Rede am 06.Februar 2012
vor der Deutsch-Britischen Gesellschaft
Das Jahr 2012 war das Jahr der Olympischen Spiele in London und des 60. Thronjubiläums von Königin Elisabeth II. - Feste, bei denen sich die britische Gesellschaft feiern konnte. Den Rekord der Königin Victoria hat Elisabeth II. dann noch gebrochen - 2022 konnte sie kurz vor ihrem Tode sogar noch das 70.Thronjubiläum feiern. Ich betonte in meinen Reden immer wieder, dass Großbritannien ein unverzichtbarer Partner in der EU war. Damit wollte ich auch ein Zeichen dagegen setzen, dass viele im Vereinigten Königreich die EU-Mitgliedschaft infrage stellten. Die Austerity-Politik der Tory-Regierung war durch die hohe Verschuldung der vorhergehenden Labourregierung verursacht - aber das konnte nicht als dauerhafte Begründung für das dienen, was als Umbau der Gesellschaft geplant war.
Diese Rede ist bereits davon geprägt, dass die europafeindliche Haltung bei den Tories immer stärker wurde und auch auf die Politik von Premierminister Cameron ausstrahlte. Der eigentlich europafreundliche liberaldemokratische Koalitionspartner ließ sich sogar darauf ein, Referenden für relativ geringe Änderungen der EU-Verträge verbindlich festzuschreiben - was eine britische Teilnahme an weiteren Reformen in der EU fast unmöglich machte. Unter den Zuhörern in Berlin waren viele mit unseren bilateralen Wirtschaftsbeziehungen verbundene Personen. Ich versuche in der Rede - dafür zu werben, dass diese Gruppe aktiver gegen den Euroskeptizismus eintrat. Aber letzlich war das Engagement der Wirtschaft gegen den Brexit völlig unzureichend: erst wurde die Gefahr unterschätzt, später blieben die Sorgen der Bürger gegen die EU unverstanden und die Argumente, die gegen den Brexit seitens der Wirtschaft vorgebracht wurden, beschränkten sich auf abstrakte Horrorszenarien im Tableau der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung.
Rede am 06.Februar 2012 vor der Deutsch-Britischen Gesellschaft in Berlin
Dies ist ein denkwürdiger Tag: Heute begeht Königin Elisabeth II. den 60. Jahrestag ihrer Thronbesteigung. Sie regiert damit fast so lange wie die Bundesrepublik Deutschland als Staat existiert. Nur Königin Viktoria regierte bisher länger, und es hat allen Anschein, als werde Königin Elisabeth auch deren Rekord noch brechen. Ihre lange, umsichtige, für das Königshaus und das Vereinigte Königreich erfolgreiche Amtsführung stellt eine bemerkenswerte Konstante im politischen Leben Großbritanniens dar und bildet zugleich die übergreifende Klammer für das Commonwealth. Das diamantene Thronjubiläum, das freilich erst im Juni und dann bei hoffentlich gutem Wetter prunkvoll gefeiert werden wird, ist für viele Briten das Ereignis des Jahres, das auch die Olympischen Spiele im Sommer überstrahlt. Das Thronjubiläum ist ein Symbol historischer Kontinuität und damit für viele ein beruhigendes Symbol der Rückversicherung britischer Identität in Zeiten großer Herausforderungen.
Und damit sind wir bereits beim Thema: Herausforderungen - deren gibt es derzeit wahrlich zur Genüge - für Großbritannien, für Deutschland und für Europa. Dass diese Herausforderungen untrennbar miteinander verknüpft sind, liegt auf der Hand. Deshalb setzen wir von deutscher Seite unvermindert auf die Zusammenarbeit mit GBR, gerade wenn es um Binnenmarkt, Wachstumspolitik und die Krisenherde der Welt geht. GBR ist ein unverzichtbarer Partner in der EU.
Die Globalisierung, die Folgen der Finanzkrise, die Schuldenkrise und das Bemühen um deren Bewältigung bilden das Spannungsfeld, innerhalb dessen sich Regierungen und die Europäische Union innenpolitisch wie außenpolitisch vor schwerwiegende Entscheidungen gestellt sehen. Ich möchte mich in den kommenden Minuten auf die politischen und wirtschaftlichen Herausforderungen für GBR und die Europäische Union konzentrieren und dabei immer wieder bilaterale Kooperationsmöglichkeiten zum gegenseitigen Nutzen aufgreifen.
