Brexit
Rückblick auf 2013 sechs Jahre später (2019)
Brexit
Rückblick auf 2013 sechs Jahre später (2019)
Brexit – Rückblick auf 2013 sechs Jahre später (2019)
Veröffentlicht 19. Juni 2019
© Georg Boomgaarden English version here
Am 23.Januar 2013 hielt der damalige britische Premierminister eine Rede bei Bloomberg in London. Ich saß in der ersten Reihe – Cameron schaute immer wieder zu mir herüber, wohl um meine Reaktion zu studieren. Ich versuchte freundlich zu blicken, aber seine Rede entsetzte mich. Seine Ankündigung, ein In-Out-Referendum über die britische EU-Mitgliedschaft zu veranstalten, wenn er die nächste Wahl gewönne, hielt ich für verantwortungslos und einen Weg ins Desaster. Einige deutsche Journalisten, mit denen ich anschließend sprach, fanden meine Einschätzung zu pessimistisch. Leider ist es noch schlimmer gekommen, als ich damals dachte.
Kurz nach der Rede habe ich meine Gedanken dazu aufgeschrieben. Ich finde es immer spannend, solche Texte nach ein paar Jahren erneut zu betrachten und zu prüfen, was daraus geworden ist. Meistens sind die alten Texte ein peinlicher Beweis dafür, dass Menschen keine Propheten sind und Vorhersagen Glückssache.
Auszüge aus meiner Analyse der Rede von Premierminister Cameron vom 23.Januar 2013 bei Bloombergs in London sind in blauen Lettern dargestellt. Der Kommentar dazu stammt vom 19.Juni 2019, als die Brexitverhandlungen zwar noch nicht abgeschlossen, aber doch weit fortgeschritten waren. Ich stelle beide hier gegenüber, um einfach mal festzustellen, wie eine Bewertung sich sechs Jahre später darstellt, wenn die Ereignisse zeigen, ob die erste Bewertung zuitreffend war oder nicht.
Hier also die Analyse von 2013 und der Kommentar von 2019:
Premierminister Cameron hat seine Rede gehalten – und wir gehen zur Tagesordnung über! Das wäre die bequemste Lösung – die Debatte wird in Großbritannien geführt, wir halten unser Profil niedrig, und irgendwann wird der Eifer abkühlen und auf allen Seiten nüchterner Politik weichen. Oder nicht ? Eher nicht ! Der Geist ist aus der Flasche und wir werden ihn nicht wieder hineinzwingen können.
Damals befürchtete ich, dass die Möglichkeit eines Brexit in den übrigen EU-Staaten nicht wirklich ernst genommen wurde. Bis zur Abstimmung am 23.Juni war das auch weitgehend der Fall. Das zeigte sich auch in dem geringen Engagement europäischer Politiker in der Referendumskampagne.
Welche Szenarien sind vorstellbar und welche Chancen und Risiken verbinden sich damit ? Was will der britische Premierminister ? Meint er das, was er gesagt hat ? Hat er alles gesagt, was er meint ? Spricht er für seine Partei ? Für eine zukünftige konservative Mehrheit ? Für die britische Wirtschaft oder jedenfalls die City of London ? Für das britische Volk ?
Inzwischen sehen wir die Spaltung, die er in seinem Land mit dem Referendum hervorgerufen hat. Für das britische Volk hatte er nicht geprochen. Dort war Europa keine Priorität, ein Referendum wurde von der extremistischen Presse, vor allem „Daily Mail“ und Murdochs „Sun“ gefordert, aber es gab keine große Bewegung dafür. Für die Wirtschaft sprach er sicher überhaupt nicht – sie nahm das ganze nicht ernst und hielt es für parteipolitisches Taktieren ohne Folgen. Die zukünftige konservative Mehrheit war schon eher seine Zielgruppe. Bei den vorausgegangenen Europawahlen waren scharenweise Wähler zur United Kingdom Independence Party UKIP übergelaufen, damals noch geführt von Nigel Farage.
Das große Thema, was UKIP Wähler verschaffte, war die „Immigration“ – bei der in Großbritannien niemand zwischen Zuwanderung auf Grund europäischer Freizügigkeit und der noch größeren Zuwanderung aus Drittländern unterschied.
Die Rede im Januar 2013 war ausschließlich ein Versuch Camerons, seine Konservative Partei zusammenzuhalten, die seit John Major noch jeden konservativen Parteiführer über das Thema Europa verschlissen hatte. Cameron verfolgte Parteiinteressen, das nationale Interesse interessierte ihn dabei überhaupt nicht.
Zunächst nehme ich ihn beim Wort, gehe also nur von dem aus, was er gesagt hat:
Es ist ja üblich, hinter allem, was ein Politiker gesagt, eine verborgene Agenda zu vermuten. So wurde auch Camerons Rede sehr unterschiedlich interpretiert. Ich wollte damals aber davon ausgehen, dass er meinte, was er sagte.
Das Verhältnis Großbritanniens zur Europäischen Union muss neu geordnet werden, die Dynamik, die sich durch die Krise in einigen Euroländern für die Eurozone entwickelt, macht eine Änderung des Verhältnisses noch dringlicher. Aber auch der gegenwärtige Zustand der EU kann nicht mehr hingenommen werden.
Der Kern seiner Rede ist die Aussage: zuerst wird er über Änderungen in der Europäischen Union und im Verhältnis Großbritanniens zur EU verhandeln, dann wird er das Ergebnis dem britischen Volk im Jahre 2017 in einem Referendum vorlegen, in dem die klare Alternative ist: entweder Austritt aus der EU oder Verbleib in einer durch das Verhandlungsergebnis veränderten EU. Der Verbleib in der EU so wie sie heute ist, steht nicht zur Debatte und kommt nicht in Frage.
Cameron sagt, er will in einer veränderten EU zu veränderten Konditionen bleiben. In einer EU, die es heute so nicht gibt. In der heutigen EU will er nicht bleiben. Aus der bestehenden EU würde er also spätestens 2017 austreten wollen.
Die Aussage, dass ein Verbleib in einer unveränderten EU nicht infrage komme, ist von den meisten Berichterstattern damals übersehen oder nicht für bare Münze genommen worden. Cameron hat sich damit für einen Brexit ausgesprochen, der nur durch Zugeständnisse der EU abgewendet werden könne. Welche Zugeständnisse das sein könnten, sagte Cameron nicht. Ich hörte, dass er eigentlich einige konkrete Forderungen stellen wollte. Davon haben ihm seine Berater abgeraten, weil er sich sonst in Zugzwang gesetzt hätte.
Wenn genau diese Forderungen sich als nicht erfüllbar erwiesen hätten, dann hätte Cameron für den Brexit eintreten müssen.
