Brauche ich einen guten Hirten?

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Gedanken zum Psalm 23

Ein Psalm Davids. Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser. Er erquicket meine Seele. Er führet mich auf rechter Straße um seines Namens willen. Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich. Du bereitest vor mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde. Du salbest mein Haupt mit Öl und schenkest mir voll ein. Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang, und ich werde bleiben im Hause des Herrn immerdar.[1]

Als ich vor acht Tagen in einem sozialen Medium das heutige Predigtthema verraten habe, schrieb eine Leserin als Kommentar: »Mein Lieblings-Psalm. Und zugegebenermaßen auch der einzige, den ich kann.«

Kaum ein biblischer Text ist so bekannt wie der Psalm 23. Man druckt ihn auf Poster und in Kalenderblätter oder stickt ihn auf Stoff. Er ist Quelle unzähliger Bilder und Skulpturen, von Kitsch bis Kunst ist alles zu finden. Er wird von Trauerrednern vorgelesen, obwohl er nicht von Trauer handelt. Auf dem Grabstein des ehemaligen regierenden Bürgermeisters von Berlin, Pastor Heinrich Alberts, steht geschrieben: »Der Herr ist mein Hirte. Er erquicket meine Seele.« Der Psalm 23 wurde wieder und wieder vertont. Von Johann Sebastian Bach über Antonin Dvořák und Leonard Bernstein bis zu U2 und Bob Dylan reicht die Bandbreite. Im Kindergottesdienst oder Religionsunterricht wird er auswendig gelernt.

Es scheint fast unmöglich, dem Psalm 23 in der westlichen Welt nicht irgendwann im Leben in der einen oder anderen Form zu begegnen. Woran mag das liegen?

Der Psalm ist zweifellos schön anzuhören, aber er muss mehr sein als gelungene Poesie, das hätte nicht für eine solche Verbreitung ausgereicht. Es muss wohl an der Aussage, der Botschaft liegen.

Für mich ist dieser Psalm die Einladung zu einem Lebensstil, der mir gut tut.

Es geht in diesen Versen um Sicherheit, Geborgenheit und Hoffnung, um Freude und Zuversicht in jeder Lebenslage. Psalm 23 handelt davon, dass wir selbst dann ruhig und gelassen bleiben können, wenn das Tageslicht aus unserem Leben schwindet. Er beschreibt einen tiefen Frieden, der uns auch dann an einer von Gott bereiteten Festtafel Platz nehmen lässt, wenn es ganz nüchtern und menschlich betrachtet Grund zur Besorgnis gäbe. »Im Angesicht meiner Feinde«, formuliert es Luther, verabreicht uns der Hirte nicht etwa eine knappe Notration, sondern er schenkt uns voll ein.

Vielleicht regt sich da in dir ein gewisser Zweifel: Das klingt prima, aber ist das realistisch? Dazu kommen wir noch.

Der eine oder die andere mag sich auch fragen, ob der Verfasser eigentlich kompetent ist für ein solches Angebot.

Wie bei fast der Hälfte aller biblischen Psalmen gilt David als Verfasser. Gemeint ist der zweite König Israels, der um 1.000 vor Christus herrschte und unter den israelitischen Königen eine herausragende Stellung einnimmt. Der biblischen Überlieferung nach war David in seiner Jugend Hirtenjunge. Seine spätere Aufgabe als König empfand er im übertragenen Sinne als »Hirtendienst«. Er wird also gewusst haben, was es mit der Verantwortung eines Hirten auf sich hat.

Was seine Erfahrungen mit dem Gott, über den er hier schreibt, betrifft, könnte man ganze Predigtreihen füllen. An dieser Stelle muss es aus Zeitgründen genügen, dass ich euch versichern kann: David hat vor seinem Amtsantritt und während seines Königtums so gut wie alles an Höhenflügen und Abstürzen in tiefste Abgründe erlebt. Er wusste, was er da aufschrieb.

