10. Freihandfahren ohne Mathematik

Ein umfassende Darstellung mit mathematischen Formeln und ausführlichen Begründungen der hier gemachten Aussagen findet sich HIER.

Dass man Freihandfahren kann scheint wie ein Wunder, befindet sich doch das Fahrrad in einem labilen Gleichgewicht gegen Kippen. Beim Fahren mit der Hand am Lenker sorgt man mit Lenkerbewegungen für Stabilität. Ein drohendes Kippen wird mit Einschlagen des Lenkers verhindert. Beim Freihandfahren fehlt dieser Freiheitsgrad. Offensichtlich ist beim Freihandfahren ein Regelmechanismus aktiv, der bei einer Abweichung vom Sollwert autonom die für Stabilität und für die Rückkehr zum Sollwert erforderlichen Lenkerbewegungen einleitet. Erstaunlicherweise wird Freihandfahren weder in der populärwissenschaftlichen noch in der wissenschaftlichen Literatur unter dem Aspekt der Regeltechnik diskutiert. Freihandfahren ist bei jeder Geschwindigkeit oberhalb etwa 10 km/h möglich. In der Literatur existieren dazu keine belastbaren Modelle und Erklärungen.

Ein korrektes Modell muss erklären können, dass das Fahrrad

· ohne Zutun des Fahrers das Fahrrad stabil geradeaus fährt

· nach einer Störung idealerweise selbständig wieder in die Geradeausfahrt zurückkehrt.

· Sollte der Fahrer selbst Einfluss nehmen müssen, z. B. über den Kippwinkel des Rahmens, so muss ihm für die Korrektur eine genügend lange Reaktionszeit zur Verfügung stehen.

Im Folgenden werden drei Modelle betrachtet.

1. Das Präzessionsmodell der Physikvorlesung

2. Das autonome Standardfahrrad

3. Freihandfahren mit aktiver Einflussnahme des Fahrers

Modell 1) kennt keinen Zustand stabil gegen Kippen. Modell 2) kommt bis 20 km/h zur Anwendung. Nur in diesem Bereich ist das Fahrrad eigenstabil. Oberhalb 20 km/h ist zum Freihandfahren eine Einflussnahme des Fahrers erforderlich (Modell 3).

Das reine Präzessionsmodell

In Physikvorlesungen wird verbreitet die Präzession als Erklärung der Stabilität beim Freihandfahren benutzt. Die Stabilität eines rollenden Einzelrads wird durch die Präzession gewährleistet. Im Folgenden wird gezeigt, dass die Behauptung, dass dies auch für ein Fahrrad gilt, ein Trugschluss ist.

Das Vorlesungsmodell bezieht sich auf ein Fahrrad mit masselosem Rahmen und einer Position des Schwerpunkts oberhalb der Vorderradnabe. Damit hat man das System auf ein Einzelrad mit masselosem Anhänger reduziert. Genau wie ein Einzelrad ist dieses System oberhalb Fussgängertempo stabil gegen Kippen. Induziert eine Störung, zum Beispiel ein Windstoss quer zur Fahrrichtung einen Kippwinkel θ, so kippt das Fahrrad nicht. Es geht jedoch nicht in eine Geradeausfahrt über, sondern in eine stationäre Pendelbewegung des Kippwinkels. Bei wiederholten Windstössen summieren sich die Amplituden des Pendelns. Die Forderung der Rückkehr in die Geradeausfahrt ist nicht erfüllt, Freihandfahren ist nicht möglich.

Das Modell ist auch untauglich, weil Sitzen auf der Lenkstange auf die Dauer unbequem ist. Verlegt man den Schwerpunkt nach hinten, in die Gegend des Sattels, so werden die Probleme nur grösser. Ein schnelles Kippen löst über die Präzession ein schnelles Drehen des Vorderrads aus. Damit verbunden ist ein Knick in der Vorderrad Trajektorie. Die Hinterrad Trajektorie zeigt keinen Knick, sondern einen stetigen Übergang. Das Hinterrad schwenkt mit Verzögerung in die Vorderrad Trajektorie ein. Leicht abgeschwächt gilt dies auch für den Schwerpunkt. Die verzögerte und verminderte Reaktion des Schwerpunkt-Fahrwinkels auf eine Störung führt dazu, dass die Pendelamplituden nicht wie im Modell oben konstant bleiben, sondern exponentiell zunehmen. Dies führt innert wenigen Sekunden zum Sturz. Ein rein über die Präzession stabilisiertes Fahrrad ist instabil.


Bild F1
Reaktion eines rein kreiselstabilisierten Fahrrads auf einen Stoss von 1° auf den Schwerpunkt.