Camerons Selbstdarstellung als jemand, der eigentlich in der EU bleiben wollte und erwartet habe, dass ihn das Referendum in diesem Ziel bestätigen sollte, ist zumindest fragwürdig. Denn er spielte von Anfang an mit dem Feuer. Schon zuvor hatte er den Europhoben in seiner Partei nachgegeben, war aus der EVP-Fraktion im Europaparlament ausgeschieden. In seinem Schattenkabinett vor der Wahl von 2009 amtierte als „Schatten-Europaminister“ der extrem europafeindliche Mark Francois - heute noch einer der Hardliner, gegen den Rees-Mogg gemäßigt aussieht, und einer der größten politischen Dummköpfe, die ich kennen gelernt habe. Er kam dann nicht ins Kabinett, weil die Konservativen mangels eigener Mehrheit in eine Koalition mit den Liberaldemokraten gehen mussten. Nur deshalb wurde der europafreundliche konservative Abgeordnete David Lidington Europaminister.
Um Großbritannien in der EU zu halten müsste entweder Cameron die nächste Wahl verlieren oder die EU müsste seinen Wünschen nach Veränderung nachkommen. Welche Veränderungen gefordert werden, hat der Premierminister nur angedeutet aber nicht ausgeführt – die gegenwärtige Bestandsaufnahme der „balance of competences“ wird dafür eine wichtige Rolle spielen. Die Ideen des Think Tanks „Fresh Start“ haben bei der Rede Pate gestanden.
Die „balance-of-competences“, also die Kompetenzverteilung zwischen nationaler Politik und europäisch integrierter Politik, ist ein ernstes Thema. Immer wieder gibt es Streit, wenn die Europäische Kommission – oft mit Hilfe des Europäischen Gerichtshofs – das Subsidiaritätsprinzip missachtet und auch Dinge europäisch regelt, die besser auf nationaler, regionaler oder sogar kommunaler Ebene geregelt werden könnten. Die britische Regierung ging das Thema aber anders an: es ging ihr allein um Renationalisierung, es gab keine Vorschläge, wo eventuell mehr europäische Kompetenz notwendig sein werde, in den Partnerländern wurde abgefragt, ob man britische Ziele unterstützen würde, der Begriff gesamteuropäischer Ziele war ein Fremdwort. Es wurde ganz außer Acht gelassen, dass der geltende Acquis ja ein in vielen Jahren gewachsener Kompromiss ist, der unter allen Mitgliedsstaaten mühsam gemeinsam ausgehandelt wurde.
Kann Cameron „liefern“? Kann er die Europhoben und Euroskeptiker in seiner Partei dazu bringen, mehrheitlich eine positive Haltung zu einer veränderten EU zu entwickeln, so dass – auf neuer Grundlage – eine konstruktive Europapolitik möglich wird ? Kann er seine Partei mitnehmen, wenn er einige substanzielle Reformen in der EU und eine Neuordnung des Verhältnisses seines Landes zur EU erreichen kann? Daran gibt es erhebliche Zweifel. Das Appeasement der europhoben Gruppe in seiner Fraktion ist bisher jedenfalls durchgehend gescheitert.
Cameron hatte schon durch den EVP-Austritt das Appeasement der europhoben „Bastards“ (so hatte sie der frühere konservative Premierminister John Major genannt!) versucht. Außerdem wurde der „Referendum Lock“ beschlossen (und zu meinem Entsetzen vom eigentlich europafreundlichen liberalen Koalitionspartner nicht verhindert). Damit musste jede substanzielle Änderung der EU-Verträge einem Referendum in Großbritannien unterworfen werden. Das machte bereits eine weitere Entwicklung in der EU fast unmöglich, wurde aber von den anderen Mitgliedsstaaten auch nicht ernst genommen.
Alles das reichte den Europhoben nicht! Ich war mir schon damals sicher, dass dieser extremistische Flügel der Konservativen Partei jedes Zugeständnis einkassieren würde ohne sich im geringsten von ihrem Ziel: dem Austritt aus der EU, abbringen zu lassen. Damals sagte ich: „Wenn Cameron denen den kleinen Finger gibt, nehmen sie seine Hand, den ganzen Arm und dann fressen sie ihn ganz auf!“
Kann der Rest der EU „liefern“ ? Sind die Reformen, die Cameron für die EU fordert, machbar und konsensfähig ? Wie weit geht die Bereitschaft, die bereits bestehende Sonderrolle Großbritanniens in Europa noch weiter auszubauen ? Auch hier sind Zweifel angebracht.
Selbst die Reformen, die auch wir für sinnvoll halten, werden unter dem ultimativen Zeitdruck schwer erreichbar sein, die zu erwartenden Wünsche nach Renationalisierung (an alle Mitgliedsstaaten) noch schwerer und die ebenso erwarteten Repatriierungswünsche (speziell an Großbritannien) sind nicht gerade realistisch.
Die EU hat am Ende das geliefert, was Cameron in der kurzen Zeit ohne Vertragsänderungen erreichen konnte. Viel war das nicht. Mehr war aber von Anfang an unrealistisch. Wenn manche heute noch bejammern, dass man Cameron hätte mehr geben müssen, verkennen, dass das Vertragsänderungen (und eventuell Referenden in Dänemark und Irland) bedeutet hätte – und zugleich seine Europhoben keineswegs zufriedengestellt hätte.
Kann Cameron die nächste Wahl mit absoluter Mehrheit der Sitze im Unterhaus gewinnen ? Werden die britischen Wähler seiner – positiven oder negativen – Empfehlung für ihr Votum in einem Referendum folgen ? Auch das ist völlig offen. In der Mitte der Wahlperiode gibt es ein hohes Risiko, dass über die Popularität einer Regierung und ihres Sparkurses abgestimmt wird und nicht über das eigentliche Thema Europa.
Damals waren sich viele Beobachter einig, dass Cameron die nächsten Wahlen nicht gewinnen könne. 2013 war es noch viel zu früh, darüber zu spekulieren. Das Risiko aller Referenden ist ja, dass über andere Dinge abgestimmt wird, als über die eigentliche Frage auf dem Stimmzettel. Der Sparkurs war das Thema, dass viele Abstimmende wütend gemacht hatte.
Das 2013 vor allem von UKIP hochgezogene Thema Immigration habe ich damals noch unterschätzt. Die britische Regierung unter Tony Blair hatte nach dem EU-Beitritt von 10 neuen Mitgliedern 2004 auf die im Beitrittsvertrag vorgesehene siebenjährige Übergangsfrist bis zur Einführung voller Arbeitnehmerfreizügigkeit verzichtet – und sich damit stolz auch gegenüber den Deutschen gebrüstet. So kamen fast eine Million Osteuropäer nach Großbritannien, der Mangel an Handwerkern wurde beseitigt („the Polish plumber“ half der Wirtschaft auf die Beine) und die Integration war einfacher als die von außereuropäischen Zuwanderern – die aber weiterhin die Mehrzahl der Einwanderer waren.