Der 23. Psalm, der noch heute zur Liturgie in jüdischen Gottesdiensten gehört, hat für das Christentum besondere Bedeutung erlangt, weil Jesus selbst sich gemäß dem Johannesevangelium als der »gute Hirte« bezeichnet hat.

Ich bin der gute Hirte. Der gute Hirte lässt sein Leben für die Schafe. Der Mietling, der nicht Hirte ist, dem die Schafe nicht gehören, sieht den Wolf kommen und verlässt die Schafe und flieht – und der Wolf stürzt sich auf die Schafe und zerstreut sie –, denn er ist ein Mietling und kümmert sich nicht um die Schafe. Ich bin der gute Hirte und kenne die Meinen und die Meinen kennen mich, wie mich mein Vater kennt; und ich kenne den Vater. Und ich lasse mein Leben für die Schafe.

Und ich habe noch andere Schafe, die sind nicht aus diesem Stall; auch sie muss ich herführen, und sie werden meine Stimme hören, und es wird eine Herde und ein Hirte werden.[2]

Daher stammt übrigens das Bild mit der Schafherde, denn im Psalm 23 ist nicht die Rede davon, welche Tiere der gute Hirte eigentlich versorgt.

Jesus lebte den Psalm 23 in doppelter Hinsicht. Einerseits: Jeden Augenblick seines Lebens wusste er, dass Gott als sein guter Hirte bei ihm war. Sein Leben war voller Strapazen, Anfeindungen und Schwierigkeiten, und Jesus suchte und fand Zeiten, in denen er Ruhe fand und wieder Kraft schöpfen konnte. Mitten in seinem oft zerrissenen Alltag fand er die saftigen Wiesen und frischen Quellen, die ihm sein Vater zeigte. Jesus hatte unseres Wissens kein eigenes Haus, keinen Grundbesitz, er entstammte keiner wohlhabenden Familie. Und doch wird man beim Lesen der biblischen Berichte den Eindruck nicht los, dass er ein durch und durch zufriedener Mensch war. Er wusste um die Gegenwart des guten Hirten aus Psalm 23. Und das war für seinen Auftrag das Wichtigste.

Selbst im Tal des Todes, am Kreuz, hielt Jesus sich an seinem Hirten fest. Auch dort, als der Vater für ihn weder zu sehen noch zu spüren war, gab er nicht auf sondern hielt an seinem Auftrag fest, seinerseits der wirklich gute Hirte zu sein, der für seine Schafe sogar sein Leben lässt.

Das ist die zweite Hinsicht, in der er den Psalm 23 lebte. Er war seinen Nachfolgern ein guter Hirte. Und weil Jesus den bitteren Weg weiterging und sein Leben für die Schafe opferte, können wir heute glauben und erleben, dass Gott auch unser guter Hirte ist. Wir haben es eben gehört: Und ich habe noch andere Schafe, die sind nicht aus diesem Stall; auch sie muss ich herführen, und sie werden meine Stimme hören, und es wird eine Herde und ein Hirte werden.

Wenn wir uns und unser Leben ihm anvertrauen, dann wird aus »der Herr war Davids Hirte und der Hirte von Jesus aus Nazareth« ein ganz persönliches »der Herr ist mein Hirte.«

Was heißt das aber nun für unser Leben, unseren Alltag? Ist das realistisch oder sind das Wunschträume?

»Er weidet mich auf einer grünen Aue und führt mich zum frischen Wasser. Er erquickt meine Seele.«

Wie stellen wir uns als Großstadtmenschen diese Szene vor? Eine grüne Landschaft, saftige Weiden, eine Quelle plätschert in der Nähe. In der Mitte des Bildes eine Schafherde. Hirtenhunde laufen um sie herum und passen auf. Ein wenig abseits der Hirte. Er sitzt auf einem Felsen und beobachtet seine Herde. Ein romantisches Bild wie aus einer anderen Welt. Voller Wärme, Idylle und Schönheit. So etwas gefällt uns womöglich oder auch nicht, das ist eine Geschmacksfrage, aber wie reagierst du, wenn dir jemand sagt: »Du bist ein Schaf«? Lässt du dir das gefallen?

