Rakusu-Praxis

Grosses Gewand der Befreiung

Im Kapitel zur Zuflucht haben wir darauf hingewiesen, dass die Zufluchtnahme keine einmalige Angelegenheit ist. Hier möchten wir das anhand der Rakusu-Praxis beispielhaft ausführen. Sie unterstützt uns auf vielerlei Art dabei, dass die Zuflucht für uns zu einem lebendigen Übungsweg wird.

Das Bild oben zeigt Hotei mit einem Miniatur-Rakusu. Er ist ein Geschenk der drei ersten Sati-Zen-Unsuis an Roshi anlässlich der Unsui-Weihe in Rajgir 2011.

Jenseits von Form und Leerheit

Die wichtigste Voraussetzung für die Rakusu-Praxis ist, die eigene Motivation zu klären. Es ist grundlegend, dass wir die Praxis nicht unter dem Gesichtspunkt angehen, das Rakusu als "Aushängeschild" zu missbrauchen und uns einzubilden, wir würden dadurch zum "inneren Kreis wahrer Praktizierender" gehören. Im Gegenteil! Es geht vielmehr um die Frage: Sind wir bereit, uns auf die herausfordernde Übung einzulassen, mehr und mehr unsere Eitelkeit loszulassen und eine weite Sichtweise zuzulassen - die Perspektive des Dharma, des universalen Lebensgesetzes?

Die Rakusu-Praxis ist eine stete Erinnerung an den Weg und erfordert ein Grundverständnis der Beziehung von Form und Leerheit. Ohne dieses Verständnis reagieren wir leicht entweder mit einer gefühlsmässigen Ablehnung, etwa wenn unverarbeitete religiöse Abneigung hervorgerufen wird. Oder aber wir tappen in die erwähnte Falle zu glauben, dass uns das Rakusu "zu jemandem macht" und uns damit eine Wichtigkeit gibt, die lediglich auf eine weitere Art den Eigendünkel fördert. So stellen wir uns immer wieder gezielt Fragen wie: Bin ich noch in Kontakt mit der Praxis des Freiwerdens von Gier, Aversion und Unwissenheit, für die das Rakusu steht? Hat sich beim Tragen des Rakusu bereits wieder Gewohnheit eingeschlichen und Gleichgültigkeit breitgemacht? Bin ich missionarisch unterwegs?

Nicht umsonst heisst es im Rakusu-Vers (vgl. unten): Grosses Gewand der Befreiung [...] jenseits von Form und Leerheit. Wir üben mit der Form und schätzen sie, ohne an ihr zu haften. Dies wirklich verstehen zu lernen und die Wirkung zu ergründen, die dieses Verständnis auf Herz und Geist hat, lehrt die Rakusu-Praxis.

Rakusu: Herkunft und Symbolik

Rakusu (絡子; jap.) könnte übersetzt werden mit "Geflecht der Söhne und Töchter des Buddha". Es bezeichnet die "kleine Robe des Buddha". Es gibt zwei Erklärungen für die Entstehung des Rakusu. Die eine geht auf die Buddhismus-Verfolgungen in China zwischen dem 8. und 9. Jh. zurück. Für die Mönche und Nonnen, die damals in den Laienstand gezwungen wurden, blieb die kleine Robe ein Ausdruck des Bodhisattva-Weges, der auf Asanga und Vasubandhu zurückgeht (4. Jh.). Die zweite Erklärung geht auf die Veränderung des monastischen Lebens in China zurück, als die Klöster die Feldarbeit für die Mönche und Nonnen einführten (vgl. Arbeit als Upaya) und die grösseren Roben sich für diese Arbeit aus praktischen Gründen nicht bewährten. Das kleine Flickengewand als Miniatur der Robe der Mönche des Buddha war, anders als die grosse Robe, praktisch und auch unter jeder Kleidung verborgen tragbar.

