08 Das autonome Fahrrad

Dieses Kapitel ist mathematisch anspruchsvoll. Deshalb hier eine Version ohne mathematische Formeln.

Einleitung

Seit je waren physikalisch interessierte Menschen fasziniert von der Tatsache, dass ein von Hause aus dermassen instabiles System wie das Fahrrad, sich anscheinend ohne jedes Zutun des Fahrers auf einer stabilen Trajektorie vorwärts bewegen kann. Seit mehr als hundert Jahren befassen sich sowohl führende Physiker und Mathematiker, wie auch Lehrer und Laien mit der Frage, woher die verblüffende Stabilität herrührt. Dabei ist ein weites Spektrum von Erklärungen entstanden.

Die ersten, die realistische mathematische Gleichungen für das Fahrrad aufstellten und die Gleichungen auf das Freihandfahren anwendeten waren Whipple (1), sowie Klein und Sommerfeld (2). In ihrer klassischen Arbeit von 1910 zeigten Klein und Sommerfeld, dass das autonome Fahrrad, in dem der Fahrer bloss eine passive Rolle spielt, nur in einem marginalen Geschwindigkeitsbereich stabil ist. Damit war bereits bewiesen, dass das Modell des autonomen Fahrrads Freihandfahren nicht erklären kann. Erstaunlicherweise wurde dies aber kaum zur Kenntnis genommen. Ein internationaler Stand des Wissens, wie er in der Wissenschaft normal ist, hat sich nie eingebürgert. Auch in jüngster Zeit werden in Lehrbüchern (6) und Einführungsvorlesungen physikalisch absurde Ideen propagiert. Nach Kenntnis des Verfassers existiert bis heute kein konsistentes Modell des Freihandfahrens. Die meisten physikalisch korrekten Modelle befassen sich mit dem autonomen Fahrrad (Fahrer durch ein äquivalentes Gewicht ersetzt) und beschreiben das System mit energieerhaltenden Gleichungssystemen (3). Dies hat jedoch mit den tatsächlichen Verhältnissen beim Freihandfahren wenig zu tun. Hier wird erstmals ein konsistentes Modell des Freihandfahrens vorgestellt.

Zunächst gilt es zu definieren, was erklärt werden soll. Ein Modell des Freihandfahrens muss folgende Bedingungen erfüllen:

  • Das System muss stabil sein. Das heisst, nach einer Störung (z. B. einem Windstoss) muss das System wieder in den Sollzustand (im Normalfall σ = θ = 0) zurückkehren. Reine Kreiselmodelle fallen durch diese Bedingung bereits weg.

  • Das Fahrrad soll innerhalb vernünftiger Grenzen auch beim Freihandfahren steuerbar sein. Das heisst, es müssen auch andere stabile Sollzustände als σ = θ = 0 möglich sein.

Durch diese Formulierung ist bereits impliziert, dass wir es mit einem Problem der Regelungstechnik zu tun haben. Regelungstechnik wurde erstmals von Åström et al. (4) auf die Physik des Fahrrads angewandt, allerdings nicht auf die vollständige Dynamik.

Das rein durch Präzession stabilisierte Fahrrad

Dies ist das Modell, das sehr häufig in Physikvorlesungen betrachtet wird. Es wird behauptet, dass die Präzession für Stabilität gegen Kippen sorgt. Hier wird gezeigt, dass die Aussage falsch ist. Das betrachtet Modell besteht aus einem Rahmen mit senkrechter Steuerrohrachse, besitzt folglich keinen Nachlauf. Das einzige Drehmoment, das am Vorderrad angreift, ist das der Präzession. Integriert man die Präzessionsgleichung, so erhält man

Dabei ist Js das Trägheitsmoment des Lenkersystems, Jrad dasjenige des Vorderrads, Ψ ein Winkel in einem beliebigen ortsfesten Koordinatensystem und θ der Kippwinkel.

Im Unterschied zum Einzelrad setzt sich beim Vorderrad des Fahrrads dΨ/dt aus zwei Komponenten zusammen:

Dabei ist σ der Drehwinkel des Lenkers. Betrachtet man den Rahmen als masselos und positioniert man den Schwerpunkt vertikal oberhalb des Kontaktpunkts des Vorderrads, so ist dΨ/dt gleichzeitig die Winkelgeschwindigkeit des Schwerpunkts. Ohne den Einfluss äusserer Kräfte rollt ein solches System sturzfrei geradeaus. Setzt man es einem Stoss senkrecht zur Fahrrichtung aus, so geht es in eine periodische Pendelbewegung über, kehrt jedoch nicht in den Ausgangszustand zurück. Wiederholte Störungen wirken kumulativ. Freihandfahren wäre so nicht möglich.

