Medizin
Wir alle sind angreifbar
Die Wissenschaft kann die Corona-Krise weder lösen noch letztgültige Antworten geben. Ihre Aufgabe ist es vielmehr, Wirkungsmechanismen zu verdeutlichen und zugleich Zweifel zu erzeugen. Denn das ist ihr Wesenskern, schreibt IW-Direktor Michael Hüther in einem Gastbeitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung.
[...] Wissenschaft muss dennoch nüchtern und realistisch mit unserer Endlichkeit umgehen, auch in dieser Pandemie. "Kein Covid" oder "Zero Covid" sind dafür keine hilfreichen Orientierungen. Denn die Absolutheit verlangte absolute Vernachlässigung kollateraler Effekte. Es gibt keinen Ausweg aus der Abwägung unterschiedlicher Risikodimensionen und unterschiedlicher ethischer Einordnungen.
Wissenschaft kann das Dilemma nicht auflösen, aber sie vermag deutlich zu machen, welche Wirkungsmechanismen wie ineinandergreifen. Eindimensionale Ausrichtung der Wissenschaft vermag zwar zu ermöglichen, "gegenüber der Gesellschaft mit einer Stimme sprechfähig" zu sein, doch damit verlöre sie ihren Wesenskern: "die Erzeugung des Zweifels" (Blumenberg). Interdisziplinäre wissenschaftliche Arbeit findet hier ihre Funktion, indem die Engführung disziplinärer Debatten aufgebrochen wird. Doch der Gesellschaft mündiger Bürger bleibt die Anstrengung nicht erspart, mit der Vielfalt wissenschaftlicher Stimmen umzugehen. Hans Blumenberg würde das - gerade tröstend - als dem Menschen wesensgemäß bewerten, weil er nur mit dem Plural von Vorstellungen und Möglichkeiten die "Entlastung vom Absoluten" leisten kann.
https://www.iwkoeln.de/presse/in-den-medien/beitrag/michael-huether-wir-alle-sind-angreifbar.html
"Wer glaubt, er habe in der Wissenschaft die Wahrheit mit Löffeln gefressen und einen Absolutheitsanspruch, wird demokratischen Ansprüchen nicht gerecht. Und wenn es einen Mainstream gibt, wenn beispielsweise Professor Streeck (Virologe Uni Bonn, d. Red.) sagt, er traue sich schon nicht mehr seine wissenschaftliche Meinung zu sagen, weil der Shitstorm sehr groß wird, dann haben wir nicht nur ein Meinungsbildungsproblem, dann haben wir auch ein Demokratieproblem." [Kubicki / FDP zdf.de]
Karl Lauterbach forderte den Rücktritt von Ärztekammer-Präsident Reinhardt, nachdem dieser gesagt hatte, es gebe keine Evidenz für die Wirksamkeit des Maskentragens, um sich vor Corona zu schützen. https://www.mdr.de/nachrichten/politik/inland/kommentar-meinungsfreiheit-corona-politik-100.html
Evidenz bzgl. MAsken oder NPI siehe auch: https://www.cochrane.de/de/ueber-cochrane
Wo ist die Evidenz?
Viele Fragen bleiben offen. Wir sind einerseits mit den nackten Zahlen einer exponentiell steigenden Anzahl von Erkrankten und Toten weltweit konfrontiert, die uns die Medien tagtäglich in beängstigender Form vor Augen halten. Die mediale Berichterstattung berücksichtigt jedoch in keiner Weise die von uns geforderten Kriterien einer evidenzbasierten Risikokommunikation.
In den Medien werden aktuell die Rohdaten kommuniziert, etwa bisher gibt es "X" Infizierte und "Y" Todesfälle. Dabei wird nicht zwischen Diagnosen und Infektionen differenziert. Es handelt sich bei den gemeldeten Fällen jeweils um Diagnosen. Die Gesamtzahl der Infizierten ist jedoch nicht bekannt. Dazu bräuchte es eine vollständige Testung einer repräsentativen Stichprobe aus der Bevölkerung.
