Rezension von Willi Vogl in der Zeitschrift Rohrblatt, Heft 4, Seiten 34-35 (2020)
1 Prolog I 2 Das Größte I 3 Brüder I 4 Der Berggeist I 5 Die Erde bebt I 6 Gabriel fällt I 7 Bin ich tot I 8 Kristallkorn I 9 Zeitreise I 10 Giganten I 11 Nicht ewig allein I 12 Schildgletscher I 13 Einsamkeit I 14 Dreißig Jahre I 15 Schritt I 16 Natur I 17 Bergsee I 18 Bild I 19 See I 20 Grund I 21 Max taucht auf I 22 Abend I 23 Granit I 24 Rausch I 25 Geborsten I 26 Betrachtete I 27 Verlöschen I 28 Gedenken I 29 Kreis I 30 Bild I 31 Kristallstrahl I 32 Max fällt I 33 Erdmitte I 34 Jubel I 35 Im Kreise geschehen
Komposition: Christian Klinkenberg, Regie und Libretto: Nicole Erbe, Gesang: Jean Bermes, Radiostimme: Juliane Pempelfort, Geigen: Paul Pankert und Dan Auerbach, Flöte: Anne Davids, Saxophone: Philip Gerschlauer und Luc Marly, Fagott und Blockflöte: Johnny Reinhard, Bohlen-Pierce-Klarinetten: Nora-Louise Müller, 19-Ton Trompete: Stephen Altoft, 41-Ton Gitarre: Melle Wejters, Bass: Vedram Mutic, Percussion: Stephan Klinkenberg, Keyboards: Christian Klinkenberg
Neuklang NCD4235
Die Oper "Der Gletscher" nach einem Libretto von Nicole Erbe und der Musik von Christian Klinkenberg hatte 2019 in Eupen Premiere und erschien 2020 als CD beim Label Neuklang.
Der kurze inhaltliche Abriss im Booklet deutet auf eine Handlungsoper hin, die über psychologisierende Erweiterungen hinausgehend auch eine Brücke zum Fantastischen schlägt.
Die Zwillinge Max und Gabriel besteigen einen Gletscher. Dabei verunglückt Gabriel tödlich.
Als Max nach 30 Jahren als Gletscherforscher beschließt, den Körper seines toten Bruders zu bergen, ist er gezwungen, sich mit einem Berggeist anzulegen.
Die Komposition Christian Klinkenbergs basiert mitunter auf der Verwendung verschiedener mikrotonaler Skalen wie der Bohlen-Pierce-Skala oder der Neunzehnstufigen Stimmung. Teilweise werden hier auch spezielle akustische Instrumente genutzt, wie Nora-Louise Müllers Bohlen-Pierce-Klarinetten, Stephen Altofts 19-Ton Trompete oder Melle Wejters 41-Ton Gitarre, die in ihrer spezifischen Bauart die jeweilige Skala nachbilden.
Wenngleich die multimedialen Komponenten der Oper wie graphische Partitur, Bühnenbild oder Videoeinspielungen hier nicht gewürdigt werden können, ist zu vermuten, dass Librettistin Nicole Erbe und Komponist Christian Klinkenberg in der Vernetzung mit Wort und Klang eine Ausdrucksintensivierung beabsichtigen.
Klinkenbergs Klangsetzungen befremden in einem kreativen Sinn. Da sind zum einen die Jazzharmonien und der durch das Schlagzeug erzeugte Drive und zum anderen der Mix verschiedener Tonsysteme, von denen jedes Einzelne nach normativer Klarheit strebt. Den damit verbundenen scheinbaren Widerspruch löst Klinkenberg spielerisch, bisweilen hemdsärmelig auf und generiert mitunter fesselnde Momente.
So hört man in "Der Berggeist" seltsam stochernde Tonrepetitionen, in "Die Erde bebt" sich vielfach überlappende phasenverschobene Kaskaden oder in Nummer 6 den Fall Gabriels zeitlupenartig mit Abwärtsglissandi in unterschiedlichen Tempi.
Eigenwillige Topoi entstehen vor allem dann, wenn das eine oder andere nicht zwölftonbasierte Tonsystem dem Ohr hinreichend Irritation bietet.
Dabei macht sich etwa in "Bergsee" durch ein waberndes Vibraphon und eine gedämpft sprechende Trompete Mystik breit oder eine kurios entspannte Stimmung mit "gezupften" Abendglocken mündet in den echoverhalten Gesang von "Granit".
Klinkenbergs schnorchelnde Töne über standardisierter Jazzharmonik, dahinsiechende Klänge, müde mäandernde Klangmassen, gelegentliche Zitate nostalgischer Schlagermusik und Momente explodierender Figürlichkeit kulminieren schließlich in den kaputten Jodlerklängen einer Dorfkapelle sowie einem Andachtsjodler, in dem sich der strukturelle Widerspruch der Tonsysteme zu versöhnen scheint.
Dieser Oper darf man zumindest schon mal auf Grund der starken originellen Klangsetzungen eine größere Verbreitung in Staatsopernhäusern wünschen. Der Gletscher brächte auch Hörer des traditionellen Opernrepertoires zum dahinschmelzen - hätte er den Gelegenheit sie zu erleben. In jedem Fall wäre es eine kluge Programmwahl für jeden wachen Intendanten.