 m/sec²), ms die totale Masse, H die Höhe des Schwerpunkts über Boden und θs der Kippwinkel des Schwerpunkts. Im Gleichgewicht wird das Kippmoment durch ein entgegengesetztes aufrichtendes Moment Mz der Zentrifugalkraftkompensiert. Für kleine Fahrwinkel α gilt:

(L = Radstand, v = Geschwindigkeit) Daraus folgt unmittelbar die Gleichgewichtsbedingung:

oder linearisiert:

3.3 Die Knickkraft

Die Fliehkraft ist proportional zum Quadrat der Geschwindigkeit und nimmt folglich mit sinkender Geschwindigkeit rasch ab. Das durch die Schwerkraft induzierte Kippmoment dagegen ist unabhängig von der Geschwindigkeit. Unterhalb einer gewissen Geschwindigkeit ist die Zentrifugalkraft nicht mehr in der Lage Verkippungen zu kompensieren. Trotzdem ist Fahhradfahren auch bei extrem kleinen Geschwindigkeiten immer noch möglich. Verantwortlich dafür ist eine der Zentrifugalkraft sehr eng verwandte Kraft, die hier Knickkraft genannt wird. Eine ausgezeichnete Besprechung der Stabilität beim gelenkten Fahren im Rahmen eines regeltechnischen Ansatzes geht auf Åström, Klein und Lennartsson (1) zurück. Dort werden ebenfalls experimentelle, fahrbare und unfahrbare Fahrräder vorgestellt und im Rahmen der linearen Regeltechnik diskutiert.

Wird der Lenker eines Fahrrades blitzartig ausgelenkt, so beschreibt die Trajektorie des Vorderrades einen Knick. Dies entspricht einem momentan unendlich kleinen Kurvenradius und hat eine Scheinkraft analog zur Fliehkraft zur Folge. Die Trajektorie des Hinterrades dagegen zeigt keinen Knick. Am Ort des Schwerpunktes ist der Knick um das Verhältnis A/L reduziert (A = Horizontaler Abstand des Schwerpunkts von der Hinterrad-Nabe, siehe Kap.2). Auslenkungen mit endlicher Geschwindigkeit führen nicht zu einem Knick, aber zu momentan reduzierten Kurvenradien des Vorderrades. Die resultierende Kraft ist proportional zum Produkt Geschwindigkeit mal Drehgeschwindigkeit des Lenkers. Daraus resultiert ein Drehmoment das eingesetzt werden kann um das Kippmoment zu kompensieren.

Die Knickkraft hat eine einfache physikalische Interpretation. Verkippungen des Schwerpunkts korrigiert man, indem man laufend mit dem Rahmen wieder unter den Schwerpunkt fährt. Genau das umgekehrte streben Rennfahrer beim Anfahren einer Kurve an. Zunächst wird der Lenker rasch und kurzzeitig in die "falsche" Richtung bewegt. Der Schwerpunkt bewegt sich weiterhin in gerader Linie, aber das Fahrrad oder Motorrad fährt darunter seitlich weg. Dies erzwingt ein extrem rasches Verkippen. Sobald der für den angestrebten Kurvenradius erforderliche Kippwinkel erreicht ist, wird der Lenker auf die Gegenseite gedreht und die Kurve angefahren. Fajans hat dies - allerdings in der Näherung Φ = 90°, in der wichtige Aspekte der Physik verloren gehen - ausführlich diskutiert.

Mathematisch kommt die Knickkraft wie folgt zustande. Die Zentrifugalkraft ist proportional zur Winkelgeschwindigkeit im Quadrat. Diese setzt sich zusammen aus der Winkelgeschwindigkeit des Hinterrads und der Winkelgeschwindigkeit des Schwerpunkts in Bezug auf das Hinterrad. Bei konstanter Lenkerstellung σ, d.h. konstantem Fahrwinkel α fällt der zweite Term weg. Es gilt die übliche Formel für die Zentrifugalkraft. Ist dσ/dt, resp. dα/dt verschieden von Null so führt die zusätzliche Winkelgeschwindigkeit auf den Zusatzterm der Knickkraft.

Die Gleichungen unten gelten im mitgeführten Koordinatensystem. In ihnen bedeutet dα/dt die Winkelgeschwindigkeit der Vorderrad Trajektorie, Rs der Radius der durch dα/dt ausgelösten Drehung des Schwerpunkts und Fk die Knickkraft.

Bild 4 zeigt die Bedeutung der Knickkraft für die Stabilität. Angenommen ist, dass das Fahrrad mit 8 km/h geradeaus fährt und durch einen Stoss aus dem Gleichgewicht geworfen wird. Der Fahrer reagiert darauf mit einer schnellen Korrekturbewegung des Lenkers. Die aufrichtende Zentrifugalkraft (blaue Kurve) ist proportional zur Lenkerausdrehung. Die Knickkraft ist proportional zur ersten Ableitung der Ausdrehung (grüne Kurve). Die Summenkraft (rote Kurve) eilt der Ausdrehung, reps. der Zentrifugalkraft voraus. Wichtig für die Stabilität ist dabei weniger der rasche Einsatz der aufrichtenden Wirkung, als die zügige Abnahme beim Zurückdrehen. Überreaktionen des Fahrers wirken sich daduch weniger aus. Die Regelung wird robuster.

