Geschichtliches zu Scarborough Fair

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Allgemeines


Der Begriff Volkslied, im Sinne Gottfried Herders, bezeichnet den gemeinschaftlichen Liedbestand einer Kultur- und Sprachgemeinschaft. Wesentliches Merkmal des Volksliedes ist die mündliche Überlieferung: Daraus ergibt sich – regional, persönlich und historisch bedingt – ein großer musikalischer wie textlicher Variantenreichtum. (1)





Herders Begriff des Volksliedes geht auf die Gesänge des Ossian zurück und schlägt damit eine Brücke zur schottischen Kultur und Volksmythologie. Ein besonders ausgeprägte Bewusstsein der schottischen Identität war schon früh entwickelt. Aus politischen Gründen begann im Zuge der Aufklärung daher bereits im 18. Jahrhundert eine systematische Volksliedforschung zum Liedgut Schottlands, Englands, Irlands und Wales’.(2)  Die damit einhergehende Verschriftlichung führte zu einer Verschiebung der Grenze von Volks- und Kunstlied. 


Auch zu Scarborough Fair sind in historischen Quellen Varianten überliefert, deren Entwicklung ist in den folgenden Abschnitten dargestellt. Eine frühe Fassung des Textes findet sich in dem alten, auf ca. 1670 zu datierenden Lied The Elfin Knight. Dieses ist auf einem so genannten Broadside überliefert. , Broadsides sind eine Art Flugblatt zur Verbreitung von Nachrichten, gesellschaftlichen Fragen, Gedichten, Balladen oder ähnlichen Texten. Eine Überlieferung, die nur den Text, jedoch kein musikalisches Material enthält, ist für die Entstehung nur von eingeschränktem Wert, Textkonkordanzen allein können keine musikalische Genealogie begründen.(3)


Der Titel Scarborough Fair bezieht sich auf die vom Mittelalter bis ins 18. Jahrhundert alljährlich ausgetragene Handelsmesse gleichen Namens.(4) Alternative Titel wie beispielsweise Whittingham Fair erweitern die geographische Zuordnung des Liedes von Yorkshire ausgehend, auf den Nord-Osten Englands, jene Grenzregion zu Schottland, die dem Gebiet der heutigen Grafschaften Durham, Northumberland und Tyne and Wear entspricht. Auf dem Titelbild dieser Webseite ist ein Foto der berühmten romanischen Kathedrale von Durham zu sehen. Das Foto entstand während meines Aufenthalts zur Familienforschung im Jahr 2012.


Von der Dur-Moll-Tonalität zur Modalität


Unserer heutige Vorstellung von des Liedes ist mehr oder weniger identisch mit der Aufnahme von Simon & Garfunkel. So ist eine Quasi-Norm entstanden, die als Dorische Variante von anderen, historischen Überlieferungen in Dur bzw. Moll aus früherer Zeit zu unterscheiden ist.(5) Diese Dorische Variante ist Grundlage der vorliegenden Fantasie und führt daher zur Frage nach deren Herkunft.  


Im Jahr 1947 trat Mark Anderson, ein pensionierter Minenarbeiter aus der Grafschaft Durham, mit einer ähnlichen, dorisch anmutenden Fassung öffentlich auf. Diese wurde von Ewan MacColl und Peggy Seeger, beide sowohl Volksliedforscher als auch Popsänger, aufgezeichnet und 1957 auf Schallplatte eingespielt. Spätestens damit war die Grenze vom Volkslied zum Folksong überschritten. MacColls Fassung war wenig später vorbildlich für den englischen Popsänger Martin Carthy. Dessen Arrangement hörte im Jahr 1965 Paul Simon, spielte es aus dem Gedächtnis nach und erweiterte den Satz kontrapunktisch zu einem Quodlibet mit seinem älteren Lied The Side of the Hill/Canticle. Folglich scheint der Ursprung der von Simon & Garfunkel eingespielten Dorischen Variante auf das Jahr 1947 zurückzugehen. Andersons Quelle ist zunächst unklar, zumal Liederbücher zu dieser Zeit immer noch Dur-Versionen enthalten.(6)  


Weitere Recherchen ergeben noch frühere Publikation des Liedes mit dorischen Merkmalen, die früheste stammt von John Stokoe und trägt den Titel Whittingham Fair. Dessen Quelle ist ein Manuskript eines Volkssängers namens Thomas Hepple, der das Lied seit seiner Kindheit kannte. Das Committee to protect and preserve the ancient Melodies of Northumberland, dem auch Stokoe angehörte, hatte Hepples Manuskript 1855 erworben und mehrfach veröffentlicht (siehe unten: Faksimile). Im Jahr 1921 erscheint diese Fassung nochmals in einer Anthologie von William Gillies Whittaker und noch 1950 in einer Schallplattenaufnahme des berühmten Bassisten Owen Brannigan. (Ein Klick auf den Namen öffnet die Audiodatei. Auf dem Titel der Platte ist Widdicombe Fair angegeben, der Text darunter gibt, wie das Hepple-Ms. Whittingham an.)


