4. Lenkgeometrie und Nachlauf

Im Allgemeinen liegt der Kontaktpunkt des Vorderrades nicht in der Steuerrohrachse (Bild 5). Da am Kontaktpunkt K des Pneus mit dem Boden Kräfte angreifen, wirkt der Abstand Δ zwischen K und der Steuerrohrachse als Kraftarm und erzeugt ein Drehmoment. Liegt der Kontaktpunkt hinter der Achse, so spricht man von Nachlauf. Die hier verwendete Vorzeichenkonvention ist so, dass Δ bei Nachlauf negativ ist und bei Vorlauf positiv.

Solange kein externes Drehmoment auf den Lenker wirkt, zum Beispiel beim Freihandfahren, ist die Gleichgewichtslage des Lenkers gegeben durch die Bedingung Drehmoment = 0. Dazu gibt es generell zwei Lösungen. Die erste ist dadurch gegeben, dass sich die Drehmomente aller Kräfte aufheben. Die zweite dadurch, dass der Kraftarm Δ (Nachlauf) gleich Null ist und damit, unabhängig von den Kräften, kein Drehmoment auftritt.

Der Nachlauf entsteht durch den von 90 Grad abweichenden Winkel Φ der Steuerrohrachse. Durch die Kröpfung kr oder gleichwertige Massnahmen bei Federgabeln (Parallelverschiebung oder Knick), wird der Nachlauf meist ungefähr halbiert. Typisch wird der Nachlauf von ursprünglich etwa -12 cm auf -6 cm reduziert.

Bild 5: Lenkgeometrie eines typischen Fahrrades. Der Nachlauf Δ wird durch eine Kröpfung, eine Parallelverschiebung oder analoge Massnahmen um den Betrag kr reduziert.

Oft wird der Nachlauf beim Fahrrad mit dem Nachlauf bei einem Einkaufswagen verglichen. Dies ist nicht statthaft. Beim Einkaufswagen steht die Drehachse senkrecht. Stehen beim Einkaufswagen die Räder nicht konform zur Bewegungsrichtung, so treten Schleppkräfte auf, die jedes Rad ausrichten derart, dass es der Bewegunsgrichtung nachläuft. Beim Fahrrad treten im Normalfall keine Schleppkräfte auf, es sei denn, das Rad stehe nicht in der Bewegungsrichtung. Dies kann passieren, wenn das Vorderrad beim Fahren im Schnee oder in tiefem Sand rutscht.Beim Einkaufswagen hat jede Radstellung die selbe potentielle Energie. Beim Fahrrad dagegen, hat die potentielle Energie in den beiden symmetrischen Lenkerstellungen σ = 0°, σ = 180° ein Maximum, d.h. der Schwerpunkt liegt am höchsten. Dies entspricht einem instabilen Gleichgewicht. Die tiefste Lage des Schwerpunkts und damit ein stabiles Gleichgewicht ergibt sich bei Δ = 0. Ohne eine Kröpfung, resp. Nabenversatz, wäre dies bei einem Drehwinkel von +/- 90° erfüllt. Bei einem durch die Kröpfung halbierten Nachlauf wird der Gleichgewichtswinkel auf rund +/- 60° reduziert. Bei übermässiger Kröpfung würde ein Vorlauf entstehen. Die symmetrische Nullgrad-Stellung des Lenkers wäre dann ein Minimum der potentiellen Energie und deshalb im Stillstand stabil. Bei mittleren und hohen Geschwindigkeiten dagegen, würde die Zentripetalkraft die Gleichgewichtslage destabilisieren. Dies ist unerwünscht.

Dass die gerade Lenkerstellung im Stillstand und bei langsamen Stossen bei frei beweglichem Lenker nicht stabil ist, kann leicht verifiziert werden. Die kleinste Verkippung führt zu einer massiven Ausdrehung des Lenkers, interessanterweise nimmt die Ausdrehung mit zunehmender Verkippung ab.

David Jones hat als erster den Nachlauf als Funktion der Rahmenverkippung θr und der Lenkerausdrehung σ numerisch berechnet. Hier werden erstmals analytische Ausdrücke vorgestellt, die eine viel tiefere Einsicht in die Physik erlauben. Die Berechnung erfolgt nach dem Verfahren das bereits Jones verwendet hat. Man berechnet den Punkt auf dem Radumfang, der am tiefsten liegt. Der Abstand dieses Punktes von der Steuerrohrachse ist der Nachlauf. Da die Berechnungen sehr involviert sind, werden nur Resultate vorgestellt.

Um die Symmetrie des Problems auszunutzen, wird der Nachlauf in einem Koordinatensystem x1, y1, z1 ausgedrückt, in dem die z1-Achse in der Steuerrohrachse liegt, die x1-Achse in der Rahmenebene und die y1-Achse senkrecht dazu (siehe Bild 4). Der Nachlaufvektor hat dann die Komponenten:

Dabei ist φmin der Winkel der Umfangkoordinate φ (Bild 4) mit der minimalen vertikalen Höhe. Nach umständlichen Rechnungen (siehe die Englische Version Abschnitt 4) findet man:

Für die symmetrische Lage findet man sehr einfach:

Die Vorzeichenkonvention ist so, dass ein Nachlauf vorliegt, wenn Δ(0,0) negativ ist.

Bild 6 (links): Polardiagramm des Nachlaufs als Funktion der Lenkerausdrehung bei aufrechtem Fahrrad. Für kleine Winkel bis etwa +/- 600 ist Δ negativ (kleine rote Schlaufe). Für alle anderen Winkel ist Δ positiv (grosse rote Schlaufe). Bild 7 (rechts): Nachlauf Δ als Funktion der Lenkerausdrehung für Rahmenverkippungen von -10, 0 und 10 Grad. Der Bereich mit Nachlauf (Δ negativ) nimmt mit der Verkippung in die Drehrichtung rasch ab.

Bild 7 zeigt, dass der Drehwinkelbereich mit Δ negativ (Nachlauf) bereits bei einer Verkippung von 100 von ursprünglich etwa 620 auf etwas unter 400 gesunken ist.

Der Nullpunkt des Nachlaufs Δ = 0 lässt sich für das aufrechte Fahrrad analytisch berechnen. Man findet:

Eine eingehendere Diskussion des Nachlaufs findet sich unter 4. The Trail in der englischen Version der Website.