Der Herr ist mein Hirte und ich bin sein verantwortungsvoller, kluger Hirtenhund. Hört sich schon besser an. Wie wäre es damit: Der Herr ist meine Inspiration und ich bin sein Musiker. Oder: Der Herr ist mein Regierungschef und ich bin sein Botschafter. Jeder hört zu, wenn ich in seinem Namen rede.

Statt dessen: Du bist ein Schaf.

Bei der Vorbereitung dieser Predigt habe ich mir einiges über Schafe angelesen. Es handelt sind wohl nicht um die intelligentesten Tiere. Sie können von sich aus keine neuen Weideflächen erschließen, sondern bleiben dort, wo sie schon alles abgefressen haben. Sie sind kaum in der Lage, sich um sich selbst zu kümmern. Sie lernen auch nichts dazu. In ihnen steckt kein nennenswertes Potential. Hinzu kommt, dass Schafe wehrlos sind. Sie haben keine Reißzähne, keine scharfen Krallen, keine Panzerhaut und besonders schnell laufen können sie auch nicht. Für Raubtiere ist eine Schafherde ohne Hirten leichte Beute.

Also: Schafe sind unfähig, kraftlos, wehrlos und langsam. Na prima. Mit einem Mal bekommt der Psalm einen etwas komischen Beigeschmack. Du bist ein Schaf … sollten wir uns das gefallen lassen?

Lasst uns dazu etwas herausfinden. Ich lese vier Beschreibungen vor. Ihr dürft die Hand heben, wenn eine auf euch zu 100% zutrifft.

1. Ich habe meine Emotionen im Griff. Ich bin niemals mürrisch oder schlecht gelaunt. Ich bin immer fröhlich und ich wünsche meinen Mitmenschen nur das Beste. Trifft das auf jemanden voll und ganz zu? Nein? Gut, vielleicht aber der nächste Punkt:

2. Ich bin mit allen Menschen im Reinen. Alle meine Beziehungen sind im grünen Bereich. Menschen, die mich kennengelernt haben, berichten nur Gutes über mich. Ich bin liebevoll und es passiert mir nie, dass ich andere Menschen übersehe oder gar vor den Kopf stoße. Stimmt das für jemanden? Auch nicht? Wie ist es dann hiermit?

3. Ich fürchte mich vor nichts und niemandem. Angst perlt von mir ab wie ein Spiegelei in der Teflonpfanne. Terroristen schlagen zu, die Wohnung wird immer teurer, ich bekomme eine schlimme Diagnose beim Arzt, die Kinder rufen nicht mehr an, der Klimawandel droht, die Politik wird immer dümmer und gefährlicher … na und? Ich bleibe gelassen und souverän. Wer kann das von sich behaupten? Und wie ist es mit der letzten Variante?

4. Ich brauche keine Vergebung. Ich habe in meinem Leben noch nie etwas falsch gemacht. Meine Weste ist so weiß wie Schnee. Meine Gedanken und Phantasien sind so ordentlich und sauber wie die Küche meiner Oma. Ich habe noch nie gelogen, jemanden betrogen oder etwas gestohlen. Noch nie die Wahrheit verbogen und jeder kann jederzeit in mein Innerstes schauen, weil dort nur Wahrheit und Ehrlichkeit wohnen. Fühlt sie da irgendjemand treffend charakterisiert?

Vermutlich müssten wir ziemlich lange suchen, um jemanden zu finden, auf den alles zutrifft, was ich eben aufgezählt habe. Das wäre dann der Mensch, der ohne einen Hirten prima zurechtkommt.

Wir normalen Menschen haben unsere Emotionen nicht immer im Griff. In einigen von unseren Beziehungen gibt es deutliche Schieflagen. Es gibt Vorstellungen und Umstände, die uns Angst machen. Und wir sind nicht frei von Schuld und Versagen.

