Der Kern der Buddha-Lehre

Die Drei Daseinsmerkmale, die Vier Dharmasiegel und die Leerheit

In einer Zeit, in der eine noch nie da gewesene Fülle an Informationen frei zugänglich ist, scheinen auch die Verwirrungen und Missverständnisse geradezu Hochkonjunktur zu haben, in allen Lebensbereichen und auch im spirituellen Kontext. Im Bild oben versucht Hotei, uns den Mond zu zeigen - doch wir sehen nur den Finger... Durch die Praxis vertieft sich unser Verständnis der Buddha-Lehre und ihrer Grundlagen - plötzlich sehen wir den Mond in aller Klarheit.

Die Essenz der Buddha-Lehre kann in den Vier Edlen Wahrheiten und im Edlen Achtfachen Pfad oder in der Buddha-Natur gesehen werden. Eine ausserordentlich gute und klare Definition finden wir auch in den Drei Merkmalen (was eine Beschreibung des Frühen Buddhismus ist) oder in den Vier Siegeln (einer Beschreibung des Mahayana). Die Frage, ob eine Sichtweise "buddhistisch" ist oder nicht, steht und fällt mit der Übereinstimmung mit diesen Merkmalen. Praktisch bedeutet das, um ein Beispiel in aller Kürze zu nennen, dass etwa die Idee, irgendein Phänomen oder ein geistiges Konzept als ewig zu erachten, der Lehre des Buddha widerspricht (vgl. dazu: Der Sati-Zen-Weg).

Der Unterschied zwischen den drei Merkmalen und den vier Siegeln besteht im unterschiedlichen Verständnis der buddhistischen Schulen. So ging die grösste der frühen Schulen (lange bevor der heutige Theravada entstand) davon aus, dass es zwar keinen inhärenten abgeschlossenen Kern eines Selbst gab, dass aber die Grundbausteine real existieren. Ihr Name besagt dies schon: Sarvāstivāda': Sanskrit sarvam asti = alles existiert. Aus dieser Sicht gibt es Entstehen und Vergehen und das Anhaften wird durch die Einsicht in die drei Merkmale möglichst aufgelöst.

Eine kleine Geschichte illustriert die praktische Relevanz dieser Merkmale: Vor vielen Weltzeitaltern gab es einen Buddha, der die ganze Lehre mit nur drei Worten darlegte. Was immer die Leute an Fragen hatten, konnte er mit einem oder mehreren der drei Worte beantworten. Die Worte waren: anicca, dukkha, anatta. (Aus Roshis Erinnerung, gehört 1972 in Indien an den Retreats von S. N. Goenka.) 

Die Drei Daseinsmerkmale


Dies ist die Definition des Frühen Buddhismus. Im Mahayana (Zen und Vajrayana), wird der Aspekt von Nicht-Selbst auf alle Dinge oder Phänomene ausgeweitet und geht nahtlos über in das Verständnis der Leerheit (Skt.; shunyata; Pali: sunnata). Leerheit bedeutet, dass alles substanzlos ist. als ohne eigentlche Kerne und desshalb als Phänomene bezeichnet werden. Alle Phänomene  wirken in vollkommen gegenseitiger Abhängigkeit. Nagarjuna (2.Jt.) führte als Hilfe die zwei Wahrheiten ein, wobei ich lieber von der zweifachen Sicht der Wirklichkeit spreche. Was die Wirklichkeit wirklich ist, überlassen wir der philosophischen Forschung.

Zuerst noch einmal die Definition: Unter der relativen Sicht verstehen wir die alltägliche Sichtweise von Geburt, Lebenszeit und Tod, von Werden und Vergehen, von abhängigem Entstehen und von Phänomenen, die zusammenwirken. Im Grunde geht es um all das, was uns tagtäglich beschäftigt und was uns die kleinen und grossen Freuden ebenso wie die kleinen und oftmals auch grossen Leiden des Lebens verursacht. Wir nennen sie auch "konventionelle, historische, weltliche oder verhüllte Wirklichkeit" (samvritti satya).

Diese Sicht verhüllt die Tatsache, dass es gleichzeitig eine weit grössere Sicht gibt: die sogenannte "Wahrheit im höchsten Sinne" (paramartha satya). Damit bezeichnen wir eine Sicht aus tiefster Erkenntnis, dass all die Konzepte, Worte und Definitionen nur behelfsmässige Begriffe sind, damit wir im Leben funktionieren können, die aber als solche nicht geeignet sind, den wahren "Sachverhalt" wiederzugeben. Dies ist die Perspektive z.B. vom Diamant-Sutra oder dem Herz-Sutra. Wenn wir die Aussagen dieser Sutren einseitig verstehen, so z.B. dass es kein Auge, keine Nase, keine Vier Edle Wahrheiten usw. gibt, so ist  damit lediglich gemeint, dass es all dies nicht unabhängig von allen anderen Phänomenen gibt, als lediglich in "Wechselseitig bedingter Abhängigkeit" und ohne "Eigennatur". Folglich gehören die beiden Sichtweisen zusammen. Wir haben im letzten Modul und dort im PDF Relatives und absolutes Bodhicitta vielleicht ein Gefühl dafür entwickelt, welch enorme Bedeutung das Verständnis der beiden Sichtweisen hat. 