Macht man das System benutzerfreundlicher, indem man den Schwerpunkt nach hinten in die Gegend des Sattels versetzt, so reduziert sich die Winkelgeschwindigkeit des Schwerpunkts auf

A ist der Abstand des Schwerpunkts vom Bodenkontaktpunkt des Hinterrads. Die Winkelgeschwindigkeit des Schwerpunkts dΨs/dt ist gegenüber derjenigen des Vorderrads dΨ/dt während einer Störung reduziert. dΨ/dt = dΨs/dt = (v/L).σ gilt nur im stationären Zustand. Numerische Rechnungen zeigen, dass dΨs/dt nicht genügt, um das System zu stabilisieren.

Bild A1

Bei t = 0 erfährt der Schwerpunkt einen Stoss von 0 auf 1°. Dies löst über die Präzession eine Drehgeschwindigkeit des Lenkers aus. Deren Auswirkung auf den Kippwinkel des Schwerpunkts ist zu schwach. Dies führt zu unbegrenzt anwachsenden Schwingungen.

Würde sich der Schwerpunkt über dem Vorderrad befinden, so würde sich nach einer Störung ein stationäres Pendeln einstellen. Die verzögerte und schwächere Reaktion des Schwerpunkts führt zum Kippen (Bild A1).

Kreiseldrehmomente allein können ein Fahrrad nicht gegen Kippen stabilisieren.

Das autonome Standard-Fahrrad

Wir betrachten ein Fahrrad, das mit einem "dummy" Fahrer bestückt ist der keinerlei Drehmomente auf den Lenker ausübt und dessen Schwerpunkt in der Rahmenebene fixiert ist. Die Frage ist, ob und unter welchen Bedingungen ein derartiges autonomes Fahrrad in der Lage ist, sturzfrei zu fahren.

In den Rechnungen werden die Parameter von Abschnitt 2 verwendet. Für einen Winkel Φ der Steuerrohrachse verschieden von 90° sind der Fahrwinkel α und der Lenkwinkel σ nicht mehr identisch. Für kleine Winkel gilt

α = sin(Φ).σ

Für einen Winkel Ψ in einem beliebigen Koordinatensystem in der x,y Ebene gilt für die Winkelbeschleunigung des Schwerpunkts in linearisierter Form ( αs = Fahrwinkel des Schwerpunkts)

Die mit dem Ableitungsterm verbundene Kraft wird oft "Knickkraft" genannt. Bei einer raschen Drehung des Lenkers wird dα/dt vorübergehend sehr hoch, was sich in einem Knick in der Vorderrad Trajektorie äussert (L = Radstand, A = horizontaler Abstand Schwerpunkt - Hinterradnabe).

Damit wird das das totale Drehmoment am Schwerpunkt

Aus der Bedingung Dtot = 0 ergibt sich die statische Gleichgewichtsbeziehung zwischen Schwerpunktkippwinkel und Lenkerdrehung (g ist die Erdbeschleunigung und L der Radstand, A der horizontale Abstand Hinterradnabe - Schwerpunkt).

Als nächstes betrachten wir die Gleichgewichtsdrehung des Lenkers. Der Nachlauf Δ wirkt als Kraftarm für die am Kontaktpunkt des Vorderrads angreifenden Kräfte Fg (Gravitation) und Fz (Zentrifugalkraft). Damit entsteht ein Drehmoment gegeben durch das Vektorprodukt von Δ und der beiden Kräfte.

Auf das Vorderrad wirkt der Anteil A/L der totalen Schwerkraft g.M. Dies führt zu einem ausdrehenden Drehmoment

Die Zentrifugalkraft bewirkt ein rückstellendes Drehmoment

Bei einem Fahrrad mit geneigter Steuerrohrachse besitzt das aufrichtende Kreiseldrehmoment ein Komponente in der Steuerrohrachse. Da sowohl dieses Drehmoment wie auch dasjenige der Zentrifugalkraft proportional zur Geschwindigkeit im Quadrat skalieren, lässt sich das Kreiseldrehmoment in einen Korrekturfaktor K absorbieren. Für typische Fahrradparameter beträgt K ≈ 1.06.