"Keep calm and carry on" - diese Devise gilt vielen Briten nicht nur als idealtypisch für gutes und vorbildliches britisches Verhalten. Gelassenheit und Vertrauen auf Bewährtes ist ein Charakterzug, den auch wir an unseren britischen Freunden bewundern. Gelassenheit bleibt weiter geboten. Ein "weiter so" lassen die Realitäten aber nicht zu.
In Großbritannien selbst erzwingen Wirtschaftslage und Haushaltsdefizit in vielen Bereichen ein Umdenken. Kontinuität und Bewährtes stehen auf dem Prüfstand. Auch der Fortbestand des Vereinigten Königreichs in seiner bisherigen verfassungsmäßigen Gestalt ist keineswegs eine Selbstverständlichkeit. Lassen Sie uns dies im einzelnen betrachten:
Wie wir alle in Europa, hat Großbritannien in Erwartung eines weiter anhaltenden Wirtschaftswachstums über seine Verhältnisse gelebt. Der Staat und vor allem auch die privaten Haushalte sind hoch verschuldet. Die Wirtschaftsstruktur hat sich mit ihrer Konzentration auf den erfolgreichen Finanzsektor und dem Niedergang von Industrie und Handwerk als anfällig gegenüber veränderten weltweiten Rahmenbedingungen erwiesen.
Schwierige Wirtschaftslage, steigende Arbeitslosigkeit und ein anhaltendes Auseinanderdriften der Einkommen gehören zu den Realitäten. Der britische Traum vom eigenen Haus ist für viele Bürger nicht mehr erreichbar. Auch „first time buyers“ aus der Mittelschicht sehen sich zunehmend aus dem Markt gedrängt, ein Umstand von nicht zu unterschätzender sozialer Tragweite.
Die Koalitionsregierung hat sich ein radikales Sparprogramm zur Reduzierung des Haushaltsdefizits verordnet und sich einen ambitionierten Plan für politische Reformen gesetzt.
Das Haushaltsdefizit soll in vier Jahren von 9,8% auf 2,6% zurückgeführt werden. Bei realen Haushaltskürzungen von ca. 81 Milliarden Pfund müssen Ressorts zwischen 25% und 40% ihrer Etats bis 2014/15 einsparen. Die größten Einschnitte gibt es bei Sozialleistungen, den Zuweisungen an die Kommunen sowie im Innen- und Sicherheitsbereich.
2011 lag das Wirtschaftswachstum bei 0,9%, im letzten Quartal 2011 ist die Wirtschaft um 0,2% geschrumpft. Die Prognosen des IWF für 2012 liegen bei 0,6% Wachstum. Das Haushaltsdefizit ist im Januar erstmals auf über 1 Billion Pfund (= 1 GBR Trillion) gestiegen. Die Zahl der Arbeitslosen liegt mit 2,68 Mio so hoch wie seit 17 Jahren nicht mehr, davon sind über 1 Mio zwischen 16 und 24 Jahren alt.
Die britische Regierung geht diese Herkulesaufgabe mit Mut und Entschiedenheit an. Sozialleistungen und bürokratische Strukturen sollen abgebaut werden, Bürger und privater Sektor stärker Verantwortung übernehmen. Zu den erklärten Zielen gehört unter anderem
• der Umbau des steuerfinanzierten Nationalen Gesundheitsdienstes NHS
• ein Zusammenfassen von wohlfahrtstaatlichen Einzelhilfen zu einer einzigen Zahlung. Eine Obergrenze soll einen deutlichen Einkommensabstand zwischen erwerbstätigen und nicht-erwerbstätigen Familien schaffen.
• bisher universelle Leistungen wie das Kindergeld sollen nur bei Unterschreiten bestimmter Einkommensgrenzen gezahlt werden.
• das Anheben des Renteneintrittsalters auf 66 Jahre.
• mehr Wettbewerb im Schul- und Hochschulwesen.
Nach den Vorstellungen der Regierung sollen Industrie und Handwerk wieder eine größere Rolle spielen. Im Rahmen des sogenannten „rebalancing“ möchte man diesen Sektor stärken und über diese Diversifizierung die Volkswirtschaft weniger krisenanfällig gestalten. Solche strukturellen Veränderungen lassen sich aber nicht kurzfristig bewirken. Derzeit werden nur etwa 13% des BIP in Handwerk und Industrie erwirtschaftet, im Vergleich zu 25% in Deutschland. Aktuell ist der Anteil weiterhin rückläufig.
