Israels Offensive in Gaza (und in der West Bank) seit dem 7. Oktober 2023, Deutschlands Verantwortung und der hiesige öffentliche Diskurs:
Versuch einer Dokumentation und Einordnung
Versuch einer Dokumentation und Einordnung
Diese Seite versucht, einen kompakten Überblick über wichtige Dokumente (wie IGH- und IStGH-Gutachten bzw. -Entscheidungen), Berichte und Analysen zu geben, um die Geschehnisse insbesondere seit Oktober 2023 einzuordnen. Sie versucht damit auch, der Desinformation in Deutschland durch die Medien (einschließlich der sozialen Medien), durch Lobbygruppen und durch einzelne Politiker entgegenzuwirken.
Die vorhandene Evidenz lässt wenig Zweifel daran, dass Israel Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Gaza begangen hat/begeht (s. insbes. Abschnitte 1, 2 und 4). Mehr noch: Der IGH hat am 26.1.2024 das Risiko eines Genozid an der palästinensischen Bevölkerung für plausibel eingestuft und Maßnahmen erlassen, um einen Genozid zu verhindern. Diese wurden von Israel (und auch von Drittstaaten) nicht umgesetzt. Seitdem hat der IGH weitere Anordnungen erlassen (s. Abschnitt 1). Mittlerweile sehen viele internationale (einschließlich israelische) Völkerrechtler und Holocaust- und Genozidforscher die Voraussetzungen dafür erfüllt, dass Israel einen Völkermord (Genozid) an der palästinensischen Bevölkerung begeht; manche warnten schon früh (im Herbst 2023) vor einem Genozid (s. insbes. Abschnitte 1, 2 und 3).
Trotz der Vielzahl an Hinweisen und Belegen für Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die es von Anfang gab, hat die Bundesregierung die israelische Regierung erheblich militärisch und politisch/diplomatisch unterstützt. Laut dem Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI) kamen in den Jahren 2019-2023 ca. 30% aller israelischen Waffenimporte aus Deutschland; der Rest überwiegend aus den USA (s. Tabelle 2). Seit Beginn der Offensive wurden Anträge für den Export von Rüstungsgütern nach Israel von der Bundesregierung prioritär geprüft und genehmigt (Reuters). Deutsche Waffen kommen in Gaza zum Einsatz (hier und hier). Dabei dürfen Waffenlieferungen nicht erfolgen, wenn bereits Kriegsverbrechen begangen wurden oder wenn ein vorhersehbares Risiko besteht, dass Völkerrechtsverstöße begangen werden können. Die Bundesregierung unterstützt die israelische Regierung zudem politisch/diplomatisch. Sie beteiligte sich an der Delegitimierung von internationalen Institutionen wie dem IGH, dem IStGH und der UNRWA. So beabsichtigt sie, vor dem IGH im Fall Südafrika vs. Israel für Israel zu sprechen und sie hat im August 2024 beim IStGH eine amicus curiae Stellungnahme eingereicht, um die Haftbefehlsanträge gegen Netanjahu und Gallant zu verzögern oder gar zu verhindern (s. a. Abschnitt 1). Die Bundesregierung - insbesondere Außenministerin Baerbock und Bundeskanzler Scholz - hat es bis heute vermieden, Kriegsverbrechen klar zu benennen und zu verurteilen, oder gar bestritten, dass Israel Kriegsverbrechen begeht; die Außenministerin ermahnt Israel regelmäßig, sich an das Völkerrecht zu halten, macht jedoch weiterhin Deutschlands Unterstützung nicht davon abhängig, zumindest nicht offiziell (neuere Berichte legen nahe, dass ab März 2024 keine/kaum Exporte für Kriegswaffen genehmigt wurden; s.a. Update vom 10./14.10.2024 am Seitenende). Es gibt bis heute bspw. keine Sanktionen gegen Israel. Einige Aussagen der Außenministerin und des AA sind zudem irreführend, wenn nicht falsch (z.B. die Angaben zu den Beschuldigungen der UNRWA durch Israel, die verschweigen, dass diese haltlos waren und die Bundesregierung also ohne Grund UNRWA-Zahlungen aussetzte, und die Aussage, dass „die Hamas…das Leid der Menschen in Gaza sofort beenden“ kann, während es gut dokumentiert ist, dass Netanjahu seit Monaten einem Deal im Weg steht, von der Art der israelischen Kriegsführung - z.B. der Einsatz von Hunger als Kriegswaffe - ganz zu Schweigen, s. Abschnitt 4). Dank der Bundesregierung hat sich Deutschland damit mitschuldig gemacht an Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, wenn nicht gar an einem Völkermord. Anstatt alles in ihrer Macht stehende zu tun, um einen möglichen Völkermord zu verhindern - eine Forderung des IGH an alle Drittstaaten im Januar 2024 - unterstützte sie die israelische Regierung weiter und unterstützt sie noch heute.