Ein Stoss entsprechend einem Sprung des Kippwinkels von 0° auf 1° bei t = 0 löst über die Präzession eine Drehgeschwindigkeit des Lenkers aus. Der Kippwinkel nimmt zunächst wie erwartet ab, überschiesst dann allerdings. Die verzögerte Reaktion des Schwerpunkts auf Änderungen der Lenkerdrehung führt zu unbegrenzt anwachsenden Pendelbewegungen.

Das autonome Fahrrad

Als nächstes betrachten wir ein autonomes Standardfahrrad. Bei ihm ersetzt eine äquivalente Masse den Fahrer. Oberhalb etwa 10 km/h existiert für jeden (kleinen) Kippwinkel θ eine Lenkerdrehung σkipp bei der das Fahrrad eine stationäre Kreisbahn durchläuft. Bei einer kleineren Drehung kippt das Fahrrad, bei einer grösseren richtet es sich auf.

Bei einer stationären Kreisbahn greifen am Bodenkontaktpunkt des Vorderpneus zwei Kräfte an, die nach aussen gerichtete Zentrifugalkraft und die nach oben gerichtete Normalkraft (Gegenkraft zur Schwerkraft). Über den Nachlauf als Kraftarm üben sie ein Drehmoment auf den Lenker aus, die Zentrifugalkraft ein rückstellendes, die Normalkraft ein ausdrehendes. Die Gleichgewichtsdrehung des Lenkers σlenk ist gegeben durch die Bedingung, dass sich die beiden Drehmomente zu Null addieren. Ist σlenk grösser als σkipp, so richtet sich das Fahrrad auf, ist σlenk kleiner als σkipp, so kippt das Fahrrad. Im regeltechnischen Modell bezeichnet man das Verhältnis G = σlenk/σkipp der beiden Drehwinkel als Gegenkopplungsfaktor (Bild F2). Ist der Gegenkopplungsfaktor grösser als eins, ist das Fahrrad stabil gegen Kippen.

Bild F2 zeigt, dass oberhalb 20 km/h der Gegenkopplungsfaktor kleiner ist als eins. Autonomes Freihandfahren ist oberhalb 20 km/h nicht möglich. Unterhalb 20 km/h führt G > 1 dazu, dass sich das Fahrrad nach einer Störung aufrichtet und in die Geradeausfahrt zurückkehrt. Ohne Dämpfungseffekte im Lenkersystem würden rasche und unbegrenzt anwachsende Lenkerschwingungen zum Sturz führen. Sowohl die Kabelzüge zwischen Lenker und Rahmen wie auch die Reibung am Bodenkontakt beseitigen oberhalb rund 10 km/h die oszillatorische Instabilität. Die in der Literatur beschriebenen oszillatorischen Instabilitäten sind Artefakte infolge Vernachlässigung der Dämpfung.

Bild F2
Gegenkopplungsfaktor
G = σlenk/σkipp als Funktion der Geschwindigkeit.

Ein Gegenkopplungsfaktor G grösser als eins bedeutet Stabilität gegen Kippen. Dies ist nur unterhalb 20 km/h der Fall (Bild F2).

Oberhalb 20 km/h liegt G nur knapp unterhalb eins. Der Regelmechanismus ist immer noch aktiv, genügt aber knapp nicht um Kippen zu vermeiden. Er ist jedoch eine Voraussetzung dafür, dass der Fahrer beim Freihandfahren durch aktive Einflussnahme das Fahrrad auch oberhalb 20 km/h stabilisieren kann.

Die Regeltechnik kennt zwei wichtige Begriffe. Der erste betrifft die Stabilität. Ein stabiles System kehrt nach einer Störung von sich aus in den Sollzustand zurück. Der zweite Begriff ist die Stossantwort (Bild F3). Erfährt das Fahrrad eine Störung in Form eines normierten Stosses, so beschreibt die Stossantwort wie und wie rasch das System in den Sollzustand, die Geradeausfahrt, zurückkehrt. Dies kann stetig oder mit Überschwingen geschehen. Ideal ist eine möglichst schnelle und glatte Rückkehr. Hier spielt beim autonomen Fahrrad die Präzession eine wichtige Rolle. Sie ist zwar – im Gegensatz zur weit verbreiteten Folklore – im Ausdruck für Stabilität nicht enthalten, übt aber einen markant positiven Einfluss auf die Stossantwort aus (siehe Bild F3)

Bild F3
Einfluss der Präzession auf die Stossantwort des Kippwinkels eines autonomen Fahrrads bei 15 km/h. Dem System wurde zum Zeitpunkt t = 0 eine Kippgeschwindigkeit aufgeprägt. Blaue Kurve mit Präzession, rote Kurve ohne Präzession. Die Präzession dämpft das Überschwingen. Das System kehrt schneller in den Sollzustand zurück. Das Fahrrad
fährt jedoch auch ohne Präzession stabil.

