Interview mit Andrea

Als wir im Januar 1995 in Guarjila waren, hatten wir die Gelegenheit, mit Andrea und ihrer Mutter Santos zu sprechen, die gerade zu Besuch bei ihrer Mutter war. Andrea (19 J. zu diesem Zeitpunkt) lebte zu dieser Zeit noch im SOS-Kinderdorf. Wir fragten in diesem Interview Andrea danach, welche Erinnerung sie an ihre Kindheit hat, was ihre Ausbildungs- und Berufspläne sind und wie es mit den Besuchsreglungen von Seiten des SOS-Kinderdorfes aussieht.

Frage: Woher kommen Sie ursprünglich?

Santos (Mutter): Wir kommen aus Arcatao (liegt wenige Kilometer von der Grenze nach Honduras entfernt, im Norden des Landes).

F.: Wohnten Sie im Zentrum von Arcatao oder in einem Kanton, das zu Arcatao gehört?

S.: Wir lebten früher im Kanton El Sitio.

F.: Wie ist es geschehen, als Sie und Ihre Tochter (Andrea) sich verloren. Wann war es, wo war es, wie geschah es?

S.: Es ist schon 12 Jahre her und es war im Mai 1982 in Santa Anita, im Zusammenhang mit einer Militär-operation der Luftwaffe und der Bodentruppen. Wir flüchteten in einer Gruppe von Zivilisten.

F.: Waren mit Ihnen auch weitere Mütter und Kinder?

S.: Ja, sehr viele. Alle diese Kinder haben sie verloren, sie wurden dort behalten.

F.: Wie erfuhren Sie, wohin die Soldaten ihre Tochter mitnahmen?

S.: Sehen Sie, wir erfuhren es, weil hier ein Neffe von mir Ende 1993 sagte, dass sich ein Mädchen im Kinder-waisenhaus befindet und dass ihm ein Arm fehle. Nun, ich sagte ihm, dass es nur meine Tochter sein kann, zumal sie auch Andrea hieß.

das Interview mit Santos und Andrea


F.: Und als Sie in Mesa Grande (Flüchtlingslager in Honduras) waren, wurde Ihre Tochter durch irgendeine Organisation oder durch das Rote Kreuz gesucht, schickte man jemanden nach Ihnen?

S.: Nun, Mario war dort, ein Leiter des Waisenhauses und als er kam sagte er, dass es dort ein Mädchen gibt und zeigte mir ein Foto.

F.: Und nach dem Krieg oder noch im Krieg, als Sie von Honduras kamen, war es nicht möglich Ihre Tochter zu suchen?

S.: Natürlich, Arturo hat sie zusammen mit Padre Gerardo (deutscher Dominikaner-Pater Jerry Pöter) gesucht, der auch in Honduras war, aber sie konnten sie nicht finden.

F.: Und Sie Andrea, erinnern Sie sich an den Tag, als sie verlorengingen? An nichts? Wie alt sind Sie?

Andrea: Ich weiß davon nichts.

S.: Sie war sieben Jahre alt.

A.: Marta (ist ein weiteres damals entführtes Kind, dass aber die Älteste in der Gruppe war und sich deshalb noch besser erinnern kann) sagte, dass ich in einem Lager war, wo es Flugzeuge gab, die uns zum Roten Kreuz brachten. Dort war ich mit anderen Kindern. Und in einem Hubschrauber brachten sie mich, Angélica, Marta und María Elsy nach Chalate zum Roten Kreuz.

F.: Es ging dann zu einem Lager in den Bergen von Chalatenango?

A.: Ja, in einem Hubschrauber. Da, bem Roten Kreuz, blieben wir etwa einen Monat, ich weiß es aber nicht so genau. Vom Roten Kreuz brachte man uns zum SOS-Kinderdorf.

F.: Ist einmal jemand gekommen, der ein Kind adoptieren wollte? Nahmen sie Kinder aus dem SOS-Kinderdorf, damit sie dann bei einer Familie leben?

A.: Nein. Die Adoption dort ist verboten. Beim Roten Kreuz, da gab es Adoptionen.

F.: Señora Santos, welche Gefühle hatten Sie, als Sie zum ersten mal wieder Ihre Tochter sahen?

S.: Nun, ich war sehr zufrieden, dass ich sie nach so langer Zeit sehen konnte. Ich hatte schon geglaubt, dass ich sie nie wiedersehen werde, daher freute ich mich besonders, dass es anders kam.

F.: Und ihr Vater lebt und sie hat weitere Geschwister?

S.: Ja, sie hat jede Menge Geschwister.

F.: Was denken Sie, wie könnte man mehr Kinder auffinden, was müsste man machen? Glauben Sie, dass es mehr Kinder gibt, die man auffinden könnte?

S.: Ja, in den anderen Kinderdörfern gibt es auch Kinder. Es gibt ein SOS-Kinderdorf in Sonsonate und in Santa Ana.