Es ist erstaunlich, dass die Bundesregierung nicht von Beginn an vorsichtiger agierte. Netanjahus Regierung ist bekanntermaßen in Teilen rechtsextrem bzw. rassistisch (s. bspw. diese ARTE-Dokumentation), Netanjahu arbeitete aktiv gegen einen palästinensischen Staat (z.B. Unterstützung der Hamas, Bau von Siedlungen und neuen Außenposten in der West Bank, s.a. Abschnitt 6), und auch in früheren Konflikten gab es belastbare Hinweise für israelische Kriegsverbrechen (z.B. im Gaza-Konflikt in 2014). Die Annahme, dass sich Israel nach dem 7. Oktober 2023 'zurückhalten' bzw. sich an das Völkerrecht halten würde, erscheint allein vor diesem Hintergrund mindestens naiv. Hinzu kamen Aussagen von Netanjahu, Gallant und anderen hochrangingen israelischen Beamten (s. Abschnitt 1), die deutlich machten , dass es um maximale Zerstörung gehen würde. Israels Offensive als "Selbstverteidigung" zu bezeichnen war von Anfang an falsch, verharmlosend und irreführend (s.a. bspw. dieser Bericht und Abschnitt 4).*
Das IGH-Gutachten zur illegalen Besatzung vom Juli 2024 (s. Abschnitt 1) ordnet die israelische Politik der vergangenen Jahrzehnte ein und fordert die internationale Gemeinschaft auch hier zum Handeln auf. Denn Israels gesamte Besatzung ist rechtswidrig und Israel hat ein System der Rassentrennung bzw. Apartheid etabliert. Das Gutachten bestätigt damit vorherige Analysen verschiedener Menschenrechtsorganisationen wie B'Tselem (s. Abschnitt 6). Israel als "Demokratie" oder "Rechtsstaat" zu bezeichnen, verkennt diese Realität. Das Gutachten bestätigte außerdem, dass Gaza als besetztes Gebiet anzusehen ist.
Die letzten Monate haben zudem deutlich gemacht, dass die deutschen Medien in ihrer Funktion als sogenannte vierte Gewalt versagt haben, auch wenn es immer wieder einzelne kritische Stimmen gab. Oftmals wurde das offizielle israelische Narrativ übernommen (s. z.B. diese Analyse und dieses Interview). Deutsche Medien trugen zur Dehumanisierung von Palästinenser:innen bei und beteiligten sich aktiv an der Diffamierung von kritischen Stimmen als "Israel-" und "Judenhasser". Darüber hinaus hat mit der Unterstützung Deutschlands für Israel die Repression in Deutschland gegenüber Stimmen (auch jüdischen Stimmen), die sich pro Völkerrecht bzw. pro-palästinensisch und gegen den Krieg äußern, erheblich zugenommen. Abschnitt 7 auf dieser Seite widmet sich daher dem Diskurs in Deutschland (die problematische Rolle der westlichen Medien im Allgemeinen wird in Abschnitt 5 behandelt).
Deutschlands Mitschuld an einem (mutmaßlichen) Völkermord - unter dem angeblichen Vorwand eines "Nie wieder" - erscheint surreal, ebenso das laute Schweigen vieler Medien und vieler gesellschaftlicher Akteure, einschließlich vieler Intellektueller und der Universitäten. Die vielen Links auf dieser Seiten machen deutlich, dass es wenig Unklarheit darüber gibt, wie die Geschehnisse der letzten Monate einzuordnen sind, und dass die internationale Gemeinschaft endlich intervenieren und Instrumente wie Sanktionen, Waffenembargo und eine UN-Friedensmission einsetzen muss. Es ist schon zu spät.
Stand: 21.9.2024 (Links in den Abschnitten 1 bis 7 werden auch nach dem 21.9.2024 noch ergänzt.)
www.dokumentation-gaza.de
* Siehe hierzu auch das Interview mit William Schabas (Abschnitt 3): "Es gibt ein Missverständnis, was das Recht auf Selbstverteidigung in der Uno-Charta angeht. Das bezieht sich auf einen internationalen Konflikt zwischen Staaten. Der rechtliche Anwendungsfall für die Situation in Gaza lautet jedoch: Israel besetzt Gaza seit 1967 und trägt laut der vierten Genfer Konventionen als Besatzungsmacht die Verantwortung dafür, die Bevölkerung zu schützen. Der Internationale Gerichtshof hat dies in seinem Gutachten vom 19. Juli 2024 klargestellt."