Die Gleichgewichtsbedingung Summe der Drehmomente gleich Null führt auf die Gleichung links. Die Gleichung besitzt nur oberhalb einer kritischen Geschwindigkeit vcrit eine Lösung. Unterhalb vcrit ist die Geradestellung des Lenkers bei senkrechtem Rahmen nicht mehr stabil. Die bei vcrit auftretende Selbstausrichtungsinstabilität stellt eine untere Geschwindigkeitsgrenze für Freihandfahren dar. Für ein Standardfahrrad liegt vcrit bei rund 6 - 7 km/h.

Bild A2
Gegenkopplungsfaktor G = vlenk/vcrit als Funktion der Geschwindigkeit. Bei vcrit ist G singulär und sinkt dann rasch ab.

Das System ist nur stabil gegen Kippen falls vlenk/vkipp >1 beträgt. Ist dies erfüllt, so richtet sich das System nach einer Störung wieder auf.

Das Verhältnis G = vlenk/vkipp stellt den statischen Gegenkopplungsfaktor im Regelkreis Schwerpunkt – Lenker dar. Ist G > 1 so ist das System stabil gegen Kippen. G < 1 führt zu Kippen. Bild A2 zeigt G als Funktion der Geschwindigkeit. Oberhalb rund 20 km/h sinkt G unter eins. Das autonome Fahrrad ist nur zwischen vcrit und 20 km/h stabil gegen Kippen.

Der Ausdruck links gibt den algebraischen Ausdruck für die Grenzgeschwindigkeit gegen Kippen. Ohne die aufrichtende Kreiselwirkung (mit K = 1) läge die kritische Geschwindigkeit bei rund 28 km/h. Infolge der nicht senkrechten Steuerrohrachse hat das aufrichtende Kreiseldrehmoment eine rückstellende Komponente auf den Lenker.

Stabilität gegen Kippen bedeutet noch nicht Stabilität. Oszillatorische Instabilitäten können auch für G > 1 auftreten. Im Gegenteil: Hohe Werte von G begünstigen oszillatorische Instabilitäten. Um diese zu diskutieren genügt es nicht das statische Verhalten zu betrachten.

Das dynamische Verhalten wird durch zwei gekoppelte Differentialgleichungen zweiter Ordnung beschrieben, eine für den Schwerpunkt, die zweite für das Lenkersystem. Die Gleichungen sind unten dargestellt (oben für den Schwerpunkt, unten für den Lenker).

In den Gleichungen oben ist J das Trägheitsmoment des Schwerpunkts, H dessen Höhe über Boden, θ der Kippwinkel, σ die Lenkerdrehung, Js das Trägheitsmoment des Lenkersystems und λ der Reibungskoeffizient im Lenkersystem . Für die anderen Bezeichnungen siehe Abschnitt 1.

Die beiden Differentialgleichungen für den Lenker und den Schwerpunkt bilden beim autonomen Fahrrad einen geschlossenen Regelkreis. Die Überführung der Differentialgleichungen in Übertragungsfunktionen durch eine Laplace Transformation bietet zwei entscheidende Vorteile. Erstens verwandeln sich die Differentialgleichungen in Polynome und zweitens ist die Übertragungsfunktion einer Regelkette gleich dem Produkt der Übertragungsfunktionen der einzelnen Kettenglieder. Die Diskussion der beiden Gleichungen des Fahrrads wird dadurch enorm erleichtert.

Im vorliegenden Fall ist der Übergang von einer Differentialgleichung zu einer Übertragungsfunktion sehr einfach. Die Regeln für die Übertragung einer Zeitfunktion f(t) in eine Bildfunktion F(s) lauten: f(t) F(s), df(t)/dt s.F(s) – f(0), d2f(t)/dt2 s2.F(s) – s.f(0) – df(0)/dt.

Sowohl die Differentialgleichung für den Schwerpunkt wie auch die für das Lenkersystem enthält eine zweite Ableitung. Dies führt einem System von zwei quadratischen Polynomgleichungen.

Bild A3
Regeltechnisches Modell des autonomen Fahrrads. Die Transferfunktionen des Lenkers L(s) und des Schwerpunkts S(s) bilden einen geschlossenen Regelkreis. Dem Kippwinkel des Schwerpunkts überlagert sich eine Störung
ε(s). Im stabilen Zustand wird die Störung kompensiert.