Die Propaganda von UKIP gegen jegliche Zuwanderung war 2015 durch die wachsenden Migrantenströme nach Europa beflügelt worden. Vor dem Referendum im Jahre 2016 hatte die deutsche Bundeskanzlerin leichtsinnig behauptet, unsere Grenzen könne man gar nicht schützen – die britischen EU-Gegner plakatierten erfolgreich mit dem Treck der Migranten auf der Balkanroute. EU-Gegner schreckten auch vor glatten Lügen nicht zurück, als sie behaupteten, Millionen von türkischen Immigranten würden dank EU-Beitritt der Türkei in Kürze ins Vereinigte Königreich kommen.
Wie werden sich andere politische und gesellschaftliche Kräfte im Vereinigten Königreich positionieren ? Wie wirkt die Debatte und ihre möglichen Ergebnisse auf die britische Wirtschaft und Gesellschaft aus ? Wie wirkt sich die Debatte vor einem Referendum auf Schottlands Verbleib in Großbritannien aus ? Der Druck auf die Labour-Party sich ebenfalls auf ein Referendum festzulegen wird stark ansteigen. Die Wirtschaft ist aufgewacht und will keinen Ausstieg – aber die Loyalität zur konservativen Partei führt dazu, dass viele Cameron nicht kritisieren wollen.
Manche haben die Illusion, dass wenige Konzessionen das Blatt zugunsten Europas wenden könnten. Die begonnene Debatte könnte zu einer realistischeren Sicht beitragen.Das schottische Referendum wird voraussichtlich für die Union ausgehen, eine heftige Europadebatte könnte die SNP aber stärken.
Das Schottland-Thema bleibt auf der Tagesordnung. Das Referendum in Schottland ging auch deshalb für die Union aus, weil Brexit noch nicht im Mittelpunkt der Debatte stand, sonst würde Schottland schon heute nicht mehr zum Vereinigten Königreich gehören!
Die britischen Eliten in Kultur und Wirtschaft haben sich sicher pro-europäisch gefühlt, aber ihre Kampagne vor dem Referendum war lau und wenig überzeugend. Dem herausgeschrieenen NEIN der Brexiteers setzten sie ein mild lächelndes JA-ABER entgegen. Die Londoner City blieb vornehm zurückhaltend und glaubte, da wird schon nichts passieren – bis sie am 24.Juni erschreckt im Brexitland aufwachte.
Die Labour Party stand mehrheitlich zu Europa, ihr neuer Vorsitzender Jeremy Corbyn war aber seit Jahrzehnten ein ausgewiesener anti-EU-Politiker. Und so führte er auch seine Kampagne: lau, ambivalent und so, dass jedenfalls Labour-Wähler den Eindruck hatten, Brexit sei eine Option auch für Labour. Damals hielt ich es für eine Illusion, dass Cameron mit den wenigen Konzessionen, die realistisch waren, das Blatt wenden könnte. Und es war eine Illusion, wie das Ergebnis des Referendums zeigte.
Wie wird sich die Positionierung der europäischen Partner der Briten auf die Debatte und schließlich auf das Referendum auswirken ? Können wir die Debatte überhaupt beeinflussen ? Im wesentlichen schaut die britische Öffentlichkeit auf Deutschland und allenfalls auf Frankreich, allerdings hat die überraschende Intervention der US-Regierung, wo vor einem Ausstieg gewarnt wird, viel Nachdenklichkeit ausgelöst. Wir müssen aufpassen, dass wir nicht eine Debatte: „Wir Briten gegen den Kontinent“ bekommen, zugleich müssen wir aber Illusionen entgegentreten, die Deutschen würden Cameron schon „heraushauen“ – das kann zu Enttäuschungen führen, die auf uns zurückschlagen.
Diese Illusion war: die Deutschen – eigentlich sprachen die Briten immer nur von „Merkel“ wie von der Ikone – würden sie heraushauen. Wenn die Regierung nicht wolle, werde die deutsche Automobilindustrie Merkel zwingen, Cameron entgegen zu kommen. Den Briten hätte damals von der Bundeskanzlerin selbst viel klarer entgegengetreten werden müssen. Merkel tat das nicht, auch wenn sie für ein rationaleres Herangehen plädierte. Die Briten waren so weit in ihrem Autismus gefangen, dass sie nur ein Schock wecken konnte – und dazu war niemand bereit – vielleicht auch niemand fähig.
Die Äußerungen Obamas haben den Remainers nicht geholfen – im Gegenteil. Inzwischen haben wir mit Trump einen US-Präsidenten, der die EU als „Feind“ bezeichnet hat.
Wie können wir zu einer Lösung der aufgeworfenen Fragen beitragen ? Was ist unser Interesse ? Und das unserer anderen europäischen Partner?
Ich glaube, kein Europäischer Partner wäre glücklich, wenn Großbritannien die EU verlassen würde, auch wenn der eine oder andere sich klammheimlich damit anfreunden kann einen ständigen Störenfried loszuwerden. In unserem politischen Interesse liegt es, ein Gefühl deutsche Hegemonie bei unseren Partnern gar nicht erst aufkommen zu lassen. Das wird schwieriger, wenn die Machtbalance zu eindeutig für Deutschland ausfällt. Mit Großbritannien in der EU ist die Balance leichter zu halten. Auch haben wir mit den Briten überzeugte Freihändler als Partner, die wir oft benötigen, wenn andere eher protektionistische Neigungen zeigen.
Das deutsche Interesse am Verbleib Großbritanniens war manifest. Inzwischen hat sich allerdings die politische Landschaft innerhalb Großbritanniens so verändert, dass Zweifel aufkommen, ob so ein Partner überhaupt noch zu konstruktiver Zusammenarbeit bei der „ever closer Union“ willens und fähig wäre, die heute wichtiger als je zuvor ist. Das Vereinigte Königreich als destruktives Trojanisches Pferd, vielleicht noch in enger „special relationship“ mit Donald Trump, NEIN DANKE.
Die genannten Probleme werden aber dennoch auftreten. Wir müssen mit Frankreich weitaus pfleglicher umgehen, als die Bundeskanzlerin es derzeit tut. Die kleineren Partner in West- UND Osteuropa müssen weitaus rücksichtsvoller behandelt werden als sich das in Deutschland eingebürgert hat. Wir müssen aufhören, uns selbst zu überschätzen.