Update, 30.9.2024: Sebastian Fischer (Sprecher des Auswärtigen Amtes) sagt auf der Regierungspressekonferenz: "Ich meine, die Lage in Gaza, über die wir heute noch gar nicht gesprochen haben, ist weiterhin katastrophal, und Fortschritt ist oft nur millimeterweise messbar. Aber ich weise doch darauf hin, dass zum Beispiel vor einem Jahr eine Totalblockade gegenüber Gaza verhängt worden ist. Sowohl Strom als auch Wasser als auch humanitäre Güter sind nicht hereingekommen. Ich glaube, wir haben als Bundesregierung, aber auch gemeinsam mit unseren Partnern in der arabischen Welt, aber auch mit Amerikanern, Franzosen und Briten intensiv daran gearbeitet, dass Hilfsgüter hereinkommen, dass Wasser hereinkommt, dass Strom hereinkommt." (Quelle) D.h. die Bundesregierung zweifelte damals nicht an, dass Israel die angekündigte Blockade umsetzte. Dennoch unterstützte die Bundesregierung Israel diplomatisch/politisch und der Bundessicherheitsrat genehmigte Waffenexporte.
Auch die USA wussten frühzeitig von möglichen Kriegsverbrechen: "Special Report: Emails show early US concerns over Gaza offensive, risk of Israeli war crimes", Reuters, 4.10.2024: EN
Update, 2.10.2024: Der jordanische Ministerpräsident sagt auf der Generalversammlung der Vereinten Nationen (UNGA): ""The Israeli prime minister came here today and said that Israel is surrounded by those who want to destroy it, an enemy," Safadi said at a press conference shortly after Netanyahu finished his speech at the UN General Assembly. "We're here – members of a Muslim-Arab committee, mandated by 57 Arab and Muslim countries – and I can tell you here, very unequivocally, all of us are willing to, right now, guarantee the security of Israel in the context of Israel ending the occupation and allowing for the emergence of a Palestinian state."" (Quelle)
Update, 10.10.2024/14.10.204: In seiner Regierungserklärung im Bundestag sagt Bundeskanzler Scholz: "Es gibt Lieferungen und wird auch immer weitere Lieferungen geben. Darauf kann sich Israel verlassen" (Quelle). Der stellvertretende Regierungssprecher, Wolfgang Büchner, bestätigt auf der Bundespressekonferenz (BPK) am 14.10.2024, dass es keinen Rüstungsexportstopp gegen Israel gegeben hätte. Der Sprecher der Auswärtigen Amtes, Sebastian Fischer, knüpft daran an und sagt: "Wir haben hier oft vorgetragen, wir haben das vor dem IGH vorgetragen, die Ministerin hat sich geäußert, und an unserer Haltung hat sich nichts geändert. Wir sehen keine Anzeichen, dass Israel in Gaza einen Völkermord begeht." Diese und andere Erklärungen sind hier zu finden.
Außenministerin Baerbock hielt diese Rede am 10.10.2024. Besondere Aufmerksamt erhielten folgende Sätze: "Daher haben wir es immer wieder deutlich benannt: Selbstverteidigung bedeutet natürlich, dass man Terroristen nicht nur angreift, sondern zerstört. Deswegen habe ich so klar und deutlich gemacht: Wenn Hamas-Terroristen sich hinter Menschen, hinter Schulen verschanzen, dann kommen wir in ganz schwierige Bereiche. Aber wir ducken uns davor nicht weg. Deswegen habe ich vor den Vereinten Nationen deutlich gemacht: Dann können auch zivile Orte ihren Schutzstatus verlieren; weil Terroristen diesen missbrauchen. Dazu steht Deutschland, das bedeutet für uns Sicherheit Israels." Etwa 300 Akademiker:innen forderten Außenministerin Baerbock auf, ihr Statement zu widerrufen (s.a. Bericht, Middle East Eye).
Update, 20.11.2024: Die USA legen ihr Veto gegen einen Resolutionsentwurf des UN-Sicherheitsrats ein, in dem ein sofortiger und bedingungsloser Waffenstillstand im Gazastreifen gefordert wurde. Die Antwort bzw. Rede des palästinensischen Botschafters: Video.
Update, 4.12.2024: Bundeskanzler Scholz bestätigt im Bundestag: "Wir haben Waffen geliefert in der Vergangenheit und werden das auch in Zukunft tun. Dazu liegt eine entsprechende Entscheidung vor und wir werden Sie informieren, wenn die Lieferung erfolgt ist, damit Sie dieses Nachfragen nicht fortsetzen müssen" (Video).