Das autonome Fahrrad ist ein geregeltes System (Bild A3). Eine Störung, z. B. durch einen Windstoss, überlagert sich dem Kippwinkel. Dieser löst am Lenker eine Drehung aus. Diese wiederum richtet den Schwerpunkt auf und kompensiert im stabilen Zustand die Störung.

Anstelle von gekoppelten Differentialgleichungen hat man es im regeltechnischen Modell mit Transferfunktionen zu tun. Die Transferfunktion einer Regelkette ist gleich dem Produkt der Transferfunktionen in der Regelkette.

Die Regelkette des autonomen Fahrrads ist im Bild 10 dargestellt. Das Ziel der Regelung ist, den Zustand Kippwinkel Θ = 0 zu stabilisieren. Es gilt laufend einwirkende Störungen ε(s) zu kompensieren. Der gestörte Kippwinkel bildet das Eingangssignal für das Lenkersystem. Über die Übertragungsfunktion L(s) bewirkt die Regelabweichung Θout(s)+ ε(s) einen Lenkerausschlag σ(s). Dieser ist das Eingangssignal für das Schwerpunktsystem mit der Übertragungsfunktion S(s). Der Output des Regelkreises ist der Kippwinkel Θout(s). Überlagert von einer Störung ε(s) wird der Output zum Input des Regelkreises. Die Gleichung des Regelkreises lautet folglich Θout(s) = (Θout(s) + ε(s)).L(s).S(s) oder nach Θout(s) aufgelöst:

Gs(s) ist die Übertragungsfunktion des Systems, Gloop(s) = L(s).S(s) ist die Leerlaufverstärkung im offenen Regelkreis. Die Gleichung oben beschreibt, wie das System auf eine Störung reagiert. In einem stabilen System klingt die Reaktion auf eine Störung ab, es strebt dem Sollwert Θ = 0 zu. Die Regelung ist stabil, falls alle Unendlichkeitsstellen (Pole) von Gs(s) auf der linken Seite der Ebene der komplexen Zahlen liegen, d. h. deren s-Werte entweder negative reelle Zahlen sind oder komplexe Zahlen mit einem negativen Realteil. Ein Pol entspricht einer Nullstelle im Nenner 1 – Gloop(s) Diese Gleichung hat die Form 1 – Z(s)/N(s) = 0, wobei sowohl der Zähler Z(s), wie auch der Nenner N(s) Polynome sind. Man schreibt sie um als N(s) - Z(s) = 0. Die Berechnung der Nullstellen erfordert das Lösen einer Polynomgleichung. Dies ist sehr viel einfacher als die Diskussion der Lösungen von zwei verschachtelten Differenzialgleichungen.

Durch eine Laplace Transformation erhält man aus den Differentialgleichungen die Transferfunktionen des Schwerpunkts S(s) und des Lenkers L(s).

Das Fahrrad fährt stabil, wenn die Nullstellen (Eigenwerte) von 1 - L(s).S(s) = 1 – Gloop(s) = 0 entweder negativ oder komplexe Zahlen mit negativem Realteil sind. Stellt man L(s).S(s) als Zähler/Nenner dar und multipliziert man die Gleichung mit dem Nennerpolynom, so erhält man Zähler – Nenner = 0. Dies ist eine Polynomgleichung vierter Ordnung und enthält im allgemeinen vier Lösungen.

Um ein Gefühl für den Wert von des Dämpfungsparamters im Lenkersystem γ zu erhalten ist es transparenter die Abklingzeit τ der Pendelbewegung des Lenkers zu verwenden. τ ist definiert als τ = Js/λ. In Bild 11 wird τ = 0.5 Sek. gewählt. Klein und Sommerfeld haben in ihrer Arbeit von 1910 Gleichungen ohne Reibung verwendet. Da die Kippinstabilität nicht von der Reibung abhängt, finden sie ebenfalls eine Stabilitätsgrenze von 20 km/h. Ohne Reibung und ohne den dθ/dt Kreiselterm setzen unterhalb 20 km/h oszillatorische Instabilitäten ein. Der Kreiselterm vermag die Instabilitäten in einem engen Geschwindigkeitsintervall unterhalb von 20 km/h zu unterdrücken. Wird Reibung berücksichtigt, so treten oberhalb 10 km/h keine oszillatorischen Instabilitäten auf (Bild A4).

