Was im Geschichtsunterricht in der Schule (70er-Jahre) nicht erwähnt worden ist: Auf dem Weg nach Frankreich haben deutsche Soldaten Massaker an der Zivilbevölkerung verübt. Viele Zivilisten in kleineren Orten leisten Widerstand, insbesondere die Orte Tamines und Dinant, die auf dem nach Frankreich lagen, erlebten schlimmste Ausschreitungen. Dort wurden bis zum Oktober 1914 mehr als 5500 Zivilisten getötet.
In Frankreich war die Stadt Maubeuge der erste Kriegsschauplatz. Nach einer Belagerung vom 28. August 1914 bis zum 8. September 1914 kapitulierte die Stadt. Der Weg nach Paris schien frei, erst an der Marne wurde die deutsche Armee aufgehalten, die Kämpfe dort, vom 5. bis zum 12. September, erforderten einen Rückzug der deutschen Truppe; der Schlieffen-Plan galt damit als gescheitert und erwies sich als Illusion.
Nach dem Scheitern der Marne fand die Armee an der Aisne, genauer am so genannten Chemin des Dames, einem Höhenzug, der sich gegen die anstürmenden Truppen verteidigen ließ, einen neuen Standort. Die dortige Schlacht an der Aisne vom 12. bis 28. September bezeichnet einen Wendepunkt in der Geschichte des Krieges. Seitdem bewegte sich die Frontlinie kaum noch, es war der Beginn des Stellungskrieges. Nur in der Länge dehnte sich das Grabensystem noch aus. Die Linie der Schützengräben zog sich von Ostbelgien bis an die Grenze zur Schweiz: über 700 Kilometer, Schlamm, Leichen, Leiden, Krankheit und Verletze.
Mit dem Eintreffen an der Aisne kam Hubert an den Ort, an dem er wenige Monate später, am 4. Juni 1915, fiel. Diese Briefe sagen nichts über die Situation aus. Indirekt lässt sich jedoch vieles zwischen den Zeilen erkennen, den Alltag im Schützengraben wollte und konnte Hubert nicht darstellen.
Hubert war ein gebildeter junger Mann. Es hieß in meiner Familie, jedenfalls laut Auskunft meiner Mutter und meiner Tante Netti Dietz, die Dautzenbergs vom Driesch (der Hof, siehe Bild, Fortsetzung Hubert) seien anspruchsvoll und gebildet gewesen. Man habe gelesen und sich mit religiösen Themen befasst.
Der erste Brief ist auf einem Bogen geschrieben, der ursprünglich für einen Brief an ein Fräulein aus Bielefeld vorgesehen war. Der ursprüngliche Brief trägt das nun durchgestrichene Datum 18. Juni 1914! Dies ist der Tag des Attentats von Sarajewo, des kriegsauslösenden Ereignisses. Damit begann eine vierwöchige Eskalation, mit der Europa, angeführt von unfähigen und verantwortungslosen Personen in Politik und Militär, die einen Krieg begann, dessen Auswirkung sich zuvor nur wenige hatten vorstellen können. Mit dem Durchstreichen des ursprünglichen Briefanfangs an die Dame aus Bielefeld war auch Huberts eigenständiges Leben zu Ende. Genau betrachtet, ist das Durchstreichen in Einheit mit dem Datum symbolisch. Anstelle einer persönlichen Biographie steht nun der geschichtliche Kontext, ein unfreiwilliger Eid auf den Kaiser, ein Verlust eines selbstbestimmten Lebens, zu dem auch die genannte Dame gehört hätte. Das hätte sich mit hoher Wahrscheinlichkeit, klar ist, dass Hubert den Briefanfang aufbewahrt hatte, um dann im Juni, wahrscheinlich mangels anderem Papier an seine Schwester zu schreiben.
Die Briefe lassen sich sehr genau datieren: November 1914. Wir wissen heute, dass in diesen ersten Kriegsmonaten bereits sehr viele Soldaten ihr Leben verloren hatten. Die Bedingungen in diesen Monaten waren besonders streng. Die Sommermonate waren heiß, dann folgen durchgehender Regen und Kälte.
Es ist nicht viel, was wir hier von Hubert erfahren. Aus heutiger Sicht würde uns die Situation an der Front interessieren, gerade eine persönliche Sicht der Erfahrungen, der Leiden, der Ängste wäre angebracht. Stattdessen bedankt er sich für Post-Sendungen, schreibt über die Vorstellung einer Messe und über sonstige, meist für die Familie relevante Themen. Nur einmal stellt er seinen möglichen Tod in Aussicht, auch dies formuliert er indirekt: seine Bitte um Fürbitten, eine Heilige Messe, der Hinweis, die Briefe als stetes Andenken zu bewahren, wie er schreibt wenn ich s[o]. G[ott]. w[ill] gesund zurückkehre. Darin zeigt sich deutlich, wenn auch nicht ausdrücklich so formuliert, das Bewusstsein der Bedrohung und Todesnähe. Der Tod wird sonst allenfalls in Bezug auf die genannte Familie Rosenbaum aus Eschweiler und Joseph genannt. Joseph, der Mann der Cousine Nettchen, hatte einen Bauchschuss erlitten. (Oder war es der Mann von Jettchen, der ebenfalls Joseph hieß.) Es ist aus den dazu gehörenden Passagen erkennbar, dass es einen regen Schriftwechsel gab. Mehrere Sendungen sind erwähnt.
In dieser Art Feldpost waren kritische Äußerungen unüblich. In dem meisten Fällen wollten die Soldaten ihren Angehörigen keine Beschreibung der Zustände in der Front geben. Zudem wurde die Feldpost kontrolliert und strengstens zensiert. Für die militärische Führung waren die Schreiben eine Quelle für die Stimmung unter den Soldaten. Ein Spiegel der Zustände an der Front waren derlei Briefe auch sonst nicht. Fast immer stand etwas über Sendungen aus der Heimat, Dank für Zigaretten, Schokolade und warme Kleidung.
Um das an dieser Stelle nicht weiter zu vertiefen, sei auf eine online zugängliche Sammlung von Briefen des jungen Lehrers Johannes Steegemann verwiesen, das Landesarchiv NRW, Abt. Westfalen verwahrt. Ebenso interessant ist eine weitere online zugängliche Quelle, die der Feldpost gewidmet ist. Auch in den dort zugängliche Briefen sind die Leiden des Krieges mehr oder weniger verschwiegen. Gleichwohl lässt sich herauslesen, dass die Haltung vieler Soldaten, deren Post bis heute erhalten ist, dem Krieg skeptisch gegenüberstanden.
Allein der Krieg forderte 20 MIllionen Todesopfer. An den weiteren Folgen der Kämpfe, Hunger, Durst, Krankheiten und auch nachträglich an der psychischen Belastung litten weitere Millionen. Ganze Volkswirtschaften brachen zusammen als die Lügen von der Realität eingeholt wurde.
Eine sehr umsichtige Darstellung, die den Forschungsstand zusammenfasst ist das Buch Der Erste Weltkrieg von Volker Berghahn. Auch sehr lesenswert, immer noch spannend: Der Griff nach der Weltmacht von Fritz Fischer, der mit diesem Werk die Geschichtsschreibung in Deutschland auf den Kopf gestellt hatte. Erwähnen möchte ich auch Die Büchse der Pandora von Jörn Leonhard.
Aber auch zeitgenössische Zeitungen und Zeitschriften sind aufschlussreich. Die Darstellungen dort über die Front, die tapferen Soldaten, die feigen Franzmänner, die schmuddeligen Zuaven oder Suaven, all das war Teil der Propaganda.