Der positive Effekt der Knickkraft ist umso wichtiger, je kleiner die Geschwindigkeit. Bei kleinen Geschwindigkeiten sind die Ausdrehungen gross und schnell und der Anteil der Knickkraft an der Summenkraft hoch. Bei hohen Geschwindigkeiten ist der Beitrag der Knickkraft gering.

Bild 4 Reaktion auf eine Störung des Gleichgewichts bei einer Geradeausfahrt mit 8 km/h. Die Summenkraft aus Knickkraft und Zentrifugalkraft eilt des Ausdrehung voraus.

Beim Rückwärtsfahren oder bei einem hinterradgesteuerten Fahrrad ändert sich das Vorzeichen der Knickkraft. Die Summenkraft hinkt jetzt der Lenkerausdrehung nach. Dies provoziert Überreaktionen des Fahrers und unkontrollierte anwachsende Oszillationen. Ein hinterradgesteuertes Fahrrad ist unfahrbar, ausser man minimiert die Knickkraft, indem man den Schwerpunkt über das Hinterrad legt. Da ein hinterradgesteuertes Motorrad viele konstruktive und sicherheitstechnische Vorteile hätte, wurde die Entwicklung eines solches Gefährts vom US Department of Transportation in Auftrag gegeben. In seinen statischen Eigenschaften war das neue Motorrad nahe am angestrebten theoretischen Ideal. Seine Stabilität war im wahrsten Sinn des Worts umwerfend. Auch professionelle Rennfahrer stürzten nach wenigen Sekunden.

3.4 Die Bedeutung des Nachlaufs

Der Nachlauf destabilisiert die symmetrische Gleichgewichtslage des Lenkers. Ist der Lenker ausgedreht und/oder der Rahmen verkippt, so treten am Lenker Drehmomente auf. Die Drehmomente unterstützen den Fahrer beim Erreichen und Stabilisieren des Gleichgewichts. Sie führen sozusagen die Hand des Fahrers. Für das Freihandfahren ist der Nachlauf bei einem normalen Fahrrad unabdingbar. Bei einem Vorlauf wechseln die Drehmomente das Vorzeichen. Freihandfahren wird unmöglich. Das hat zur Folklore geführt, dass auch für das Fahren mit der Hand am Lenker ein Nachlauf zwingend erforderlich sei. Gewisse Ausführungsformen von Trottinetts weisen keinen Nachlauf auf. Infolge der sehr kleinen Räder müsste die Vordergabel nach hinten gekröpft sein, um einen nennenswerten Nachlauf zu erzeugen.Trotzdem ist ein Trottinett sogar für kleine Kinder leicht fahrbar.

Die häufig geäusserte Behauptung, der Nachlauf verhalte sich wie beim Einkaufswägelchen ist falsch. Beim Einkaufswägelchen bewirkt der Nachlauf infolge von Schleppkräften eine Parallelstellung der Räder. Das Fahrrad weist keine analoge Schleppkräfte auf, weil seine Freiheitsgrade ganz anders sind. Beim Fahrrad destabilisiert der Nachlauf - im Gegensatz zum Einkaufswägelchen - die Parallelstellung der Räder.

Der hilfreiche und unterstützende Effekt des Nachlaufs beim gelenkten Fahren lässt sich leicht ausschalten. Man hängt ein Gewicht, z. B. eine schwere Einkaustasche, einseitig aussen am Lenker an. Dies löst ein sehr kräftiges ausdrehendes Drehmoment aus. Es ist viel stärker, als das durch den Nachlauf induzierte Drehmoment. Damit sind alle intrinsischen Stabilisierungseffekte ausser Kraft gesetzt. Zugegeben, das Fahrrad wird dadurch wesentlich schwieriger zu fahren. Unfahrbar wird es jedoch nicht. Die Bedeutung des Nachlaufs für das gelenkte Fahren wird überschätzt. Er ist vor allem in der Lernphase wichtig, weil er ein Drehmoment bewirkt, das dem Fahrer die Richtung der erforderlichen Korrekturbewegung anzeigt. Gelenktes Fahren wird über die Lenkerausdrehung kontrolliert, Freihandfahren über Drehmomente am Lenker. Die Bedeutung des Nachlaufs ist deshalb nicht vom Freihandfahren auf das gelenkte Fahren übertragbar.

(1) Karl J. Åström, Richard L. Klein and Anders Lennartsson, IEEE Control Systems Magazine, August 2005, pp. 26 - 47

Karl J. Åström