Die Nennung von Fällen ohne Bezugsgrößen ist irreführend. So werden beispielsweise für die einzelnen Länder, Bundesländer oder Regionen lediglich Rohdaten berichtet, ohne Bezug zur Bevölkerungsgröße. Die Angaben könnten sich jeweils auf 100.000 Einwohner beziehen.
Auch werden keine zeitlichen Bezugsgrößen genannt. So heißt es etwa "bisher gibt es 10.000 Fälle". Die Nennung von Rohdaten ohne Bezug zu anderen Todesursachen führt zur Überschätzung des Risikos. In Deutschland versterben etwa 2.500 Personen pro Tag. Die Angaben zu den Todesfällen durch Covid-19 sollten daher entweder die täglich oder wöchentlich verstorbenen Personen mit Angabe der Gesamttodesfälle in Deutschland berichten. Auch ein Bezug zu Todesfällen durch andere akute respiratorische Infektionen wäre angemessen.
Für den Hinweis, dass durch COVID-19 überwiegend ältere und kranke Menschen versterben, wäre ein Vergleich mit Personen sinnvoll, die an anderen akuten respiratorischen Erkrankungen versterben.
Die Frage, inwieweit es aus ethischer Sicht gerechtfertigt ist, nun in den Medien exemplarisch schwer verlaufende Einzelfälle zu berichten, ohne Einordnung in das Gesamtspektrum von Krankheit und Tod, sollte diskutiert werden.
Zudem bestehen bei den zur Verfügung stehenden Daten erhebliche Ungereimtheiten. Es ist vollkommen unklar, warum es gerade in Italien zu einer solch explosionsartigen Ausbreitung mit vielen Toten gekommen ist, und das nicht etwa in einer der ärmeren Regionen Italiens, sondern in der reichen Lombardei. Man kann dieses Geschehen sicher nicht einfach mit Verweis auf eine schlechtere medizinische Versorgung abtun, und auch ein Mangel an Messungen scheint in Italien nicht vorzuliegen.
Die Zahlen aus China sind wenig glaubwürdig. Dass in einem Land mit 1,4 Milliarden Menschen das "Containment" so gut funktioniert, dass sich plötzlich niemand mehr infiziert (25 Neuinfektionen im ganzen Land am 18.3., keine Neuinfektionen am 19.3.) [3], erscheint doch sehr unwahrscheinlich. Und was passiert, wenn die NPIs gelockert werden? Ansteckungsrate, Virulenz und Pathogenität des Virus ändern sich doch durch das Containment nicht. Das heißt, dann wird die Ausbreitung, wie im Report des Imperial College prognostiziert [16], wieder Fahrt aufnehmen und exponentiell fortschreiten, bis ca. 60 bis 70% der Bevölkerung infiziert wurden und dann immun sind. Oder wurde dieser Status in China bereits erreicht? Dann wären die 3.217 Toten (Stand 19.3.) [3] in Relation zu 1,4 Milliarden Bevölkerung allerdings weit unter der Todesfallrate der jährlichen Influenza, die wir bisher ohne drastische NPIs in Kauf nehmen.