Ein wichtiges Element im Rahmen des „rebalancing“ ist die Bekämpfung des Fachkräftemangels, ein Problem, unter dem auch deutsche Firmen in GBR leiden. Die britische Regierung verdient Lob für ihre Initiative zur Verbesserung der beruflichen Bildung. Die Zahl der ausbildenden Betriebe in Großbritannien ist immer noch sehr gering, doch ist die Ausbildung junger Menschen das beste Mittel gegen Jugendarbeitslosigkeit. Für die Regierung liegt die Herausforderung darin, die Zusammenarbeit zwischen Betrieben und berufsbildenden Schulen zu verbessern und ein System von Qualifikationen zu schaffen, das den Bedürfnissen des Arbeitsmarkts entspricht.
Eine für beide Seiten belebende Kooperation bietet sich für deutsche und britische Unternehmen in den Bereichen Infrastruktur und Energie. Dabei geht es um Eisenbahnen und Straßen, Häfen und Flughäfen. Die größte Herausforderung aber ist der Ausbau der Energieinfrastruktur: Bau neuer Nuklear- und Gaskraftwerke, ehrgeizige Pläne zur Ausweitung der Nutzung erneuerbarer Energien, Einführung intelligenter Netze und Stromzähler, Verbesserung der Energieeffizienz von Gebäuden – all dies vor dem Hintergrund der gesetzlich vorgeschriebenen Reduzierung der CO2- Emissionen.
Das Vereinigte Königreich hat den Ehrgeiz, beim Aufbau einer „grünen Wirtschaft“ in Europa eine führende Rolle zu spielen. Dies ist eine Gelegenheit, Tausende von Arbeitsplätzen zu schaffen – eine Herausforderung, der sich unsere beiden Ländern stellen und die wir gemeinsam in Europa am besten bewältigen können. Denn GBR verfügt über das größte Potential an Wind-, Wellen- und Gezeitenenergie und DEU ist technologisch führend.
Auch das politische System wird umgebaut und soll schlanker werden. Einführung fester Legislaturperioden, Verkleinerung des Unterhauses von 650 auf 600 Abgeordnete und Neuzuschnitt der Wahlkreise, Umwandlung des Oberhauses in eine Kammer, die zu 80 % nach dem Verhältniswahlrecht gewählt wird – dies sind nur einige Stichworte.
Die möglicherweise bedeutendste verfassungsrechtliche Veränderung könnte der Regierung diktiert werden. Die Scottish National Party, gestärkt durch ihren Wahlerfolg vom Mai 2011, macht ernst damit, das Verhältnis Schottlands zu England zumindest neu zu definieren. Die schottische Regierung strebt für Herbst 2014 ein Referendum über die schottische Unabhängigkeit an. Über die Frage, ob das Parlament in Schottland oder das in Westminster befugt ist, die Modalitäten eines solchen Referendums festzulegen, gibt es zwischen London und Edinburgh einen Verfassungsstreit mit ungewissem Ausgang. Die Frage einer erweiterten Autonomie soll aus Londoner Sicht gar nicht gestellt werden dürfen, die schottische Regierung will sie aber als Alternative zur völligen Unabhängigkeit zur Abstimmung stellen. Die neue politische Dynamik in Schottland ist in England und auch in Westminster lange ignoriert worden. Ihr steht bisher kein vergleichbares Nachdenken über englische oder britische Identität und Verfassung gegenüber.
Und nun zu Europa:
Die zentrale Herausforderung für die Eurozone liegt auf der Hand: Stabilisierung der Eurozone und Rückgewinnung von Vertrauen. Der Wohlstand Großbritanniens hängt ganz wesentlich von den Entwicklungen in Europa und insbesondere der Eurozone ab. 40% unserer Exporte, in Deutschland wie in Großbritannien, gehen in die Eurozone. Deutschland ist für das Vereinigte Königreich weiterhin der wichtigste Handelspartner, das Vereinigte Königreich liegt für Deutschland auf dem sechsten Platz.
Auch bei den Investitionen gibt es eine ganz erhebliche Verflechtung: Ende 2009, neuere amtliche Zahlen stehen noch nicht zur Verfügung, standen die deutschen Direktinvestitionen im Vereinigten Königreich bei 120 Milliarden €, während die britischen Investitionen in Deutschland 40 Milliarden € betrugen. Mehr als 300.000 Arbeitsplätze in Großbritannien, mehr als 1% der Arbeitsplätze überhaupt, sind deutschen Unternehmen zuzurechnen. Nach einer Umfrage der Deutsch-Britischen Industrie- und Handelskammer erreichten 70% der in GBR neu etablierten Unternehmen innerhalb von drei Jahren die Gewinnzone. Ein gutes Ergebnis, das optimistisch stimmt.
