Rezension Gletscher Zeitschrift für Neue Musik

CHRISTIAN KLINKENBERG

DER GLETSCHER - OPER 2.0

Polymikrotonale Musik

Jean Bermes, Gesang; Bart Bouckaert, Leitung; weitere Interpreten

Neuklang

Mikrotonale Musik - das bedeutet normalerweise eine kleine Fraktion innerhalb der ohnehin nicht gerade massenwirksamen Neuen Musik: in der Regel sehr ernst, noch dazu gespalten in die entgegengesetzten Lager der Anhänger temperierter Viertel-, Sechstel- oder Achteltonsysteme und diejenigen der Just Intonation, der «reinen», auf geraden Obertonverhältnissen aufgebauten Stimmungen.

Rein ist in der «Oper 2.0» des belgischen Komponisten Christian Klinkenberg so gut wie gar nichts. Es ist eine wilde, bunte, interessante Mischung aus Jazz, Sampling, Rundfunk Collage,

Operngesang, populärer Musik verschiedener Zeiten, Radio-Essay; Erzählstimme, Bohlen-Pierce-Klarinette, 18-Ton-Trompete, 41-Ton-EGitarre, eigentlich auch noch Video und Schauspiel und anderem mehr.

Noch dazu scheint nach rund drei Minuten ein Juchzer, gefolgt von Gelächter und schrägem Gejodel, endgültig klarzumachen: furchtbar ernst geht es hier offenbar nicht zu. Und doch ist Der Gletscher klassischer Opernstoff. Der eine stirbt, der andere bleibt zurück: wenn man so will ein Palimpsest über das Orpheus Thema. Zwei Zwillingsbrüder in diesem Fall, gesungen von einer Stimme, dem Luxemburger Bassbariton Jean Bermes in elektronischer Verdoppelung. Am Anfang steht freilich nicht die unsterbliche Liebe, sondern ein grenzenloser Hedonismus oder die romantische Suche nach dem Gegenüber der unberührten Natur. Doch das ultimative Freizeitvergnügen verwandelt sich in eine Hölle aus Eis, als Gabriel in eine Gletscherspalte stürzt der Fall gewissermaßen in Zeitlupe musikalisch versinnbildlicht durch ein langsames mikrotonales Abwärtsgleiten.

Als Gletscherforscher bereist Zwillingsbruder Max von nun an dreißig Jahre lang die Welt, bis er, vom Schmerz getrieben, den Bruder aus der Hölle emporholen will und selbst in dieselbe Gletscherspalte stürzt.

Von Anfang an angedeutet, erhält der scheinbar so moderne, rein diesseitige Stoff nun doch eine mythologische Dimension. Im Bild der zwei tot aus dem Eis geborgenen Zwillingsbrüder, der eine noch jung, der andere alt, fallen die Zeitebenen zusammen zu einer endlosen Kreisbewegung.

Und so macht es Sinn, dass die Samples, von der Ouvertüre an, die Popmusik eines Jahrhunderts durchwandert haben. Formal besteht die «Oper 2.0» aus einer Abfolge von 35 kurzen Bildern zwischen weniger als einer und nicht ganz sechs Minuten, in der Mitte ein Ruhepunkt mit einem Bergsee, in dem sich das Antlitz des Bruders spiegelt. Bilder oder Betrachtungen, die auch für sich stehen können, zugleich eine Handlung, die sich im Kreis dreht. Die Musiker, ein exzellentes zwölfköpfiges Ensemble, erweisen sich als äußerst versiert in jazzartigen Phrasierungen und rockigen Rhythmen, doch eine Grenze zwischen einem eher klassischen und einem improvisatorischen Lager lässt sich hier nicht ziehen. Was sie zusammenführt, ist eher ihr Interesse an mikrotonalen Systemen verschiedener Art, die so gar nicht als reine Lehre daherkommen. Die 41-tönige Elektrogitarre funktioniert bestens auch bei Jazzrock a la Miles-Davis.

Dietrich Heißenbüttel

gletscher-ZfNM-3-2020.pdf