Vielleicht ist der Vergleich mit den Schafen doch nicht so verkehrt. Vielleicht dämmert uns, wie dringend wir einen Hirten brauchen, wenn wir ganz nüchtern erkennen, dass wir doch nicht alles im Griff haben.

Wir brauchen jemanden, der uns hilft, die Quellen und das saftige Grün im Leben zu finden, um den Kopf klar und das Herz sauber zu bekommen. Jemanden, der uns an die Hand nimmt, wenn es um uns herum dunkel wird. Jemanden, der für uns da ist, wenn wir versagt haben oder verletzt wurden. Jemanden, der uns hilft, am Montagmorgen motiviert und mit neuem Mut in die Woche zu blicken. Jemanden, der dabei ist, wenn wir das schwierige Gespräch mit dem Vorgesetzten führen. Jemanden, der mit uns geht, wenn wir beim Arzt die Diagnose abholen. Jemanden, der zu uns steht, auch wenn unsere Kraft langsam nachlässt und wir merken, dass der letzte Lebensabschnitt begonnen hat. Jemanden, der mit unseren Kindern geht, wenn sie ihr eigenes Leben führen und unseren Rat nicht mehr brauchen oder wollen. Jemanden, der uns auch dann noch in den Arm nimmt, wenn wir wieder einmal Mist gebaut haben.

Mit Psalm 23 schaut David uns aufmunternd an und macht uns Mut: »Der Herr ist dein Hirte, dir wird nichts mangeln.«

David schrieb den Psalm sicher nicht, um uns daran zu erinnern, wie sehr wir Ruheplätze und Orte brauchen, an denen wir neu motiviert werden, frische Kraft bekommen. Er schrieb den Psalm auch nicht, um uns vor Augen zu halten, dass wir durch dunkle Täler müssen und Angst bekommen werden. Er wollte uns auch nicht an unsere Schuld erinnern.

Er schrieb diesen Psalm, um uns eine Botschaft zu überbringen, die wir womöglich bereits oft gehört haben, die aber immer noch so unbegreiflich ist: Gott ist der Hirte, der dein Leben für dich und mit dir in die Hand nimmt. Der da ist, wenn du dich nicht mehr auskennst. Der dir neue Kraft gibt, wenn die Kinder dich wieder einmal aussaugen. Der dir Ruhe verschafft, wenn du den Brief vom Vermieter öffnest.

»Der Herr ist mein Hirte.« David gebraucht je nach Bibelübersetzung etwa 95 Worte, um diese ersten fünf zu erklären. Mit jedem Wort will er unseren Blick auf Gott richten. Mit jedem Satz sagt er: Es gibt einen guten Hirten. Ich habe das erlebt und will es mit diesem Psalm bezeugen. Ich rede nicht von irgendeiner nebligen Phantasiegestalt, nicht von religiösen Traditionen, nicht von frommen Wünschen, mystischen Lehren oder psychologischen Tricks, sondern von ihm, dem lebendigen Herrn.

Im Hebräischen steht hier: »Jahwe ist mein Hirte.« Gott hat im Alten Testament viele Namen. Er heißt zum Beispiel Elohim, Zebaoth oder El Shaddai. Jeder Name drückt etwas vom Charakter Gottes aus. Jahwe hat diese Bedeutung: »Ich bin der Gott, der für euch da ist.«

Ist das nicht genau der Hirte, den wir brauchen? Er sagt: Ich bin für euch da. Seine Stärke, seine Schönheit und seine Liebe behält er nicht für sich, sondern er ist für uns da. Das hat er bereits in seinem Namen Jahwe angelegt. Das heißt, Gott ist einfach so. Wir müssen ihn nicht erst davon überzeugen, dass wir es verdient haben, dass er für uns da ist, sondern so ist Gott. Das gehört zu seinem Wesen und zu seiner Persönlichkeit. Gott ist der Gott, der für dich da ist. Jahwe, der gute Hirte.