Die beschriebene Verflechtung unterstreicht es eindrücklich: Es besteht ein übergeordnetes gemeinsames Interesse an Stabilität in der Eurozone und einer Behebung der Schuldenkrise. Das Krisenmanagement ist gemeinsame Aufgabe.
AM Westerwelle hat jüngst in Washington noch einmal erläutert, wie sich Deutschland den Weg aus der Krise vorstellt:
Erstens: durch die Schaffung einer Fiskalunion der Eurozonenstaaten und ihrer künftigen Mitglieder, die bestehende Konstruktionsfehler der Währungsunion behebt, eine Schuldenbremse einführt, verantwortungsvolle Haushaltsführung, enge Koordinierung und im Fall eines Regelverstoßes mehr oder weniger automatischen Sanktionen vorschreibt. Ziel ist es, eine Stabilitätsunion mit klaren und durchsetzbaren Regeln zu schaffen, die das Vertrauen der Märkte zurückgewinnt und eine Wiederholung der Krise verhindert.
Zweitens: durch Strukturreformen und Wachstumsanreize, wie sie Europa 2020 vorsieht.
Zugleich hat die Bundesregierung dem Ruf nach übereilten Maßnahmen eine Absage erteilt. Die Rückgewinnung von Vertrauen in den Euro und Europa gelingt nicht mit dem Auspacken der „Big Bazooka“, sie erfordert klare Strukturen für die gemeinsame Währung und einen Paradigmenwechsel weg von Schuldenwirtschaft hin zu haushaltspolitischer Verantwortung und Nachhaltigkeit.
In diesen Kontext gehört auch der bereits im März 2011 beschlossene Europäische Stabilitätsmechanismus ESM. Er wird die Aufgabe haben, von Finanzierungsproblemen bedrohten Mitgliedstaaten der Eurozone zur Seite zu stehen. Das Vereinigte Königreich wird zwar keinen finanziellen Beitrag zum ESM leisten, die Ratifikation im House of Commons ist aber noch nicht vollzogen. Hier sollten wir den Parlamentariern gegenüber gemeinsam dafür werben, dass eine Stabilisierung der Eurozone für Großbritannien von größtem nationalem Interesse ist - und der ESM ist das finanzielle Herzstück. Die EU muss beweisen, dass Mitgliedstaaten nicht allein gelassen werden, wenn sie sich über die Märkte nicht mehr finanzieren können. Ich bin zwar sicher, dass auch der Internationale Währungsfonds eine wichtige Rolle bei der Unterstützung der Mitgliedstaaten spielen wird. Im Kern werden es aber europäische Institutionen sein müssen, die dazu den entscheidenden Beitrag leisten.
Am 30. Januar haben sich 26 Staaten auf einen Fiskalpakt verständigt, er soll im März unterzeichnet werden.(nach dem 30.01. prüfen). Das ist ein erster wichtiger Schritt. Die Bundeskanzlerin und der Außenminister haben es nach dem Gipfel im Dezember klar gemacht: Wir sehen Großbritannien als wichtigen Partner in der Europäischen Union und die Tür bleibt auch in Sachen Fiskalpakt offen. Die britische Seite war bei den Verhandlungen über den Vertrag vertreten und hat sich inhaltlich beteiligt.
Mit dem Fiskalpakt stellt sich eine weitere Herausforderung: die einer möglichen Spaltung der EU. DEU möchte die EU zusammenhalten, deshalb hatte die Bundesregierung eine Vertragsänderung zu 27 vorgeschlagen, deshalb strebt sie nun an, den Fiskalpakt zu einem späteren Zeitpunkt in europäisches Primärrecht zu überführen.
Die in Brüssel im Dezember erhobenen britischen Forderungen im Finanzmarktbereich waren für die 26 Partner nicht akzeptabel. Sie überschritten deren roten Linien und stellten den acquis des Binnenmarktes infrage. Zugleich gilt, was Minister Westerwelle am 19.12. in London gesagt hat: Wir erkennen die Bedeutung des Finanzplatzes London für GBR aber auch für Europa uneingeschränkt an. Natürlich sind die Frage der Regulierung von Finanzdienstleistungen und die Wettbewerbsfähigkeit der City für Großbritannien von besonderer Bedeutung. Die Herausforderung besteht darin, bei der durch die Erfahrungen der letzten Finanzkrise notwendigen Neugestaltung der Finanzregulierung einen tragfähigen Kompromiss zu finden.