Im Pali-Kanon spricht der Buddha von drei Kleidungsstücken für die Mönche: dem Obergewand (Sanghati), dem Gewand (Uttarasanga) und dem Untergewand (Antaravasaka). Später erwähnt die Visuddhimagga bezugnehmend darauf "die Übung des Dreigewandträgers". Der Legende nach ist die Robe des Buddha und der ersten Mönche nach dem Bild der Reisfelder von Magadha im Nordosten von Indien gestaltet, die durch Fusspfade zwischen den Feldern geformt waren. Die Stofffetzen für dieses Flickengewand wurden traditionell aus gebrauchten Kleidern gefertigt, die in Indien seit alters her am Rand der Verbrennungsstätten der Toten für die arme Bevölkerung bereitgelegt und durch die Mönche entfärbt und neu eingefärbt wurden. Das Rakusu, die kleine Robe, zeigt dieselbe Anordnung der Flicke.

Der Buddha verglich die Kultivierung des Geistes oft auch mit dem Kultivieren eines Feldes: aussäen, pflegen und ernten sind auch im übertragenen Sinn ein treffendes Bild für die Praxis. Im Chan des 12. Jh. verglich Chan-Meister Hongzhi das Geistestraining mit "der Kultivierung des leeren Feldes" und Mönche und Nonnen wurden ein "Feld der Verdienste" genannt. Ein Rakusu zu tragen macht uns direkt darauf aufmerksam, dass wir ein Schüler, eine Schülerin des Buddha sind. Es erinnert uns damit an die Ausrichtung des Weges und erneuert unser Bemühen, der Praxis der Freiheit im Denken, Reden und Handeln Ausdruck zu verleihen. Damit ist das Rakusu eine Aufforderung zur Praxis und auch ein äusserlich sichtbares Zeichen dafür, ergründen zu wollen, was es wirklich heisst, den Weg des Buddha zu gehen und Buddhist, Buddhistin zu sein. Mit einem Zitat von Roshi ausgedrückt: "Seit ich weiss, dass es keinen Buddhismus gibt, kann ich freien Herzens sagen, dass ich ein Buddhist bin!"

Rakusu-Praxis

Wie zu Zeiten des Buddha werden auch in der Sati-Zen-Praxis die Stoffe für das Rakusu aus alten Kleidern zusammengetragen, die wir von Freundinnen und Bekannten erbitten und mit Stoffen uns nicht persönlich bekannter Personen ergänzen. Dadurch symbolisiert das kleine Flickengewand die Einsicht in Intersein, das komplexe Gewebe des Lebens, das sich in der mitfühlenden Beziehung zu allen Wesen ausdrückt, seien sie uns bekannt oder nicht, sympathisch oder nicht. Durch die Zusammensetzung all der kleinen Einzelteile des Rakusu sind "alle Wesen" gegenwärtig: Wir praktizieren mit ihnen! Damit ist das Rakusu auch ein eingängiges Symbol für den Bodhisattva-Weg.

Beim Nähen nehmen wir mit jedem Stich, den wir von Hand machen, Zuflucht, was den Aspekt der Ausrichtung unserer Praxis wesentlich vertieft:

Ich nehme Zuflucht zu Buddha - Nähstich;
Ich nehme Zuflucht zum Dharma - Nähstich;
Ich nehme Zuflucht zur Sangha - Nähstich;
... und so fort, Tausende Male!

Auf der Rückseite des fertig genähten Rakusu finden wir die Angabe unserer Traditionslinie, der Sati-Zen-Sangha, den Linien-Namen unseres Lehrers bzw. unserer Lehrerin und unseren eigenen Linien-Namen. Dazu kommt ein kurzer Dharma-Vers, der uns am Herzen liegt und den wir in Absprache mit unserem Lehrer, unserer Lehrerin auswählen.

Wir sehen: Das Rakusu ist voller Symbolik, in deren Tiefe wir erst durch die Praxis wirklich vordringen. Das Rakusu repräsentiert damit unseren gesamten Weg. Entsprechend möchten wir es mit Respekt behandeln. Wir tragen es insbesondere bei der formellen Meditation und ziehen es nicht einfach gedankenlos über, sondern erheben es auf die Höhe des Kopfes und sprechen ohne Aufhebens in Stille einen kurzen Vers (Gatha), der uns an die Ausrichtung der Praxis erinnert:

Grosses Gewand der Befreiung,

Symbol für das Feld der Verdienste

Jenseits von Form und Leerheit.