Ich will nicht behaupten, dass ich die Größe und Tiefe Gottes wirklich begreife. Das ist aber auch gar nicht notwendig. Es genügt mir, darauf zu vertrauen: Er ist ein Gott, der über eine unfassbare Größe verfügt und der doch ganz persönlich an jedem Einzelnen interessiert ist. Ein Gott, der weiß, wie es am Rande des Universums ausschaut und der gleichzeitig wissen will, wie es dir geht. Ein Gott, der die Welt versteht und der dich versteht. David bringt es für uns alle auf den Punkt: »Der Herr ist mein Hirte.«

Weiter lesen wir: »Mir wird nichts mangeln, er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser. Er erquicket meine Seele.« David weiht uns hier in eines der größten Geheimnisse des Lebens ein. Er zeigt uns, wo wir echtes und tiefes Lebensglück finden.

Manche Menschen sind überzeugt, dass sie glücklich sein werden, wenn sie sich viele oder bestimmte materielle Dinge leisten können. Ein neues Auto mit Elektromotor, Fernreisen, Kunstgegenstände … andere suchen ihr Glück in Beziehungen mit Freunden, durch Familie und Kinder. Und es stimmt ja auch, dass uns das alles Freude bereitet. Irgendwann steht das neue Auto der Marke Tesla vor der Tür und wir sind glücklich. Irgendwann sitzen wir im Flugzeug nach Australien und freuen uns. Wir schauen unsere Kinder an und sind glücklich. Für mich können kulturelle Erlebnisse eine große Freude sein. Ob es nun Literatur oder Musik ist … das kann mich glücklich machen, genauso wie eine Wanderung in der herrlichen Natur.

Der großartige Marcel Reich-Ranicki hat einmal gesagt: »Es stimmt schon, Geld macht nicht glücklich. Aber ich weine lieber im Taxi als in der U-Bahn.«

Materieller Wohlstand, kulturelle Höhepunkte im Leben, die herrliche Natur, harmonische und liebevolle Beziehungen … das ist alles nichts Schlechtes. Im Gegenteil.

Aber irgendwann ist das Buch ausgelesen, das Konzert vorbei, das Theaterstück zu Ende. Nach ein paar Wochen ist der Neuwagengeruch verflogen und die erste Schramme vom Parkhaus im Kotflügel. Irgendwann sitzen wir wieder im Flugzeug, aber diesmal ist es der Rückflug. Kinder sind auch nicht immer nur die reinen Glücksspender, und Beziehungen sind oft fragil.

Und dann? Auf zu neuen Ufern? Weiter so? Den Tesla verkaufen und einen neuen, größeren anschaffen? Den Job kündigen und in die Karibik ziehen? So manche Familie ist schon daran zerbrochen, dass ein Ehepartner gesagt hat: »Das ist mir zu langweilig. Ich muss einfach mal was Neues ausprobieren. Mich entfalten. Mich verwirklichen.«

Phillip Keller, von Beruf Hirte und Theologe, schrieb vor einigen Jahren ein Buch[3], in dem er seine Erfahrungen als Hirte schilderte. Er schrieb unter anderem über ein Schaf, das durch seine Unzufriedenheit auffiel. Es war eines der schönsten Schafe. Es war gesund und hatte ein Prachtfell. Aber es hatte eine große Macke: Es war unruhig, unzufrieden, ein Ausbrecher. Auf welchem Feld auch immer die Herde graste – dieses Schaf suchte den Zaun nach Schlupflöchern ab, durch die es entweichen konnte, um auf der anderen Seite zu grasen. Das Schaf war ständig unzufrieden mit den Umständen, so wie sie waren. Oft, wenn es sich wieder einmal durch den Zaun gequetscht hatte, zupfte es schließlich auf einer kahlen, braunen, von der Sonne ausgeblichenen Weide ein paar kümmerliche Halme, während die Herde saftiges Gras unter den Hufen hatte. Es war ein Schaf, das trotz aller Bemühungen, ihm die beste Pflege zu geben, ständig etwas anderes wollte.