Bild A4: Lösungen der Gleichung L(s)S(s) -1 = 0 für ein autonomes Fahrrad mit einer Dämpfung λ = 0.5 kgm2sec-1 entsprechend einer Zeitkonstante 2Js/λ von 0.5 sec. Die farbigen Balken zeigen das Verhalten nach einer Störung. Rot: Instabil, exponentiell anwachsender Kippwinkel. Grün: Stabil, exponentiell abfallende Störung. Blau: Stabil, exponentiell abklingende Schwingung.

Unterhalb 17 km/h existieren je 2 konjugiert komplexe Lösungen (rote und grüne Kurven). Der Imaginärteil der grünen Kurve liegt ausserhalb des Bildes. Bei 17 km/h wird die Lösung der roten Kurve reell und spaltet sich in zwei Äste auf. Der eine Ast wird oberhalb 20 km/h positiv, was bedeutet, dass das System instabil wird.

Ohne den dθ/dt Kreiselterm würde sich der blaue Bereich bis zum Einsetzen der Kippinstabilität bei 20 km/h erstrecken. Die Stabilitätsgrenze würde sich nicht ändern.

Die Stabilität des autonomen Fahrrads lässt sich sehr elegant mit dem Nyquist Formalismus diskutieren. Dies ist anschaulicher, intuitiver, mathematisch einfacher und, im Gegensatz zu der Lage von Polen von Polynomen, experimentell überprüfbar. Die Nyquist Methodik erlaubt es, die Lage der Pole der Funktion G(s) = Gloop(s)/(1-Gloop(s)) zu bestimmen ohne die Pole zu berechnen. Gloop(s) ist der "open loop gain" L(s)S(s) des Regelkreises. Ein Pol in G(s) entspricht einer Nullstelle in F(s) =(1-Gloop(s)). Im Nyquist Plot wird F(s) als Funktion der Frequenz aufgetragen. Dabei läuft die Frequenz ω von - ∞ bis + ∞. Aufgetragen wird der Imaginärteil von F(iω) in der vertikalen Achse und der Realteil in der horizontalen Achse. F(iω) lässt sich oft experimentell bestimmen. Abgesehen von der Verschiebung um 1 ist F(iω) nichts anderes als der frequenzabhängige Verstärkungsfaktor des offenen Regelkreises, also eine häufig experimentell zugängliche Grösse. Da die Transferfunktionen Laplace-Transformierte sind, streben sie für iω = +/- ∞ gegen Null. Folglich besteht das Nyquist Diagramm aus einer geschlossenen Kurve, die bei 1 beginnt und bei 1 endet. Mit Hilfe der Argumenten Methode der Funktionentheorie findet man, dass die Umlaufzahl (Anzahl der Umrundungen des Ursprungs im Uhrzeigersinn) gleich der Summe der Anzahl Pole und Anzahl Nullstellen in der rechten Halbebene beträgt.

In unserem Fall ist die Transferfunktion des Schwerpunkts S(s) instabil. Sie besitzt einen Pol auf der rechten Halbebene bei

Die Transferfunktion des Lenkers, L(s) dagegen ist stabil und besitzt keine Pole in der rechten Halbebene. In Abwesenheit von Reibung oder Dämpfung besitzt L(s) jedoch zwei Pole auf der imaginären Achse, was die Verwendung des Nyquist Diagramms ausschliesst. Sobald Reibung eingeführt wird, verschwinden die Singularitäten. Da unser System einen Pol von S(s) auf der rechten Halbebene aufweist, folgt, dass keine Nullstellen von G(s) auf der rechten Halbebene existieren, falls die Umlaufzahl gleich eins ist. Der Nyquist Plot erlaubt es deshalb, die Stabilität zu bestimmen ohne die Lösungen von komplexen Polynomfunktionen zu berechnen.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das autonome Fahrrad unter Einschluss der Reibung zwischen etwa 10 km/ und 20 km/h eigenstabil ist. Bei Annäherung an die Selbstausrichtungsinstabilität bei rund 6 - 8 km/h können auch bei Berücksichtigung von Dämpfung anwachsende Oszillationen auftreten.

Das autonome Fahrrad besitzt innerhalb seines Stabilitätsbereichs bloss einen einzigen stabilen Arbeitspunkt, nämlich die Geradeausfahrt. Lenken und Kurven fahren ist damit unmöglich. Das autonome Fahrrad ist deshalb ein eher untaugliches Modell zum Verständnis des Freihandfahrens.