In den reinen Kreiselmodellen wird immer nur betrachtet, was in der Anstiegsphase des Kippens passiert. Dort verstärkt die Präzession die Ausdrehung des Lenkers und verstärkt damit die aufrichtenden Kräfte. Dies reduziert das Maximum des Kippwinkels nach einer stossförmigen Störung (Bild F3).

Die wichtigere Phase, der Abfall des Kippwinkels bei der Rückkehr ins Gleichgewicht wird in den Kreiselmodellen ignoriert. Dort hat die Präzessionswirkung das Vorzeichen gewechselt und schwächt die Lenkerdrehung. Als Folge klingt die Störung zunächst langsamer ab. Da gleichzeitig das Überschwingen stark gedämpft wird, geschieht die Rückkehr ins Gleichgewicht trotzdem schneller und vor allem gleichmässiger als ohne Präzession.

Freihandfahren oberhalb 20 km/h

Bild F3 bezieht sich auf den Geschwindigkeitsbereich unterhalb 20 km/h, in dem das autonome Fahrrad nach einer Störung auch ohne Einwirkung des Fahrers in den Sollzustand zurückkehrt. Oberhalb 20 km/h besteht die Stossantwort aus einer unbegrenzten Zunahme des Kippwinkels. Freihandfahren ist in diesem Geschwindigkeitsbereich nur möglich, falls der Fahrer ein aktives Glied im Regelkreis ist. Das Modell des autonomen Fahrrads versagt.

Oberhalb 20 km/h kippt das autonome Fahrrad weil die induzierte Lenkerdrehung σlenk für einen gegebenen Kippwinkel zu klein ist um Kippen zu vermeiden. Der Gegenkopplungsfaktor G = σlenk/σkipp (siehe Bild F2) liegt unterhalb von 1. Die erforderliche Strategie zum Stabilisieren des Fahrrads für v > 20 km/h ist klar. Der Drehwinkel des Lenkers σkipp für Gleichgewicht gegen Kippen ist proportional zum Kippwinkel θs des Schwerpunkts. Der Gleichgewichtsdrehwinkel σlenk des Lenkers ist proportional zum Rahmenkippwinkel θr. Durch Erhöhen des Rahmenkippwinkels θr gegenüber dem Schwerpunktkippwinkel θs lässt sich die Lenkerdrehung erhöhen. Damit erhöht sich der Gegenkopplungsfaktor G = σlenk/σkipp (siehe Bild F2) um den Faktor C = θrs. Für Stabilität gegen Kippen ist G > 1 erforderlich. Da G auch für sehr hohe Geschwindigkeiten für θr = θs nur knapp unterhalb 1 liegt, lässt sich mit C = 1.1 oder grösser die Gegenkopplung problemlos auf Werte oberhalb von 1 steigern. Dem Fahrer fällt es leicht, mit einem Hüftknick die Kippung des Rahmens zu erhöhen und damit das Fahrrad zu stabilisieren.

Damit ist das Problem des Freihandfahrens noch keineswegs gelöst. Der Fahrer kann auf Störungen nicht instantan reagieren. Er tut dies mit einer charakteristischen Reaktionszeit τ. Stabilität ist nur gegeben, wenn der Fahrer rasch genug reagiert. Wird die maximal zulässige Reaktionszeit überschritten, so geht das Fahrrad in unkontrolliert anwachsende Pendelbewegungen über.

Bild F4
Freihandfahren bei verschiedenen Reaktionszeiten des Fahrers für ein Verhältnis Rahmenkippwinkel/Schwerpunktkippwinkel C = 1.3

Bild F4 zeigt die zeitliche Entwicklung nach einer Störung bei 30 km/h für C = θrs = 1.3. Beim autonomen Fahrrad steigt der Kippwinkel unbegrenzt an. Bei der zu langen langen Reaktionszeit von 4 Sekunden treten anwachsende Pendelbewegungen auf. Bei einer Reaktionszeit von 1 Sekunde klingen die Schwingungen ab.

Bild F5
Maximal erlaubte Reaktionszeiten für stabiles Freihandfahren oberhalb 20 km/h. Der Parameter C
beschreibt das Verhältnis Rahmenkippwinkel zu Schwerpunktkippwinkel.

Bild F5 zeigt, dass eine Reaktionszeit in Reichweite eines Fahrers nur dank der Präzession zu erreichen ist. Eliminiert man rechnerisch die Präzession, indem man die Masse des Vorderrads gleich Null setzt, so liegt die maximal zulässige Reaktionszeit unterhalb derjenigen auch eines geschickten Fahrers. Der in dieser Arbeit erstmals vorgestellte Befund, dass ohne Präzession Freihandfahren oberhalb 20 km/h praktisch ausgeschlossen ist, ist überraschend. Dies ist die einzige Fahrsituation, in der die Präzession nicht bloss hilfreich, sondern unabdingbar ist. Bis heute hat man die wichtigste Bedeutung der Präzession übersehen.