Deutschland wächst in eine Führungsrolle hinein, die es sich nicht gewünscht hat: sie muss sie ausfüllen; selbstbewusst, rational, nüchtern – aber auch realistisch, ohne Selbstüberhebung, kooperativ und unter noch mehr Abgabe von Souveränität an Brüssel.
Europa mit Großbritannien ist für uns – und wohl für alle EU-Partner besser als ein Europa ohne Großbritannien. Allerdings ist ein Weg außerhalb der EU für eine große Zahl britischer Bürger sehr gut vorstellbar und sogar wünschenswert. Wenn sich diese Auffassung im Vereinigten Königreich durchsetzt, dann wird der Rest der Partner gar nicht umhinkommen – spätestens nach einem britischen Austritt – über Alternativen nachzudenken.
Heute ist die Situation da! – Ich rechne derzeit mit Brexit, in welcher Form auch immer. Das bedeutet, dass Deutschland bilateral und die EU insgesamt ihre Beziehungen zum UK neu ordnen müsste. Das bedeutet, das Ziel „best-möglicher“ Beziehungen umzusetzen. Was aber möglich ist, hängt auch davon ab, ob die britische politische Klasse sich von dem Brexit-Desaster erholt und wieder einen offenen Blick nach außen bekommt. Die derzeitige konservative Partei ist auf absehbare Zeit kein zuverlässiger Partner für Europa. Die Labour-Party unter Corbyn ist ebenfalls kein Partner, mit dem viel Kooperation möglich ist. Wir sollten den Briten Zeit geben ihre inneren Verhältnisse wieder in gewisse Ordnung zu bringen und in der Zwischenzeit so viele Türen wie möglich offen halten.
Wir müssen uns auch fragen, welches Europa wir wollen ? Ist unsere Vorstellung von Europa mit den Wünschen Camerons vereinbar ? Dazu schauen wir uns seine Rede an: Cameron hat ausdrücklich erklärt, die Formel von der „immer engeren Union“ (ever closer union), die in den Verträgen seit Gründung der EWG angestrebt wird, sei obsolet – oder müsse zumindest so philosophisch verstanden werden, dass sie keine politische Wirkung entfaltet. Nach seiner Auffassung ist der Prozess der Integration schon zu weit gegangen, jedenfalls für Großbritannien, und muss teilweise rückabgewickelt werden.
Cameron war ja nicht allein mit der Auffassung, dass manche Integrationsschritte insgesamt oder zumindest in ihrer Umsetzung zu weit gingen. Er hat allerdings nie Verbündete für eine Veränderung gesucht, zumal unklar blieb, was er genau wollte.
Heute ist die „ever-closer-union“ wichtiger denn je zuvor, aber auch schwieriger zu erreichen. Sollte das Vereinigte Königreich wider Erwarten doch noch in den Schoß der Europäischen Union zurückkehren, dann wären die notwendigen Reformen kaum noch erreichbar, denn jede zukünftige britische Regierung muss mit wütenden, „betrogenen“ Brexiteers in der Bevölkerung, einer tobenden europhoben Presse und dem Vorwurf der „Unterwerfung“ rechnen – ganz zu schweigen vom weiter geltenden „referendum lock“ für Vertragsänderungen. Das würde Fortschritte der Integration lähmen.
Dabei sieht der britische Premierminister durchaus die Notwendigkeit einer stärkeren Integration für diejenigen Länder, die aus seiner Sicht den Fehler begangen haben, eine Währungsunion zu bilden, aber alle übrigen und insbesondere das Vereinigte Königreich sollten sich auf den Binnenmarkt konzentrieren und alles andere dem unterordnen.
Eigentlich war der Euro für alle EU-Staaten gedacht, dass nicht sofort alle den Euro einführen konnten oder wollten war kein Problem, der Ausstieg Großbritanniens und Dänemarks aus der Verpflichtung zur Währungsunion (also damit auch zur Wirtschafts- und Währungsunion) war ein erster Riss in der EU. Schweden verweigert die Einführung des Euro auf Grund einer Volksabstimmung, obwohl es sich beim Beitritt keinen Dispens vom Euro erwoben hatte – eigentlich war die Volksabstimmung in Schweden daher rechtswidrig, weil über einen Rechtsbruch abgestimmt wurde.
Das europäische Friedensprojekt, als das die EU entstanden ist, sei vollendet und nicht länger eine treibende Kraft der Integration, daher sollte die EU nach der Vorstellung Camerons in erster Linie den Binnenmarkt entwickeln. Der gemeinsame Markt ist der Kern der EU, eine gemeinsame Währung gehört nicht zu diesem Kern.
Cameron hatte kein Geschichtsbewusstsein und nichts begriffen von der Bedeutung der europäischen Einigung für den Frieden in Europa. Er redete leichtsinnig daher als sei das Friedensprojekt ein „one-off“ und nicht dauerhafte Grundlage des Friedens. Das zeigt einmal mehr, dass Cameron kein politisches Format hatte.
Das Wirtschaftsprojekt alleine ist eben keine ausreichende Grundlage für EU-Europa. Es funktioniert nur, wenn alle begreifen, dass es um gemeinsame gesamteuropäische Interessen geht und nicht einfach um Verstärkung klassischer „nationaler Interessen“. Nur dann kann auch aus wirtschaftlicher Zusammenarbeit politische Solidarität entstehen. Es stimmt ja, dass es bisher keinen „europäischen demos“ gibt, aber genau deshalb sind die europäischen Institutionen so wichtig, die das gesamteuropäische Denken bündeln, bis so ein demos entstehen kann.
Man könnte sich auf den Standpunkt stellen, die Formel von der „ever closer union“ und die Feststellung, dass die EU nach Ende ihrer Friedensmission jetzt im wesentlichen nur noch ein Binnenmarkt sei, seien beide eher „philosophische“ Elemente der Union, die man ohne Schaden im Interesse einer „pragmatischen Lösung“ aufgeben könnte. Wie Cameron sagte, sei den Briten ganz pragmatisch an der Funktion des Binnenmarktes gelegen und nicht an emotionalen Elementen.
Wer die emotionalen Bindungskräfte in Europa missachtet, gibt Raum für andere Kräfte, die Europa zerreißen können – und über Jahrhunderte zerrissen haben!