Die bisher wenigen Todesfälle in z.B. Deutschland und Österreich sprechen ebenfalls eine andere Sprache. Wird hier im Fall von SARS-CoV-2 – im Gegensatz zur Influenza – einfach nur umfangreicher gemessen? 2017/18 sind in Deutschland 25.100 Menschen an Influenza verstorben [12]. Wenn man die vom RKI für 2017/18 errechnete CFR von 0,5% zugrunde legt, entspricht dies einer Anzahl von 5 Millionen Infizierten. Die Grippe-Saison dauerte laut Surveillance-Bericht des RKI von der 52. Kalenderwoche 2017 bis zur 14. Kalenderwoche 2018, also 15 Wochen [11]. Um innerhalb von 15 Wochen auf 5 Millionen zu kommen, müsste sich die Anzahl der Infizierten alle 4,4 Tage verdoppeln – ähnlich wie wir es jetzt bei SARS-CoV-2 sehen – nur bei der Influenza haben wir es nicht gemessen. Es gab jedenfalls 2017/18 keine Meldungen, dass unser Gesundheitssystem überlastet war, obwohl sicher alle 25.000 Grippetoten vor ihrem Tod medizinisch versorgt wurden, die meisten sicher stationär oder gar intensivmedizinisch.
Auch ein Vergleich zur diesjährigen Influenza-Aktivität könnte sinnvoll sein: Laut Wochenbericht 11 des RKI wurden bisher in dieser Saison 165.036 Influenzafälle labordiagnostisch bestätigt. 23.646 Fälle wurden wegen nachgewiesener Influenza hospitalisiert und 265 Personen sind an Influenza verstorben [17].
Der bekannte Epidemiologe John Ioannidis weist darauf hin, dass Coronaviren als typische Erreger von Erkältungskrankheiten jedes Jahr für Millionen von Infektionen verantwortlich sind und diese banalen Erkältungskrankheiten in bis zu 8% älterer, multimorbider Menschen mit Komplikationen wie Pneumonien tödlich enden [18,19]. Der einzige Unterschied zu SARS-CoV-2 könnte sein, dass wir Corona-Virus Infektionsraten bisher nie in der Bevölkerung gemessen haben.
Es ist vollkommen unklar, ob SARS-CoV-2 saisonalen Schwankungen unterliegen wird wie die Influenza, d.h., ob sich mit wärmeren Temperaturen die Ausbreitung verlangsamen oder gar zum Stillstand kommen wird. Es ist auch unklar, ob das Virus anders als Influenza-Viren antigenetisch stabil ist oder wie diese mutiert, sodass sich keine dauerhafte Immunität entwickeln kann.
Es ist weitgehend unklar, inwieweit sich die Containment-Maßnahmen tatsächlich auf den Verlauf der Epidemie auswirken. Die Hinweise, die wir aus den asiatischen Ländern haben, sind sicher nur bedingt auf Europa mit seiner liberalen Lebenseinstellung übertragbar. Und was passiert, wenn die NPIs wieder beendet werden? Die Hochrechnungen aus dem Imperial College stimmen hier eher pessimistisch und prognostizieren eine zweite Erkrankungswelle für den Spätherbst, selbst wenn die derzeitigen Maßnahmen drei Monate durchgehalten werden, oder die Notwendigkeit intervallartig wiederholter NPIs über zwei Drittel der Gesamtzeit für ein ganzes Jahr [16].
Des Weiteren stellt sich die Frage, ob die Bevölkerung als Ganzes eine Immunität gegen die Erkrankung aufbauen wird und wann. Wird die Erkrankung dann möglicherweise zu einer typischen Kinderkrankheit, d.h. jeder, der sie noch nicht hatte, macht sie irgendwann durch und ist dann fortan geschützt, oder wird es auf Dauer zu saisonalen Krankheitsausbrüchen kommen – ähnlich der Influenza? Ist SARS-CoV-2 ein antigenetisch stabiles Virus oder weist es ähnlich wie das Influenza-Virus eine hohe Variabilität auf? Ob und wann es eine effektive Impfung geben wird, ist derzeit kaum abschätzbar.
Deutsches Netzwerk
Evidenzbasierte Medizin e.V.
https://www.ebm-netzwerk.de/de/veroeffentlichungen/covid-19
Die Stellungnahme wird heiss diskutiert: Kritik an Corona-Maßnahmen: Papier im Check https://www.zdf.de/nachrichten/panorama/coronavirus-kritik-pandemie-forschung-evidenzbasiert-100.html