Nach dem Gipfel und dem Aufbrechen der europapolitischen Gegensätze in der Londoner Koalitionsregierung stellt sich nun für alle sichtbar die Frage, wie Großbritannien seine eigene Rolle in Europa künftig gestalten möchte – dies erscheint mir die zentrale Herausforderung für Westminster. Unabdingbare Voraussetzung für die Beantwortung dieser Frage ist eine ehrliche und offene Debatte über das britische nationale Interesse.
Nicht wenige Stimmen in Öffentlichkeit und Parlament reden einer „Norwegisierung“ Britanniens und einer Mitgliedschaft lediglich im gemeinsamen Markt das Wort. Eine Analyse der Vorteile, die GBR aus seiner EU-Mitgliedschaft zieht, die enge Verflechtung mit der europäischen Wirtschaft, das Gewicht der Freihandelsabkommen, die GBR allein nicht abzuschließen in der Lage wäre, die Möglichkeit der Verstärkung eigener außenpolitischer Interessen über den Hebel der GASP – eine offene Debatte hierzu würde das nationale Interesse deutlicher zutage treten lassen.
Angesichts schwindender Ressourcen und des Aufstiegs Asiens in einer globalisierten Welt können europäische Nationalstaaten nicht mehr allein, sondern nur noch als Gruppe reüssieren. Wie DEU so verfügt auch GBR nur über etwa 1% der Weltbevölkerung, Tendenz fallend. In London gibt es warnende Stimmen, die den Verlust einer Führungsrolle in der EU mit einem Verlust an Ansehen in Washington und in der Welt gleichsetzen – auch dies ein Grund, die GBR Interessenlage genau im Auge zu behalten.
Jeder EU-Staat hat gravamina gegenüber Brüssel. Der verbreitete Ansatz aber, „alles Schlechte kommt aus Brüssel“ bzw. von den EU-Bürokraten, ist unehrlich und bedarf der Korrektur.
Fakten sind eine wichtige Grundlage für Politik. Für Entscheidungen zuweilen ebenso ausschlaggebend sind jedoch Wahrnehmungen und Images. Der Rückgriff einer britischen Zeitung auf eine Karikatur aus dem 2. Weltkrieg, in der ein Britischer Soldat nach Dünkirchen dem Rest der Welt von den Klippen von Dover herab ein entschlossen-trotziges „Very well - alone!“ entgegen schleudert, illustriert die GBR Wahrnehmung eindrücklich.
Dennoch entspringt die Karikatur einer Fehlwahrnehmung des Dezemberrats. Europa, und ganz besonders Deutschland, wollen Großbritannien an Bord; bei der Lösung der Schuldenkrise, bei wichtigen kommenden Entscheidungen zu Wachstum und Konkurrenzfähigkeit und in der GASP. Die EU drängt GBR nicht an den Rand, GBR hat seine Positionierung in der EU selbst in der Hand und hat Gestaltungsspielräume.
Es gibt eine ganze Reihe von Bereichen, in denen GBR und DEU zum gegenseitigen Vorteil und dem der EU kooperieren sollten. Zum Teil haben sich die Regierungschefs, Außenminister und Europastaatsekretäre in den vergangenen sechs Wochen bereits hierzu geeinigt:
1. Gemeinsame Anstrengungen für Wachstum und Konkurrenzfähigkeit
2. Vorantreiben weiterer Freihandelsabkommen
3. Fortsetzung der Vollendung des Binnenmarkts.
Lassen Sie mich hierauf ausführlicher eingehen: Der Binnenmarkt ist der Kern der europäischen Integration, dem wir den enormen Zuwachs an Wohlstand und die Schaffung zahlloser Arbeitsplätze seit der Gründung der EU zu verdanken haben. Zugleich ist er von seiner Vollendung noch weit entfernt. Die Europäische Kommission hat Vorschläge zur Weiterentwicklung des Binnenmarkts auf der Grundlage eines Berichts von Mario Monti, früher selbst Kommissar und heute italienischer Ministerpräsident, gemacht. Es ist Zeit, diese Vorschläge jetzt zu diskutieren und soweit möglich in die Tat umzusetzen.
Drei Bereiche haben dabei Priorität:
Erstens der digitale Binnenmarkt, dabei geht es um die Beseitigung rechtlicher und technischer Hindernisse für den Online-Handel.