So emotionsfrei wie Cameron sagt, ist die britische Haltung allerdings nicht: die Debatte im Vereinigten Königreich ist von hoch emotionalen und ideologisch überhöhten Auffassungen von nationaler Souveränität, von der Rolle des nationalen Parlaments, von der Einzigartigkeit der britischen Rolle in der Welt und der britischen Geschichte geprägt, ebenso wie von emotionalen Ausbrüchen, ja Hass, auf die Europäische Union. Pragmatische Stimmen kommen kaum zu Gehör, denn die Boulevardpresse führt ebenso wie UKIP und die Europhoben in der konservativen Partei eine emotionale Kampagne, die mit Pragmatismus nicht das geringste zu tun hat.
Alles, was sich seither im Vereinigten Königreich, im Parlament, in der Regierung, in der Konservativen Partei und bei Labour abgespielt hat, war zutiefst emotional, und zugleich zutiefst irrational. Die Vernunft, der sachlich distanzierte Dialog, das Abwägen der Argumente, der Respekt vor den Andersdenkenden – alles was ich an der britischen Debattenkultur immer bewundert hatte, wurde ausgeschaltet. Die Europhoben, die in ihrer Mehrzahl auf dem Kontinent zur extremen Rechten zählen würden, haben das politische Klima in Großbritannien stark verändert. Beim Referendum von 2016 war es der Minderheit von Extremisten gelungen, mit Lügen und Manipulationen eine denkbar knappe Mehrheit zu gewinnen. Jetzt sprechen sie das Ergebnis als eine Art Gottesurteil heilig und erklären es für unantastbar – so als wenn ein einmal gewählter Anführer sich anschließend auf Lebenszeit auf den einmaligen Gewinn einer Wahl berufen könnte – was ja weitere Wahlen überflüssig machen würde.
Zugleich hängt an der Forderung nach Aufgabe des Ziels der immer engeren Union die politische Konsequenz, dass die europäische Integration als vollendet oder jedenfalls beendet anzusehen ist und weitere Integration kein Ziel der EU mehr ist – und in der Eurozone wenigstens nur unter der strikten Bedingung stattfinden kann, dass der Binnenmarkt davon nicht berührt wird. Großbritannien wünscht ein weitgehendes Vetorecht (euphemistisch „safeguards“ genannt) um weitere Integrationsschritte der EU insgesamt ganz zu verhindern und solche Schritte für den Euroraum mit zu kontrollieren.
Das war eine Forderung Camerons, die zur Zerstörung des Projekts der europäischen Integration führen konnte und deshalb völlig unannehmbar war. Wenn die EU vor die Alternative Selbstaufgabe mit Großbritannien oder
Selbstbehauptung ohne Großbritannien gestellt wurde, war klar, dass sie letzteres wählte. Cameron war intellektuell überfordert, das wirklich zu begreifen.
Premierminister Cameron nennt einige Beispiele, die für ihn eine EU-Reform dringend notwendig machen. Er fordert solche Reformen für alle Mitglieder und will mit allen darüber verhandeln. Der Katalog ist nicht vollständig und beschränkt sich auf größere Themenbereiche ohne einzelne Maßnahmen zu fordern. So wissen wir nicht genau, welche Reformen Cameron verhandeln will. Ein Anhaltspunkt sind aber die Forderungen seiner Parteifreunde – nicht unbedingt der Austrittbefürworter, aber wohl die der überwiegend euroskeptischen Mehrheit der Tories.
Camerons Rede hat in ihrem mittleren Teil einen Ton angeschlagen, der stark an die Publikationen des konservativen Think Tank „Fresh Start“ erinnert. Fresh Start hat Ideen zur weitreichenden Repatriierung von Kompetenzen von der EU in nationale Zuständigkeit entwickelt. Außenminister William Hague schrieb ein lobendes Vorwort für das Papier mit ersten Ergebnissen der Studien von Fresh Start. Es ist davon auszugehen, dass die Ideen von Fresh Start einen starken Hinweis auf Camerons Verhandlungsabsichten geben, auch wenn er dies in seiner Rede nicht klar gesagt hat.
Die Unklarheit über die aus den Allgemeinplätzen abgeleiteten Forderungen zieht sich seither durch die gesamte Brexit-Debatte. Irgendwie dachte man schon an Ideen, wie sie Fresh Start formuliert hatte, aber das war operativ
nicht umsetzbar.
Soweit Reformen für die EU den anderen Mitgliedern vorgeschlagen werden, können diese das selbstverständlich nicht einfach abweisen. Jeder wird prüfen müssen, ob solche Vorschläge vielleicht konsensfähig sind und in eine spätere Vertragsänderung einbezogen werden können. Allerdings gilt dies für jedes Mitgliedsland, Gegenvorschläge müssten dann ebenso behandelt werden. Wie
die Bundeskanzlerin zur Rede Camerons bemerkte, wird über die Vorschläge zu reden sein, Kompromisse können angestrebt werden – immer unter der Voraussetzung, dass die Interessen aller Mitgliedsstaaten berücksichtigt werden.
Die EU hat mit Cameron verhandelt und ist ihm weit entgegen gekommen. Dass die Konzessionen den Europhoben in Camerons Partei nicht aureichen würden, war von Anfang an klar, denn sie wollten keinen Kompromiss, sondern den Brexit. In den Verhandlungen hat Cameron keine Reformen der EU als Ganzes vorgeschlagen, die dann unter allen Mitgliedern auszuhandeln wären, sondern Konzessionen für sein Land gefordert, die die Sonderstellung Großbritanniens noch weiter verstärken sollten. Das war schon seit dem Beitritt des Vereinigten Königreichs ein problematisches Verhältnis zum Integrationsprozess. Man wollte schon immer den Kuchen essen und den gleichen Kuchen behalten. Man war halb-drin, halb-draußen – und fühlte sich dabei ganz wohl. Die anderen Europäer nahmen das hin, weil sie mit Großbritannien einen wirtschaftlich und politisch starken Partner hatten, der zwar Entscheidungen oft schwieriger als nötig machte, aber sie dann
auch loyal umsetzte – manchmal besser als die Gründungsmitglieder der EWG.
Mit dem Lissabon-Vertrag ist das Recht eines Mitgliedslandes, die EU zu verlassen, ausdrücklich festgelegt worden (auch vorher bestand daran wohl kein Zweifel). Die Drohung auszutreten, wenn ein nationales Verhandlungspaket nicht von allen anderen akzeptiert wird, ist allerdings keine gute Voraussetzung für einen erfolgreichen Verhandlungsprozess. Die anderen Partnern könnten die Option attraktiver finden, einen Austritt hinzunehmen und erst danach bilateral über ein neues Arrangement nach dem Muster Norwegens oder der Schweiz zu verhandeln.
Der Brexit ist legal, er ist erlaubt, seit dem Lissabon-Vertrag ist das sogar vertraglich zugesichert. Er ist nur dumm – und das wird immer deutlicher! Aber die Brexiteers sind anderer Meinung, und das ist ihr gutes Recht – the proof of the pudding is with the eating. Wahrscheinlich wissen wir erst in einigen Jahren die genauen Folgen des Brexit.