Bild A5
Nyquist Diagramm für ein autonomes Fahrrad bei verschiedenen Geschwindigkeiten. Die Dämpfung tau wird hier in Einheiten der charakteristischen Abklingzeit eines Transienten im Lenkersystem angegeben. Aufgetragen ist F(iω) für ω von - ∞ bis + ∞ . Die Kurven beginnen und enden im Punkt 1 auf der reellen Achse.

Die rote Kurve (16 km/h) in Bild A5 umschliesst den Ursprung ein einziges Mal. Das System ist stabil.

Die grüne Kurve (24 km/h) liegt komplett rechts vom Ursprung. Das System ist instabil gegen Kippen.

Die blaue Kurve (v = 14 km/h) entspricht einer geringeren Dämpfung. Die Kurve umschliesst den Ursprung mehr als einmal. Dies bedeutet eine oszillatorische Instabilität.

Bild A6

Einfluss der Dämpfung auf die Lenkeroszillationen nach einem Impulsstoss bei 15 km/h. Mit einer Dämpfung entsprechend einer Zeitkonstante von 1 sec wachsen die Schwingungen unbegrenzt an. Die Schwerpunktbewegung (zeitlicher Mittelwert der Kurve) wird durch die Dämpfung nicht beeinflusst.

Ohne einen Dämpfungsterm λ in der Gleichung des harmonischen Pendels geht die Kippinstabilität beinahe nahtlos in unbegrenzt anwachsende Oszillationen im Lenkersystem über. Im Modell von Klein und Sommerfeld von 1910 konnten die damals viel schwereren Laufräder mit einer entsprechend höheren Präzessionswirkung eine enge Stabilitätsinsel unterhalb 20 km/h erzeugen. In modernen Fahrrädern ersetzt die Reibung im Lenkersystem die Wirkung der Präzession und erzeugt einen sehr viel breiteren Stabilitätsbereich. Bild A6 zeigt, dass das System unabhängig von τ im Mittelwert gegen den Sollwert θ = 0 strebt. Dem überlagert sind rasche Schwingungen die für τ = 1 sec unbegrenzt anwachsen und für τ = 0.5 sec abklingen. Das Fahrrad ist stabil gegen Kippen, zeigt jedoch für τ = 1 sec eine oszillatorische Instabilität.

Bild A7
Impulsantwort nach einem Stoss von d
θ/dt von 10°/sec bei t = 0.

Bild A7 zeigt, dass bei einer starken Dämpfung der d2σ/dt2 Term ohne wesentlichen Verlust von Genauigkeit weggelassen werden darf. In der Praxis werden rasche Lenkeroszillationen nie beobachtet. Die Näherung dürfte deshalb berechtigt sein. Das Modell des autonomen Fahrrads ohne Reibung im Lenkersystem ist realitätsfremd. Die vom Modell vorausgesagten Instabilitäten unterhalb 20 km/h sind Artefakte des Modells.

Rechnungen zeigen, dass eine vereinfachte Lenkergleichung bei der einzig der Präzessionsterm zusätzlich zu den statischen Termen mitgeführt wird die Fahrradphysik recht gut beschreiben kann.

Die Stossantwort

Bisher haben wir nur die Stabilität des Fahrrads diskutiert: Kehrt es nach einer Störung in die Geradeausfahrt zurück, kippt es oder setzen unbegrenzt anwachsende Oszillationen ein. In der Fahrpraxis ist jedoch eine andere Grösse viel wichtiger, die Stossantwort. Sie beschreibt, wie ein System nach einer Störung in die Gleichgewichtslage zurückkehrt.

Wie in den vorherigen Abschnitten dieses Kapitels gezeigt, geht der Kreiselterm nicht in die Stabilitätsbedingung gegen Kippen ein. Dies bedeutet jedoch nicht, dass der Term keinen Einfluss auf das Regelverhalten hat. Der Kreiselterm übt einen merklichen Einfluss auf die Stossantwort des Systems aus.

Qualitativ ist der Einfluss des Kreiselterms auf die Stossantwort leicht zu verstehen. Im stabilen Zustand reagiert das System auf einen Stoss mit einer VKippung. Diese steigt an, durchläuft ein Maximum und fällt dann ab, bis der Sollzustand wieder erreicht ist. In der ansteigenden Phase ist dθ/dt positiv. Das resultierende Kreiseldrehmoment beschleunigt die Lenkerausdrehung. Damit reagiert das System rascher auf eine Störung, was bereits Klein und Sommerfeld bemerkt haben.

