Matthias Weckman (1615/16-1674)

Als Matthias Weckman am 1. März 1674, fünf Tage nach seinem Tod am 24. Februar 1674, in der Jacobikirche zu Hamburg beerdigt wurde, war mit ihm eine der letzten großen Persönlichkeiten der hamburgisch-hanseatischen Musiktradition verschieden. Christoph Bernhard (1627-1692), 1663-1674 Kantor der Hamburger Hauptkirchen und Weckmans "Hertzens-Freund", schätzte die musikalische Zukunft Hamburgs nach Weckmans Tod so ein: "Die Music wird wieder fallen, wie sie in 14 Jahren an diesem Ohrte gestiegen. Man wird künftig sich nicht bemühen umb rechtschaffene Leute ein Verlangen zu haben, die Gunst wird mehr alß [die] Geschicklichkeit eines Mannes angesehen", und "gleich wie anitzo die musicalische Harmoni (niedergehet) durch Abgehung solcher Männer, die capabel ferner sie zu erhalten, so wird es auch mit der guten Stadt Hamburg im Regiment gehen, solches kan ich mercken an die Ufführung der jungen Leute, so noch hoffen künfftig bey dem Regiment zu kommen. In Zeit von 20 Jahren wird man es erfahren."

Bernhards Bemerkungen sind in mehrfacher Hinsicht interessant. Er gibt nicht nur eine recht genaue Einschätzung der politischen Entwicklung in der Hansestadt Hamburg für die nächsten zwanzig Jahre (!), sondern darüber hinaus eine pessimistische Sicht auf die weitere musikalische Entwicklung der Folgezeit. Tatsächlich war in Hamburg nur noch Jan Adams Reincken als bedeutender, über die Stadtgrenzen hinaus wirkender Musiker geblieben. Die Hochblüte der hamburgischen Musikkultur, mit der auffälligen Häufung hervorragender Musiker, vertreten durch die Familie Praetorius, durch Scheidemann, Schop und Seile, war vergangen.

Diese Blüte erreichte nach Ansicht zeitgenössischer Chronisten ihren Höhepunkt in den gemeinsamen Werken Weckmans und später Bernhards, recht nur in den regelmäßig gemeinsam ausgestalteten Gottesdiensten in der Jacobikirche, an der Weckman als Organist und Kirchenschreiber wirkte, sondern vor allem in dem von Weckman 1660 ins Leben gerufenen "Collegium musicum". Dieses war sicher nicht eine im heutigen Sinne "öffentlich" wirkende Vereinigung von Musikern sondern ein von höchsten gesellschaftlichen Kreisen unterstütztes Ensemble, das wohl in sehr starkem Maße experimentell wirkte. Experimentell in dem Sinne, daß hier die neuesten Kompositionsstile, Kompositionen (vor allem italienische und deutsche) und Aufführungspraktiken einem interessierten Publikum von "Kennern und Liebhabern" zu Gehör gebracht wurden. So fanden hier Aufführungen geistlicher und weltlicher Werke statt, die zum Teil eigens für diesen Zweck bei den Komponisten und Höfen angefordert wurden und z.B. von Weckman auch selbst in Partitur gebracht wurden; Auch für vier der hier eingespielten geistlichen Concerte (Lüneburg), muß aufgrund ihres besonders expressiven musikalischen Charakters angenommen werden, daß sie im "Collegium musicum" zur Aufführung gebracht wurden.

Matthias Weckman wurde 1615/16 in Niederdorla, einem kleinen Ort in der Nähe von Mühlhausen/Thüringen, als Sohn eines auch literarisch tätigen Pfarrers geboren. Über Matthias' Jugend ist wenig bekannt, und über den Beginn seiner musikalischen Ausbildung weiß man nichts, jedoch brachte ihn sein Vater, wahrscheinlich 1628, zur musikalischen Weiterbildung nach Dresden, dem Sitz des kursächsischen Hofes. Hier wirkte als bedeutendster höfischer Musiker seiner Zeit der Hofkapellmeister Heinrich Schütz (1585-1672), der in diesem Jahr zu seiner zweiten Italienreise aufbrach, während der er wahrscheinlich Claudio Monteverdi begegnete. Nach Schütz' Rückkehr 1629 dürfte er die Ausbildung Weckmans, der inzwischen für eine Sängerlaufbahn ausersehen war, persönlich übernommen haben. Die kurze Sängerkarriere Weckmans wird durch sein Mitwirken als Solist der Hofkapelle unter Schütz bei der musikalischen Ausgestaltung des Treffens der protestantischen Kurfürsten mit dem schwedischen König Gustav Adolf in Leipzig im April 1631 dokumentiert.