Diese Option mag vordergründig nicht sehr wahrscheinlich aussehen. Man muss aber dabei zur Kenntnis nehmen, dass viele der konservativen EU-Gegner in Großbritannien eine solche Lösung attraktiver finden als irgendeinen „faulen Kompromiss“, in dem sich nicht alle britischen Repatriierungswünsche wiederfinden. Die rote Linie, jenseits derer auch Cameron nicht für den Verbleib in der EU eintreten kann, ist die Spaltung seiner Partei. Somit kann auch für Cameron entgegen dem, was er in seiner Rede gesagt hat, der Austritt und der Weg in den EWR an Anziehungskraft gewinnen, sobald klar wird, dass die möglichen Kompromisse nicht ausreichen. Ich glaube, Cameron würde die Austrittsoption in Kauf nehmen, wenn er damit seine Partei zusammenhalten und seine Macht erhalten kann.
Vor dem Referendum gab es auch unter den Brexiteers viele, die das Modell Norwegens oder der Schweiz für denkbar hielten. Beim Referendum war das durchaus eine der denkbaren Formen des Brexit. Sie wussten meistens nicht, wovon sie sprachen, als sie näher hinschauten, wollten sie davon nichts mehr wissen. Heute wollen die etwa 160.000 Mitglieder der Konservativen Partei einen harten Brexit unter Missachtung auch völkerrechtlicher Verpflichtungen – eine Umfrage im Juni 2019 ergab, dass unter diesen „Konservativen“ 43% auch Nigel Farage als Parteiführer akzeptieren würden, dass 63% den Austritt Schottlands, 58% den Austritt Nordirlands aus dem Vereinigten Königreich hinnehmen würden, wenn nur der totale Brexit kommt.
Insbesondere Deutschland hat kein Interesse am Austritt Großbritanniens aus der EU. Die Briten wissen dies ! Aber das deutsche Interesse wird nur instrumental genutzt um die britischen Ziele zu erreichen, ein Entgegenkommen auf dem Gebiet der europäischen Integration ist nicht zu erwarten.
Das deutsche Interesse ist weiterhin, dass Großbritannien nicht austritt, aber der Verbleib Großbritanniens in seiner gegenwärtigen Verfassung wäre vermutlich für das europäische Projekt höchst schädlich. Ich weiß auch nicht wie die Abwägung ausgehen wird, Frankreich scheint jedenfalls entschlossen, die EU nicht durch weitere Konzessionen an die Briten aufs Spiel zu setzen.
Positiv ist, dass in den vergangenen Jahren die über lange Zeit bestehende Verbindung zwischen antideutschen und antieuropäischen Ressentiments aufgebrochen ist. Viele Anti-EU-Politiker glauben, dass Deutschland im Grunde auch ein Interesse haben müsste, die Macht Brüssels zu beschneiden und seine nationale Rolle stärker zu spielen. Britische und deutsche Interessen werden nicht mehr ohne weiteres als Gegensätze gesehen.
Zugleich ist Deutschland nicht mehr – wie es nach Ende des kalten Krieges hieß – „von Freunden umgeben“. Angst vor der Stärke Deutschlands haben alte antideutsche Ressentiments in einigen EU-Ländern wieder erweckt. Die Stimmung in Großbritannien gegenüber Deutschland ist positiver als in Griechenland, Italien oder Polen. Aber darauf sollte sich niemand verlassen. Die Manipulation nationalistischer Gefühle auf Kosten der Verständigung gilt offenbar als akzeptables politisches Instrument. Ein Vereinigtes Königreich im Niedergang wird versucht sein, die Schuld bei anderen zu suchen: Europa und Deutschland (und Frankreich) bieten sich als Projektionsfläche an.
Allerdings hält man die Deutschen für zu wenig selbstbewusst, den Weg Großbritanniens zum Zurückstutzen der europäischen Integration, ja ggf. zur Abwicklung der EU mitzugehen. Im Widerspruch dazu wird allerdings von den gleichen Personen auch eine hegemoniale Rolle Deutschlands befürchtet, der die Briten entgegensteuern müssten – und diese Rolle werde durch die EU noch verstärkt. Cameron teilt diese Sicht offenbar nicht: er ist bereit eine verstärkte Rolle Deutschlands in der Eurozone hinzunehmen, wenn die britischen „Safeguards“ für den Binnenmarkt und ein neues Verhältnis zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU ausgehandelt wird, das neue Vetorechte einführt, um weitere Integration der EU als ganzes zu verhindern. Gegen die Vertiefung setzt Großbritannien weiter auf Erweiterung – auch wenn es absurd klingt: Cameron hat die Drohung mit dem eigenen Austritt ohne Komma mit der Forderung nach Erweiterung verbunden.
Alle diese Aspekte sind mit dem wohl bevorstehenden Brexit überholt. Für die verbleibenden Mitgliedsstaaten können in diesen Fragen erleichtert sein. Ich hoffe auf die Einsicht, dass eine Vertiefung der Union schon deshalb notwendig ist, damit die EU wieder erweiterungsfähig wird. Mit Großbritannien als Mitglied wäre die Überdehnung der EU ohne geeignete Strukturen weitergegangen.
Die Forderungen nach Reformen in den Strukturen der EU und die Forderung nach britischen Sonderrechten werden von Cameron in einem Atemzug genannt. Tatsächlich muss man beides aber auseinander halten. Reformen in der EU liegen auch in unserem Interesse: eine kleinere und schlagkräftigere Kommission war schon im Verfassungsvertrag vorgesehen, im Lissabon-Vertrag nahm man dann Rücksicht auf die innenpolitischen Probleme der gerade neu beigetretenen Länder Osteuropas, die nicht ohne Kommissar in Brüssel leben konnten. Wenn die Briten das jetzt ändern wollen, z.B. auf ein Maximum von 14 Kommissaren, dann könnten wir dabei sein. Ob das Aussicht auf Erfolg hat, kann man ja testen. Wenn bürokratische Verfahren abgebaut und Überregulierungen zurückgeschnitten werden können, dann ist dem nur zuzustimmen – wir wissen, dass das trotz klarer Beschlüsse, die schon vorliegen, nicht einfach ist. Wenn es den Briten gelingt, den Straßburger Sitz des EP zu kippen, werden wir dem nicht widersprechen – viel Vergnügen bei den Gesprächen mit Paris darüber.
Alles das hat bei den Verhandlungen Camerons keine Rolle gespielt. Ihm ging es nicht um Reform der EU, sondern um britische Sonderrechte.