Nach dem Überschreiten des Maximums, in der Phase der Rückkehr zum Sollzustand, ist dθ/dt negativ. Das Kreiseldrehmoment wirkt jetzt rückstellend und verzögert die Rückkehr zum Sollzustand. Dies hilft Schwingungen zu unterdrücken. Trotz des langsameren Abklingens des Transienten führt das Kreiseldrehmoment zu einer rascheren Angleichung an den Sollzustand. In numerischen Simulationen (Figur 19) ist dies deutlich zu sehen.

Bild A8
Einfluss des dθ
r/dt Kreiselterms auf die Stossantwort bei 15 km/h (Dämpfung tau = 0.5 sec, Stoss mit 10°/sec). Die Präzession hat keinen Einfluss auf die Stabilität, bewirkt jedoch eine schnellere und glattere Rückkehr ins Gleichgewicht.

Bild A8 zeigt den Einfluss des Kreiselterms sehr deutlich. Die maximale Amplitude des Transienten wird reduziert und das Überschwingen wird gedämpft. Bild 20 zeigt auch, dass für die positive Wirkung des Kreiselterms gar nicht so sehr die stets diskutierte schnellere Ausdrehung des Lenkers beim Kippen massgebend ist. Im Gegenteil, der abfallende Teil des Transienten mit negativem dθr/dt beim Aufrichten ist wichtiger. Dort wirkt der Präzessionsterm dem Zentrifugalterm entgegen und verlangsamt dadurch das Aufrichten. Dies reduziert oder verhindert ein Überschwingen. Die Stossantwort ist der wichtigste Parameter für das Fahrverhalten beim Freihandfahren. Erstaunlicherweise hat man sich in Artikeln zur Physik des Fahrradfahrens fast ausschliesslich auf die Diskussion der Stabilität konzentriert. In der Praxis ist Stabilität für jeden einigermassen geschickten Fahrer automatisch gegeben. Was jedoch gewünscht ist, ist eine rasche Reaktion auf Aktionen des Fahrers und kein Überschwingen.

Die Rolle des Kreiselterms wurde missverstanden. Seine Bedeutung für die Kippinstabilität ist gleich Null, für die oszillatorische Instabilität begrenzt und für die Stossantwort sehr wichtig.

Literatur

(1) F. J. W. Whipple. The stability of the motion of a bicycle. Quarterly Journal of Pure and Applied Math., 30, pp. 312–-348 (1899)

(2) F. Klein und A. Sommerfeld. Über die Theorie des Kreisels, Heft IV.Teubner, Leipzig, 1910. pp. 863 -884 Download

(3) J. P. Meijnaard, Jim M. Papadopoulos, Andy Ruina and A. L. Schwab, Proc. R. Soc. A 463, 2007 (2084) pp: 1955–1982. Download des Fahrrads

(4) Karl J. Åström, Richard L. Klein and Anders Lennartsson, IEEE Control Systems Magazine, August 2005, pp. 26 - 47

(5) J. D. G. Kooijman, J. P. Meijnaard, Jim M. Papadopoulos, Andy Ruina and A. L. Schwab, Science, Vo. 332, pp. 339 - 342 (2011).

http://www .sciencemag.org/content/332/6027/339

siehe auch: http://bicycle.tudelft.nl/stablebicycle/ und http://ruina.tam.cornell.edu/research/topics/bicycle_mechanics/

(6) Pohls Einführung in die Physik, Band 1 Mechanik, Akustik und Wärmelehre, Springer (2009).

Hier wird behauptet, beim Verkippen drehe sich der Lenker rein als Folge des dθr/dt Kreiselterms aus. Dies sei der Grund für die Stabilität. Bereits die erste Aussage ist falsch. Eine Verkippung bewirkt über das Kreiseldrehmoment nicht eine Ausdrehung, sondern eine Ausdrehgeschwindigkeit (dθr/dt ist proportional zu d2σ/dt2). Rein unter der Wirkung des Kreiselterms würde sich beim Aufrichten die Ausdrehgeschwindigkeit verlangsamen, da das Kreiseldrehmoment jetzt negativ ist. Nach der Rückkehr in den Ruhezustand würde der Lenker zum Stillstand kommen, aber ausgedreht bleiben. Ein Blick auf die Gleichungen und ein kurzes Nachdenken hätten genügt, um die Hypothese zu falsifizieren.