Im Mahayana werden die Drei Daseinsmerkmale zusammen mit Nirvana als viertem Aspekt zu den Vier Dharmasiegeln:


Die Vier Dharmasiegel


Der Begriff "Siegel" steht hier für eine Bestätigung oder Beglaubigung, im Sinn von: So sind die Kennzeichen der Phänomene. Wenn im Mahayana Nirvana als ein grundlegendes Kennzeichen aller Dinge erklärt wird, so ist das nicht so zu verstehen, dass der Frühe Buddhismus Nirvana nicht als letztendliche Ausrichtung des Weges sehen würde. Der Unterschied liegt vielmehr darin, dass im Mahayana Nirvana nicht als Frucht langen Strebens erachtet wird, sondern als das ursprüngliche Wesen aller Dinge. 

Die Daseinsmerkmale und Dharmasiegel befreien uns, richtig verstanden, von den beiden Extremen des Festhaltens am Sein wie auch am Nicht-Sein. Leerheit ist niemals "Nichts", sondern ein wortloses Verstehen der einen Wirklichkeit.

Die Drei Dharmasiegel bei Thich Nhat Hanh

Thich Nhat Hanh spricht von Drei Dharmasiegeln: anitya – anatman – nirvana (Skt.) und lässt bei den Vier Dharmasiegeln also bewusst duhkha (Skt.), die Leidhaftigkeit, weg. Damit es hier zu keinen Missverständnissen kommt, ist es zentral, das dieser Interpretation zugrundeliegende Verständnis von duhkha zu verstehen: Es sind nicht die Dinge, die Leid hervorbringen, sondern unser Geist, so er durch Unwissenheit, Gier oder Verlangen eingefärbt ist. So verstanden, ist duhkha kein Merkmal, das den Dingen "an sich" zugrunde liegt – vielmehr ist alles im Grunde, also in seinem Potenzial, frei (nirvana). Die Erkenntnis der Leidhaftigkeit ist natürlich auch hier äusserst hilfreich für die Motivation, den Weg der Befreiung zu gehen – um duhkha umzuwandeln und Frieden zu verwirklichen.

Dies ist die Essenz, der Kern der buddhistischen Sicht. Diese Sichtweise in ihrer ganzen Tiefe zu erfassen, nennen wir Erwachen -  zu unserer wahren Natur, der Buddha-Natur. Der Intellekt begreift dies theoretisch schnell einmal, doch nur das tiefe Erfassen im Herz-Geist vermag die Gewohnheiten des Ego zu transformieren. Und dazu dient die Praxis.

Abschliessend können wir sagen, dass der Begriff „Buddhismus“ keine absolute Bedeutung hat, sondern sich an den Drei Merkmalen bzw. den Vier Siegeln orientiert. Richtig verstanden hilft uns das, Klarheit zu schaffen. Es ist die tiefe Einsicht in diese Naturgesetze, die wir als das Erwachen des Buddha und seiner Nachfolgerinnen und Nachfolger bezeichnen. Wir sprechen im Sati-Zen also nicht von Buddhismus im Sinne einer Volksreligion, die sich primär auf Riten, Rituale, Wohltätigkeit oder gutes Karma für das nächste Leben bezieht, ohne die tiefe Befreiung zum Ziel zu haben, die die Einsicht in die Vier Siegel voraussetzt. Manche Lehrende sprechen deshalb nicht vom "Buddhismus", sondern vom Dharma.

Zen-Meister Sokei-An sagte treffend: Heutzutage spreche ich über Buddhismus und Zen in Vorträgen, aber wenn ich allein bin, denke ich nicht darüber nach. Ich erfreue mich an etwas, das keinen Namen hat, aber sehr natürlich ist. Es ist das einzige, was zählt, und es ist wunderbar. Aus: Sokei-An: Man sieht nur in der Stille klar. Agetsu Wydler-Haduch (Hrsg.), Zürich 1990. 

Lesenswert ist dazu auch der gut verständliche Vortrag von Dzongsar Khyentse Rinpoche zu den Vier Siegeln.

Soviel in Kürze zur Basis dessen, was wir Sati-Zen-Geist nennen. Die nächsten Kapitel erläutern, wie wir dies in der Sati-Zen-Tradition an Retreats umsetzen und mehr und mehr in unseren Alltag integrieren, hin zu einem Leben in Zen.