An diesem Punkt beginnen sich die Folgen des Dreißigjährigen Krieges deutlich auf Weckmans Leben auszuwirken. Sachsen, der wichtigste protestantische (lutherische) Staat im deutschen Reich, stand unter der Führung seines sauf- und jagdlustigen Kurfürsten Johann Georg I. bislang auf Seiten des habsburgischen Kaisers Ferdinand II., eines Herrschers, der alles daran setzte, der Gegenreformation zum Sieg zu verhelfen. Nachdem der schwedische König 1631 erfolgreich m den Krieg eingetreten war und der Kaiser die Rückerstattung sämtlicher ehemals katholischer Güter verlangte, wurde auch dem sächsischen Kurfürsten der Boden zu heiß. Zum Zweck eines Bündnisses aller protestantischen Kräfte wurde das Treffen in Leipzig arrangiert. Auch diese Zusammenkunft konnte jedoch nicht verhindern, daß Sachsen Durchzugsgebiet der kämpfenden Armeen wurde, Die politische, wirtschaftliche Lage wurde zunehmend schwieriger. Für die Hofkapelle begann eine langjährige Phase der wirtschaftlichen Nöte, gekennzeichnet vor allem durch zunehmende Gehaltsrückstände der Musiker.

So muß es als besonderer Beweis für die großen Fähigkeiten Weckmans gelten, daß der Kurfürst ihm trotzdem ein monatliches Stipendium bewilligte (und vor allem: auch zahlte!). Dieses Stipendium diente dem Orgelstudium bei Jacob Praetorius (1586-1651), einem der größten Organisten seiner Zelt, der selbst bei Sweelinck in Amsterdam studiert hatte. In der Zwischenzeit hatte sich Matthias' Stimme nach der Mutation als zu schwach für eine Sängerkarriere erwiesen. Ob bei der Auswahl Hamburgs als Studienort ausschließlich musikalische Gründe eine Rolle spielten oder aber auch politische, bleibt spekulativ. Immerhin war Hamburg, eine ruhende Insel innerhalb der Kriegsläufe, für das ebenfalls an der Elbe liegende Dresden in mehrfacher Hinsicht bedeutsam. Geschützt durch eine der stärksten Festungsanlagen Europas, war die Stadt Handelsplatz Nr. 1 in Nordeuropa, faktisch unabhängig von äußeren direkten Einflüssen. Die reiche Handelsstadt, beherrscht durch eine Oligarchie von Kaufmannsfamilien, leistete sich ein reichhaltiges musikalisches "Interieur", speziell auf dem Gebiet der Kirchenmusik und der Ratsmusik. Die Organisten der Hauptkirchen bezogen außerordentlich hohe Gehälter und genossen ein hohes gesellschaftliches Ansehen.

Schütz selbst, auf dem Wege nach Dänemark, brachte Weckman zu Praetorius und damit auch vor dem Krieg in Sicherheit. Nach etwa drei Jahren, in denen Weckman auch Gelegenheit hatte, Scheidemanns Orgelkunst kennenzulernen, endete Weckmans erster Hamburger Aufenthalt. Die Rückkehr nach Dresden war jedoch nicht von Dauer, denn Schütz, der seine "besten musicalischen Sachen" am Hofe in Kopenhagen zurückgelassen hatte, erhielt vom Kurfürsten keine Erlaubnis, diese dort persönlich abzuholen. Stattdessen wurde Weckman auf den Weg nach Norden geschickt; eine gute Gelegenheit für den etwa Zwanzigjährigen, nach der Musikstadt Hamburg nun den musikliebenden dänischen Hof kennenzulernen.

Obwohl der dänische König Christian IV. außenpolitisch kaum Positives für sein Reich bewirkte und auch in den von ihm geführten Kriegen letztlich erfolglos blieb, war er im Gegensatz zum sächsischen Kurfürsten bereit und in der Lage, erhebliche finanzielle Mittel m Kunst und Musik zu investieren. Für dieses Mal blieb der Aufenthalt in Dänemark jedoch nur ein Intermezzo. Weckman mußte nach Dresden zurückkehren.

Ende 1638 wurde in Dresden die Hochzeit des Kurprinzen gefeiert. Anläßlich dieses auch im Rahmen des dreißigjährigen Kriegs politisch sehr wichtigen Ereignisses wurde wohl die Hofkapelle des Kurprinzen gegründet. In dieser wirkte Weckman als Organist, mußte aber auch dem Kurfürsten aufwarten. Weckman wurde im September 1641 auch als kurfürstlicher Hoforganist bestellt und erteilte ab dem folgenden Jahr auf Veranlassung Schütz' Unterricht im Singen und im Orgelspiel.