A.: Es gibt auch andere Institutionen, wie Simán, Guirola (dies sind weitere Kinderheime), die auch viele Kinder erhalten haben. Ich glaube nicht nur die Kinderdörfer.

F.: Glauben Sie, dass es gut ist nach so langer Zeit sich wiederzusehen? Gibt es nicht einige Konflikte oder Probleme?

A.: Für mich nicht.

F.: Es könnte Kinder geben, die in einer Familie eines Militärs aufgewachsen sind, die sie durch das Militär erhalten haben. So könnte es sein, dass das Kind die natürliche Familie zurückweist, obwohl wir bis jetzt nicht wissen, ob es einen solchen Fall gegeben hat.

A.: In unserem Fall gab es keine Probleme, da wir in den Kinderdörfern eine Familie haben und man weiß, dass es nicht die eigene ist.

F.: Wir machen vielleicht eine kleine Publikation mit diesem Interview, aber nicht hier, sondern in Deutschland.

A.: In den Kinderdörfern ärgern sie sich, wenn wir im Fernsehn erscheinen.

S.: Mir sagte Don Marcial (Direktor des SOS-Kinderdorfes in Santa Tecla), dass es ihm nicht gefallen würde, wenn man mit der Presse spricht.

F.: Andrea, wie alt sind Sie jetzt?

A.: 19 Jahre.

F.: Werden Sie studieren?

A.: Ja, Sozialarbeit an der Universität Francisco Gavidla (kleine Privat-Universität in San Salvador).

F.: Und als was würden Sie nach dem Studium gerne arbeiten?

A.: Mit Jugendlichen und Kindern. Dort im SOS-Kinderdorf kenne ich SozialarbeiterInnen und ihre Arbeit hat mir immer gefallen.

F.: Während der Zeit des Studium werden Sie auch weiterhin im SOS-Kinderdorf leben, auch wenn Sie jetzt schon volljährig sind?

A.: Nur im ersten Jahr. Danach wird man ein Haus für alle StundentInnen mieten, damit wir dort unabhängig sind. Aber es gibt viele Reglementierungen, um dieses Stipendium zu erhalten: es muss eine Note von mindestens 7,5 Punkten (Höchstpunktzahl: 10) erreicht werden, es darf keine unanständigen Feiern geben, man darf keinen Alkohol trinken.

F.: Gibt es auch andere Jugendliche des SOS-Kinderdorfes, die in Francisco Gavidia studieren?

A.: Nur ich. Die anderen studieren in der National-Universität oder an der UCA.

F.: Gibt es jetzt eine Erlaubnis Ihre Mutter zu besuchen, wann immer sie wollen?

A.: Ja, einmal im Monat. Es wurde im SOS-Kinderdorf geregelt, dass wir diese Erlaubnis haben, aber normalerweise sind Besuche nur alle drei Monate zulässig. Aber ein Besuch im Haus der Eltern ist nicht erlaubt, sondern unsere Eltern dürfen uns nur dort im SOS-Kinderdorf besuchen.

F.: Eine andere Frage ist, warum wollen Sie zu UNOSAL (UNO in El Salvador)?

S.: Damit sie als Kriegsverletzte anerkannt wird.

F.: Erhält sie darüber von denen irgendeinen Nachweis?

S.: Ja. Und sie kann eine kleine Rente erhalten.

F.: Wo amputierte man den Arm?

S.: In Antamera (ehemaliges Konfliktgebiet), da man es nicht verlassen konnte.

F.: Im Januar zahlt man für zwei Monate (November und Dezember) die Rente an die 100 % -Kriegs-versehrten. Danach muss eine andere Person bevollmächtigt werden, die nicht berechtigt ist und dann diese Vergünstigung erhalten kann.

S.: Zunächst mussten wir die Erlaubnis vom SOS-Kinderdorf erwirken um zu UNOSAL gehen zu können. Als einige Ärzte da waren sagten sie uns, dass Andrea kommen könnte, doch vom SOS-Kinderdorf gab man uns zunächst hierzu nicht die Erlaubnis.

F.: Man gab nicht nur nicht die Erlaubnis, sondern man verbot es auch seitens des SOS-Kinderdorfes. Und was war das Motiv?

A.: Der Antrag zum Besuch von UNOSAL wurde an die Nationalleitung vom SOS-Kinderdorf zur Entscheidung weiter gegeben. Und die haben lange nicht geantwortet; bis zum Dezember, dann stimmten sie zu, und gaben nur zwei Tage frei, um zu UNOSAL zu gehen und alles zu regeln, was aber zeitlich knapp bemessen ist. (bis zum 31.12.94 musste der Antrag gestellt werden; am 29.12. und 30.12.94 erhielt Andrea für den Behördengang frei!)

Santos, Andrea und der Stiefvater