Ein grundlegendes Missverständnis scheint sich in Großbritannien zum Thema der Subsidiarität verfestigt zu haben: Renationalisierungen großen Stils, die die EU als solche in Frage stellen, fallen nicht darunter. Die Beschlüsse von Laeken sind hier nicht sehr klar. Rücknahmen von Kompetenzen werden dort durchaus für möglich gehalten. Aber das Problem besteht eher in einer zu weiten Auslegung von Kompetenzen durch die Kommission als in der Kompetenzverteilung selbst.
Aber selbst über die Kompetenzverteilung lässt sich natürlich reden. Nur muss man sich im klaren darüber sein, das die EU – und auch der Binnenmarkt – ein Gleichgewicht widerspiegelt, das sich aus den multilaterlaen Verhandlungen über die Jahre eingestellt hat. Wer dieses an einer Stelle aufbricht, muss woanders wieder ausgleichen, und wenn zu viel repatriiert wird, dann ist die EU keine Union mehr, sondern ein Schatten ihrer selbst. Wenn wir das wollen, könnten wir den Briten weit entgegenkommen – andere Länder würden sicher bald folgen, und am Ende auch Deutschland.
Da Cameron und die britische Regierung keine „bessere EU“ anstrebten, sondern nur Renationalisierungen für sich selbst, kam es nie zu einer Debatte, wie Kompetenzen und Subsidiarität im gesamteuropäischen Interesse optimal verteilt werden sollten. Damit hat Cameron eine Chance verpasst. Er hat diese Chance vermutlich nie begriffen! Die Fragen zur „balance of competences“ waren ein durchsichtiger Versuch, britische Interessen dadurch zu promovieren, dass man bei jedem Partnerland Punkte sammelte, die für Renationalisierungen instrumentalisiert werden konnten. Es ging um die Debatte in der Tory-Partei, nicht in Europa.
Cameron stellte die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit in dem Mittelpunkt seiner Ziele für eine erneuerte Europäische Union. Dem können wir nicht widersprechen. Allerdings sieht er die Gründe für mangelnde Wettbewerbsfähigkeit in übermäßiger Regulierung aus Brüssel. Tatsächlich zeigte sowohl die Krise einiger Euroländer wie das völlig unbefriedigende Wachstum in Großbritannien, dass es vor allem nationale politische Entscheidungen waren – z.B. völlig überzogene private und staatliche Verschuldung – die zu Strukturmängeln und mangelnder Wettbewerbsfähigkeit erheblich beitrugen. Der Verdacht liegt nicht fern, dass die EU hier für das Versagen der nationalen Wirtschaftspolitik verantwortlich gemacht werden soll. Wenn Cameron in seiner Rede unter Hinweis auf die Demonstrationen in Südeuropa die Austerity-Politik in der Eurozone geißelt, dann ist das angesichts der britischen Austerity-Politik gelinde gesagt ein Widerspruch.
Dieser Widerspruch besteht auch heute noch: wir werden bald sehen, dass die britische Politik kein Deut besser wird, nur kann die EU dann nicht mehr als Sündenbock herhalten.
Die Europagegner und die Austrittbefürworter in der konservativen Partei jubeln. Haben sie nicht zugehört, als Cameron im letzten Teil seiner Rede die wichtige Rolle der EU für die Außen- und Sicherheitspolitik, für die britische Wirtschaft und die Rolle in der Welt – auch gegenüber den USA – dargelegt hat. Doch: aber sie haben richtig erkannt, dass dieser Teil der Rede, der offenbar im Außenministerium formuliert wurde, nicht der Kern ist. Wenn es ein Referendum gibt und dieses an – eher unrealistische und zugleich ultimative – Forderungen an Änderungen der EU geknüpft wird, dann ist das eigentliche Ziel der Europagegner fast schon erreicht. Gegenüber der bestehenden EU ist es die Ankündigung der Wahl zwischen Austritt und Austritt – nur gegenüber einer Chimäre einer denaturierten EU bleibt die Option für das Verbleiben erhalten. Das erfreut diejenigen, die den Austritt ohnehin wollen. Cameron sollte das eigentlich wissen.
Das Foreign Office wurde immer mehr entmachtet. Stimmen der Vernunft störten nur. Theresa May machte aus der sicherheitspolitischen Rolle Großbritanniens einen bargaining chip – das allein wirft Fragen zur Verlässlichkleit auf. Die Partner in der EU haben großes Interessen an sicherheitspolitischer Zusammenarbeit – im Rahmen der NATO wird das auch weitergehen – mit dem Risiko, dass die USA inzwischen nicht mehr uneingeschränkt als verlässlicher Partner einzuschätzen sind. Das Referendum so anzusetzen wie es Cameron getan hat, die Alternative zwischen einer Chimäre der EU und dem Austritt zu stellen, bedeutete schon damals, dass der Brexit wahrscheinlich war. Damals war ich durchaus wütend und besorgt, heute eigentlich nur noch traurig darüber, wie das große Britannien sich selbst klein macht.
Der Austritt Großbritanniens ist keine entfernte Möglichkeit mehr, sondern wir müssen damit ganz realistisch rechnen. Wir können und sollten versuchen, es zu verhindern, aber unsere Möglichkeiten dazu sind sehr beschränkt. Welche Möglichkeiten bestehen aber in Großbritannien selbst für eine pro-europäische Wende? Schon in den Wochen vor Camerons Rede ist eine lebendige, sehr heftige und oft polemische Debatte in Gang gekommen. Viele Unternehmer sind aufgewacht und haben erkannt, dass sie sich öffentlich äußern müssen, wenn sie die Nachteile eines Austritts vermeiden wollen. Das Schatzamt hat über zwei Wochen mühsam Gegenstimmen für einen Leserbrief mobilisiert, aber die wirklich prominenten Business-Führer haben in der Financial Times vor so einem va banque Spiel mit dem Austritt gewarnt. Unsicherheit über den Verbleib Großbritanniens in der EU wird vorerst Investoren, die den Kontinent als Markt haben, abschrecken.
Leider hatte ich hier recht (und hätte lieber unrecht gehabt!): wir mussten realistisch mit dem Brexit rechnen. Unsere Möglichkeiten, das zu verhindern waren sehr beschränkt. Die Gegenbewegung mussten die Briten selbst organisieren. Sie kam nur zögerlich auf, denn viele glaubten einfach nicht, dass eine Mehrheit so einen Unsinn beschließen würde. Ich habe die Remainers überschätzt! Ihr Auftritt war schwach. Aber sie hatten einen schweren Stand.