1642 betrug der Gehaltsrückstand der Gehaltszahlungen drei Jahre. So kam es sehr gelegen (sicher auch dem Kurfürsten, dessen Trinkfreude ihm den Spitznamen "Bierjörge" einbrachte), dass der dänische König Heinrich Schütz und die besten Musiker der Hofkapelle vom Kurfürsten erbat. Anlaß für diesen Wunsch war die Doppelhochzeit der Töchter des Königs, die im November 1642 stattfand. Weckman konnte in Dänemark einige Jahre bleiben und erwarb sich dort hohes Ansehen. Der fruchtbare Austausch mit anderen Musikern, die musikliebende höfische Umgebung und auch die relativ kriegsferne Umgebung (abgesehen vom dänisch-schwedischen Krieg 1643-1645) - all dies muß Dänemark, verglichen mit Dresden, zu einem Paradies für Weckman gemacht haben.

1646 wurde Weckman vom sächsischen Hofe "zurückgefordert". Im April 1647 wurden die Pässe ausgefertigt. Weckman begleitete wohl den kurprinzlichen Hof- der Kurprinz war auf der Reise nach Karlsbad. Unterwegs, in Hamburg, beendete Weckman einen Band mit Abschriften von Kompositionen u.a. Monteverdis. Der dänische Kronprinz starb auf der Reise am 1. Juli 1647 in der Nähe von Dresden und so scheint es naheliegend anzunehmen, daß Weckman mit dem Trauerzug nach Dänemark zurückkehrte, zumal er in Sachsen kaum vonnöten war. Dort herrschte bis Ende des Jahres Staatstrauer mit Verbot des Orgel- und Instrumentalspieles (der dänische Kronprinz war Schwager des sächsischen Kurfürsten).

Während des neuerlichen Aufenthalts im Norden heiratete Weckman 1648 in Lübeck Regina Beute, die Tochter eines Ratsmusikers. Sein Trauzeuge war Franz Tunder, der Organist der Marienkirche. Zurück in Dresden wurde Weckman "Inspector" der Kurfürstlichen Kapelle. Im August desselben Jahres wurde Christoph Bernhard als "Musico und Singer" in die Hofkapelle aufgenommen. Zwischen beiden Musikern entwickelte sich eine lebenslange Freundschaft und Zusammenarbeit. Kurze Zeit später traf Johann Jacob Froberger (1616-1667), der kaiserliche Organist und Cembalist, in Dresden ein. Er hatte Weckmans Namen schon am kaiserlichen Hofe rühmen hören und wollte die Gelegenheit nutzen, ihn kennenzulernen. Der Kurfürst schlug ein Wettspiel vor, das Weckman gewann. Als Folge dieses Wettstreites gewann Weckman die Anerkennung und dauerhafte Freundschaft Frobergers, die zum Austausch von Briefen und Musikalien führte.

In der Hofkapelle blieb zumindest für die einheimischen Musiker die wirtschaftliche Notlage bestehen. Trotzdem dauerte es noch bis 1655 bis sich Weckman dazu entschloß, sich um eine freigewordene Stelle zu bewerben: St. Jacobi in Hamburg. Weckman war durch freundschaftliche Beziehungen dazu aufgefordert worden, sich zu bewerben. Unter einem Vorwand erbat er sich Urlaub und bestand ein über die Maßen glänzendes Probespiel vor den kritischen Ohren von Scheidemann, Schop, Selle und Johann Praetorius, dem Bruder seines früheren Hamburger Lehrers Jacob Praetorius). Der Hamburger Rat bat daraufhin den sächsischen Kurfürsten um Weckmans Entlassung nach Hamburg. Weckman übersiedelte nach Hamburg, wo er nicht nur Organist an der Jacobikirche und deren Filialkapelle St. Gertrud wurde, sondern auch Kirchenschreiber dieser Kirchen. Dieses Amt einer Art Oberbuchhalters der Kirche übte Weckman bis Ende 1670 aus.

Weckmans Hamburger Zeit scheint äußerlich ruhig verlaufen zu sein, geprägt von der Organistentätigkeit und vom Aufbau des "Collegium musicum" (s. oben). Trotz seiner Bedeutung scheint er nur wenige Schüler gehabt zu haben, darunter jedoch Johann Kortkamp, der sein erster, verläßlicher Biograph wurde. Im Familien- und Freundeskreis nahmen im Lauf der Jahre naturgemäß Trauerfälle zu, darunter neben einigen der Kindersterblichkeit zum Opfer fallenden eigenen Kindern, Weckmans erste Frau (1665), sein Bruder Andreas (1662), infolge der Pest der Jahre 1663/4 Heinrich Scheidemann und Thomas Selle, 1667 J. J. Froberger. 1664 kaufte Weckman ein Familiengrab, das sich in der Jacobikirche unterhalb der von ihm gespielten Orgel befindet.

Die letzten Jahre Weckmans, ab 1671, scheinen von einer Erschöpfung geprägt zu sein. Weckman konnte die Buchhaltung der Kirche, den Kirchenschreiberdienst, nicht mehr versehen. Den Organistendienst scheint er aber gleichwohl noch ausgeübt zu haben.

Ibo Ortgies, © 1992

(Die originale Orthographie der Namen und Zitate wurde soweit wie möglich beibehalten.)