Da erkenne ich mich wieder. Es gab Zeiten in meinem Leben, in denen ich überzeugt war, dass nicht Gott meine Bedürfnisse stillt, sondern dass ich das selbst in die Hand nehmen muss. Wie oft meinen wir, selbstbestimmt und frei von allen Zwängen glücklich zu werden? Wir suchen und suchen, durchbrechen Zäune und schlagen uns durch zu kümmerlichen Weiden, auf denen wir nichts wirklich Gutes finden. Wir kaufen uns Dinge, die wir gar nicht brauchen. Wir gehen Wege, ohne sie mit Gott zu besprechen und machen ihm am Ende vielleicht sogar noch Vorwürfe, wenn wir bis zum Hals verschuldet, emotional verletzt oder in einer Sackgasse angekommen sind. Wir sind unzufrieden, weil wir unser Glück in der Ferne suchen anstatt bei Gott, weil wir uns irgendwie nicht vorstellen können, dass er tatsächlich alle unsere Sehnsüchte stillen kann.

Zur Zeit Davids haben die Menschen das Bild vom guten Hirten in seiner Tiefe verstanden. Israel war damals ein sehr karges Land. Es gab mehr Wüsten und trockene Landschaften als fruchtbare Gegenden. Eine saftige Weide war nicht selbstverständlich. Genau dafür war der Hirte zuständig. Es war seine Aufgabe, Quellen zu finden, Wasser auf dürres Land zu leiten, Steine wegzuräumen, Dornenbüsche zu verbrennen und auf diese Weise das Land fruchtbar zu machen. Eine grüne Wiese war kein Zufall, sondern das Ergebnis harter Arbeit eines Hirten.

Paulus, einer der Nachfolger des guten Hirten Jesus aus der Epoche nach dessen Auferstehung und Himmelfahrt, stellte einmal bezüglich mancher Menschen fest: »… man könnte meinen, sie hätten den Verstand verloren und die Wahrheit nie gehört; sie versuchen sogar, mit dem Glauben an Jesus Christus Geschäfte zu machen. Dabei ist doch jeder reich, der an Gott glaubt und mit dem zufrieden ist, was er hat.«[4]

Selbst wenn du im Augenblick in einer verfahrenen Situation steckst und feststellst, dass der Boden unter dir unglaublich trocken und fruchtlos ist, brauchst du nicht zu verzweifeln, sondern du kannst deinen Blick erheben und fragen: »Herr, wohin gehen wir jetzt? Zeig du mir die nächste saftige Weide.«

Deshalb bin ich gerne ein Schaf. Weil der Gott, von dem ich heute hier erzählt habe, der gute Hirte ist.

Amen.


Quellen:Zur Predigtvorbereitung diente mir unter anderem eine Predigt von Stefan Piechottka in der Evangelischen Stadtmission Hamburg-Bramfeld, die ich bei predigtpreis.de gefunden habe. Daneben halfen mir Wikipedia.de und bibleserver.de mit den entsprechenden Stichworten und Bibeltexten beim Ausarbeiten.Foto: MarcusL, https://morguefile.com/p/1051909 © 2019 Günter J. Matthia.Diese Predigt darf nur für den persönlichen Gebrauch, auch zur eigenen Gottesdienstvorbereitung, genutzt werden. Eine kommerzielle Weiterverwendung ist untersagt. Ein Abdruck ist nur mit einer ausdrücklichen Erlaubnis des Verfassers gestattet.
[1] Psalm 23 nach der Übersetzung Martin Luther (revidiert)[2] Johannes 10, 11-16 nach der Übersetzung Martin Luther (revidiert)[3] Phillip Keller, Psalm 23[4] 1. Timotheus 6, 5–6