Die liberaldemokratischen Koalitionspartner Camerons sind strikt gegen das angekündigte Referendum. Sie sind Pro-Europäer und entsetzt darüber, wie weit Cameron seinen Europagegnern entgegenkommt. Sollten die Konservativen 2015 keine eigene Mehrheit haben, wird es für die Liberaldemokraten sehr schwer die Koalition fortsetzen, wenn damit der Austritt aus der EU droht.
Heute heißt es, Cameron glaubte, dass er sein Versprechen nicht zu erfüllen brauchte, weil er keine absolute Mehrheit für möglich hielt und die LibDems ihn schon an der Erfüllung hindern würden. Wenn das stimmt, dann erweist Cameron sich noch mehr als verantwortungsloser Spieler mit dem Schicksal seines Landes, als Spieler, dem die eigene Partei wichtiger ist als das nationale Interesse. Ich habe damals auch nicht geglaubt, dass diese Verantwortungslosigkeit eine Mehrheit der Tories erfassen würde.
Die Labour Partei ist in einem Dilemma. Der Vorsitzende Ed Miliband hält ein Referendum unter den von Cameron genannten Bedingungen für unsinnig, aber er wird sich dem Argument, er dürfe nicht so aussehen, als fürchte er „des Volkes Votum“ über Europa. Er müsste nach einer Regierungsübernahme eine heftige Kampagne der Tories gegen jegliche Europapolitik gewärtigen. Zudem steht er ohnehin unter dem Zwang jegliche neue Übertragung von Kompetenzen nach Brüssel einem Referendum zu unterwerfen, der
„referendum lock“ ist Gesetz. Damit wird Miliband auch Reformen in der EU – wenn substanzielle Vertragsänderungen involviert sind – nicht ohne Referendum zustimmen können. Jedes Referendum würde aber unter einer Welle des Populismus mit wütender antieuropäischen Tönen der Boulevardpresse und der Tories stattfinden.
Es kam noch schlimmer! Mit Jeremy Corbyn wurde ein Antieuropäer neuer Parteichef der Labour Party. In der Referendumskampagne trat er lauwarm – nein: eigentlich nur kalt – für Remain ein. Jeder wusste, dass er den Brexit
eigentlich ganz gut fand, schon um sein Ziel des „Sozialismus in einem Lande“ zu verwirklichen. Dass der Weg der Tories in die Unvernunft mit der Wende der Labourführung zu linken Utopien zusammenfiel, ist eine tragische Kombination, die Brexit nur wahrscheinlicher machte.
Unter einer Labourregierung würde zwar die Drohung mit dem Austritt wegfallen, aber Fortschritte der Integration kann auch Labour angesichts des 'referendum lock' nicht mehr mitvollziehen. Und die nächste konservative Regierung wird voraussichtlich das ganze Thema dort wieder aufnehmen, wo sie es verlassen hat. Das könnte die wirtschaftliche Unsicherheit noch über 2017 hinaus verlängern.
Das wäre auch jetzt noch der Fall, wenn Labour nach einem Wahlgewinn eine Zollunion abschließen würde oder gar in der EU bliebe: die nächste Tory-Regierung (oder die der Brexitpartei, die die Trümmer der Konservativen aufsammelt) würde alle Kompromisse wieder infrage stellen. Solange das Land so gespalten bleibt, wird auch die wirtschaftliche Unsicherheit anhalten.
Wäre es dann nicht auch für uns besser, wenn Großbritannien aus der EU austritt und danach sein Verhältnis zur EU neu ordnet? Angesichts unseres klaren Interesses an guten Beziehungen zum Vereinigten Königreich könnte das neue Verhältnis großzügig ausgestaltet werden – vielleicht weitergehend als mit Norwegen. Eine weitere Vollmitgliedschaft in der EU würde für beide Seiten die Debatte nicht beenden. Die Rest-EU könnte ihre Integration ohne Hemmschuh fortsetzen, die britische Regierung kann nationale Politik in dem Rahmen betreiben, der mit dem Zugang zum Binnenmarkt vereinbar ist. Eine Bedingung für ein solches Arrangement sollte der Schengen-Beitritt Großbritanniens sein. Das ist derzeit allerdings noch ein Tabu in Großbritannien.
Auch dieser Weg ist inzwischen weitgehend verbaut. Nur ein Labour-Wahlsieg und ein anschließendes neues Referendum könnte die Chance zu einer Übergangslösung öffnen.
Wäre aber der Austritt Großbritanniens nicht ein Schlag für die europäische Sicherheitspolitik ? Da die Briten Sicherheitspolitik lieber über die NATO definieren, ist das nicht zu befürchten. Eine Sicherheitspolitik der EU ist in London ohenhin verdächtig – der Widerstand gegen ein europäisches ESVP Hauptquartier spricht hier Bände.
Das trifft auch heute noch zu. Allerdings ist durch die Politik der USA unter Trump inzwischen eine neue sicherheitspolitische Lage entstanden, die ich hier nicht weiter kommentieren will.
Die Hauptgefahr eines britischen Austritts dürfte am ehesten darin bestehen, dass die Briten schnell feststellen, dass ihre Gestaltungsmacht damit deutlich abnimmt. Das könnte sie in die Versuchung bringen ihre klassische – und in der Mentalität gut verankerte – balance of power Politik wieder aufzunehmen und zu versuchen, die Rest-EU zu zerstören, indem innere Gegensätze dort ausgenutzt werden, weil man sich davon eine bessere Machtposition verspricht. Das muss nicht erfolgversprechend sein – aber es würde die Beziehungen gerade auch zu uns eher unfreundlich gestalten, und daran kann uns nicht gelegen sein.
Der Versuchung der „balance-of-power“ erlag schon die Regierung Theresa May – und sie ist damit krachend gescheitert, denn damit hat sie nur den Zusammnhalt der übrigen EU-Länder gestärkt.
FAZIT: Wir sollten die pro-Europäer in Großbritannien mobilisieren und überall wo das möglich ist etwas für den Verbleib des UK in der EU tun. Es muss ernsthaft geprüft werden, ob ein neues Arrangement in Europa möglich ist, wo einer stärker integrierten Eurozone eine zweite Gruppe Mitglieder in einem etwas lockereren Verbund zu Europa treten kann (das dürfte auch Auswirkungen auf weitere Erweiterungen der EU haben). Es macht aber wenig Sinn, David Cameron entgegenzukommen, wenn er nicht liefern kann, weil die Europhoben in seiner Partei vor einem definitiven Austritt keine Ruhe geben. Dabei muss auch die Präzedenzwirkung auf andere beachtet werden, sonst landen wir bei „Europa à la carte“ und enden mit der Zerstörung der EU.
Das FAZIT gilt heute wie damals!
© Georg Boomgaarden