Zweitens muss der Markt für Dienstleistungen weiter liberalisiert werden - drei Viertel unseres Bruttoinlandsprodukts werden schon jetzt mit Dienstleistungen erwirtschaftet.
Der dritte Bereich für eine Ausdehnung des Binnenmarkts ist Energie. Die Gasversorgungskrisen während der vergangenen harten Winter haben gezeigt, dass es an der Zeit ist, eine gemeinsame Verantwortung für Europas Energieversorgung zu entwickeln. Ressourcen müssen zusammengelegt und Netze verbunden werden, so dass nicht nur das Gas sondern auch die Elektrizität dorthin fließen kann, wo sie gebraucht wird, und das zu einem möglichst günstigen Preis.
Viertens: der Mehrjährige Finanzrahmen der EU für 2014 – 2020. GBR und DEU verfolgen hier gemeinsame Ziele: Ein sparsamer Mittelansatz, die Deckelung der Gesamtausgaben und eine stärkere Förderung von Zukunftsaufgaben gehören dazu. Fazit: Was Haushaltsdisziplin angeht, haben wir in Großbritannien einen starken Verbündeten.
Im Rahmen der GASP bieten sich folgende Bereiche an:
- engste Abstimmung zu den aktuellen Krisendossiers Iran, Syrien und Nahost
- verstärkte Anstrengung für einen erfolgreichen Wandel in der arabischen Welt und Marktöffnung für sich demokratisierende Länder
- Ausbau der strategischen Partnerschaften mit den aufstrebenden Wirtschaftsmächten BRA, IND und CHN.
Und dies sind nur einige Beispiele.
Großbritannien füllt seine Rolle in NATO, VNSicherheitsrat, G8 und G20 weiterhin selbstbewusst aus.
Angesichts dessen darf ein Blick auf die Herausforderungen im sicherheitspolitischen Bereich nicht fehlen. Ressourcenknappheit und Selbstverständnis als „global player“ bedeuten aktuell einen schwierigen Spagat. Die Budgetknappheit in GBR und bei den Verbündeten hat strategische Folgen. Die einschneidenden Sparbeschlüsse der Strategic Defence and Security Review (SDSR) haben bereits zu einer erheblichen Reduzierung der militärischen Fähigkeiten geführt. Zur Durch- und Umsetzung eigener Interessen wird GBR künftig vermehrt auf Allianzen und Kooperationen angewiesen sein. Stichworte hier sind „smart defense“ und „burden sharing“. In beiden Bereichen können DEU und GBR mit Blick auf den NATOGipfel in Chicago und dortige Weichenstellungen entscheidend kooperieren.
Mit der neuen US- Strategie ist eine tendenzielle Verlagerung des US- Interesses und US–Engagements vom atlantischen Raum hin zum Pazifik und nach Asien verbunden. Der europäische Pfeiler der NATO und die EU werden sich neu ausrichten müssen. Dabei wird Großbritannien als wichtigem Partner in der NATO und der EU eine entscheidende Führungsrolle zukommen.
Lassen Sie mich zusammenfassen:
Die genannten Herausforderungen für GBR und für DEU lassen sich gemeinsam und im europäischen Verbund besser bewältigen – und dabei sind wir auf Themen wie Globalisierung, terroristische Gefahren, Cyberspace und viele andere noch gar nicht eingegangen.
Die personellen Voraussetzungen für eine stärkere Zusammenarbeit sind gut. Bundeskanzlerin Merkel und Premierminister Cameron sind in engem Kontakt. Die Außenminister stimmen sich eng ab, BM Westerwelle war nach dem Dezember-Rat in London. Der neue Staatsminister für Europafragen Michael Link suchte letzte Woche sofort nach Amtsantritt seinen britischen Gegenüber Europaminister David Lidington auf. Dies war seine 2. Station nach Kopenhagen - DNK hat die Präsidentschaft inne. Am 28. November wurden regelmäßige Treffen der für Europafragen zuständigen Staatsminister und Staatssekretäre beider Regierungen ins Leben gerufen. All dies sind positive Rahmenbedingungen.
Die EU ist die Summe ihrer Mitgliedstaaten: der Rückzug eines Mitgliedsstaates mindert ihr politisches Gewicht, ein auch nur teilweiser Rückzug des großen Mitglieds GBRs ganz besonders. Zugleich werden auch künftig Mitspracheund Einflussmöglichkeiten in für GBR entscheidenden Fragen eng mit Partizipation zusammenhängen. Fazit: GBR braucht die EU und die EU braucht GRB. Dies ist meine feste Überzeugung.
© Georg Boomgaarden