Indem wir die Robe des Buddha tragen,

Geloben wir, mit allen Wesen zu erwachen.

Aus: Rezitationen der Sati-Zen-Sangha

Wenn wir das Rakusu tragen, sind wir uns bewusst, wofür es steht und dass eine Robe auch auf unsere Umgebung eine Wirkung haben kann, was entsprechende Verantwortung mit sich bringt. Während wir das Rakusu tragen, wollen wir noch mehr als sonst darauf achten, ehrlich und aufrichtig zu sein, uns nicht in oberflächlichem Gerede zu verlieren und anderen nach Möglichkeit ein Vorbild zu sein. Gleichzeitig kann eine Robe auch starke Emotionen auslösen, heilsame wie unheilsame - auch darauf sollten wir vorbereitet sein (vgl. Form und Leerheit). Da das Rakusu äusserlich sichtbar ist, bedarf es zudem einer gewissen Zivilcourage, es zu tragen und damit auszudrücken: Ja, ich gehe den Buddha-Weg - gemeinsam mit anderen.

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Was für die gesamte Praxis gilt, gilt ganz besonders auch hier: Wenn wir uns nicht kontinuierlich darum bemühen, unseren Geist zu befreien, betrachten wir uns nur zu gern als anderen überlegen, geben bereitwillig und ungefragt Ratschläge und stellen unser Wissen über Buddhismus zur Schau. Diese Geisteshaltung ist jedoch, wie wir bereits erörtert haben (vgl. hier), lediglich "weltlich", auch wenn sie (innerlich wie äusserlich) im spirituellen Kleid auftritt.

Im Kern wirklicher Spiritualität geht es hingegen um die Frage, inwieweit unsere Handlungen in echter Selbstlosigkeit bzw. Egolosigkeit geschehen - jenseits von Gewinn und Verlust, Ruhm und Tadel, Erfolg und Misserfolg. Erst dadurch wird die Praxis insgesamt und auch die Rakusu-Praxis heilsam und "überweltlich" und nicht ein blosses Merkmal, das andere Praktizierende beeindrucken und vielleicht auch uns selber hinters Licht führen soll. So betrachtet hat die Rakusu-Praxis eine starke Wirkung: Wir erinnern uns bei der Fertigung und beim Tragen jederzeit selbst daran, dass wir den Weg des Buddha gehen.

Vanja Palmers, der in der japanischen Soto-Zen-Tradition steht, in der die Rakusu-Praxis eine ausgeprägte Bedeutung hat, fasst die Praxis mit den Roben (hier Kesa, "Obergewand", genannt und auch für das Rakusu gültig) in einem weiten Sinn so zusammen:

Aus der Sicht des Dharmakaya, des Absoluten, ist jede Form ein Kesa, Gewand des formlosen Erleuchtungsgeistes. Von hier aus betrachtet ist jeder Versuch, etwas Spezielles zu sagen oder zu machen, ein völlig überflüssiges Unternehmen, das Abstecken eines Wasserbereichs inmitten des Ozeans, das Benennen eines Luftfleckens inmitten des weit offenen Himmels.

Als relativ ängstlich verwirrte menschliche Wesen allerdings, brauchen wir greifbare Hilfen, Stützen, Erinnerungen – Upaya. Das ist auch der Punkt, an dem meine Dankbarkeit ins Spiel kommt. Dankbarkeit für unsere leiblichen und geistigen Vorfahren, für unsere Lehrer, für die Tradition des Kesa. Sie reicht 2500 Jahre bis in die Zeiten des historischen Buddha Shakyamuni zurück und wird bis heute in allen Schulen des Buddhismus gepflegt.
Aus: Tomoe Katagiri: Nyoho-e. Eine Studie über die Okesa, Buddhas Robe, Luzern 2005.

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Nach der Zufluchtnahme in der Traditionslinie der Sati-Zen-Sangha kann die Übung mit dem Rakusu beginnen, so wir das für uns als hilfreich erachten. Die Praxis wird präzise angeleitet und begleitet. Das vertiefte Studium des Aspekts von Form und Leerheit geht dem voraus.