Festzuhalten ist, dass die Ausgangsversion der Dorischen Variante aus der Zeit vor1855 stammt. Dorische Merkmale haben sich zunehmend in ständiger Konkurrenz zu Dur-Fassungen behauptet. Maßgebend im Dorischen Modus sind die Töne der 6. und 7. Stufe, siehe Notenbeispiele unten: Auf d-Moll bezogen sind h und c dem Dorischen, b und cis dem Moll zugeordnet, vlg. Takt 4 in den weiter unten angegebenen Notenbeispielen I und III. Auch Beispiel II verwendet für die 6. Stufe h, endet jedoch  klar mit h-cis in Moll. Spätestens die MacColl/ Seeger-Version ist auf allen Stufen dorisch. 


Die Konnotation des Modalen, eine unerwartete Richtungsumkehr der Entwicklung 


Modalität klingt für heutige Ohren archaisch und ist vermeintlich mit Alter Musik konnotiert: Das ist ein Vorurteil aus der Kenntnis der Musikgeschichte des kontinentalen Europas: Tatsächlich setzte sich in England die Dur-Tonalität, wie das Beispiel des berühmten Sommerkanons zeigt, bereits im 

13.  Jahrhundert durch. Auf dem Festland verläuft die Entwicklung der Tonaliät umgekehrt. Im 16. Jahrhundert gewann die Dur-Moll-Tonalität allmählich die Oberhand über die Modi.


Daraus folgt, dass die Evolution des Dorischen – insbesondere in der Popularmusik – ein Klischee des 20. Jahrhunderts bedient: eine Form unfreiwilliger Parodie(1) in beiderlei Wortsinn. Hier wird ein vermeintliches Idiom des Alten, das in England nicht unbedingt das Alte darstellt,  bedient. Die Dur-Versionen von Kidson sind älter als die Dorische Variante.  Unter dem Begriff Parodie(1) versteht die Musikwissenschaft eine Übernahme musikalischen Materials in anderem Kontext.  Mit dem Bezug der vorliegenden Fantasie zur Dorischen Variante findet ein weiterer, kunstmusikalisch orientierter Transfer statt, der die Geschichte der Überlieferung des Liedes reflektiert.


Im Folgenden sind Varianten des Liedes im Vergleich in einer musikalischen Tabelle dargestellt. 




Erklärung der Notenbeispiele

I Whittingham Fair: John Stokoe, 1879, S. 6; 1882, S. xı, 81-87; 1889, S. 7f.; e-Moll (nach: Thomas Hepple, ca. 1855; a-Moll)

II Scarborough Fair: Cecil Sharp, 1916, S. 52; zwischen g-Dorisch und g-Moll. 

III Scarborough Fair: Vorliegende Fantasie, Teil A , 2022; d-Dorisch, original ohne Vorzeichen, (hier in halbierten Notenwerten)

IV Scarborough Fair: Frank Kidson, 1891, S. 42f.; 1. Version aus Whiltby, Yorkshire

V Scarborough Fair: Frank Kidson, 1891, S. 172; 2. Version aus Goathland, Yorkshire; beide in G-Dur

In I, II und III sind Tonart, Taktart und Notenwerte vereinheitlicht, um das vergleichende Lesen zu erleichtern

Manuskript (etwa 1855) des Volkssängers Thomas Hepple.  Die genannte Schallplattenaufnahme des berühmten Bassisten Owen Brannigan sei hiermit ausdrücklich empfohlen. Die Vaughan-Williams-Memorial-LIbrary enthält weitere historische Quellen. 

Anmerkungen zu Geschichtliches …

(Die in den folgenden Anmerkungen enthaltenen Eigennahmen verweisen auf die Bibliographie am Ende des Textes.)


1 Analog zu Parodie und Kontrafaktur in der Kunstmusik, siehe Vorwort und Sagrillo, Damien, S. 9-13. Ein oft in der Literatur zitierte Beispiel für Parodie und Kontrafakt ist die Missa l’homme armé von Josquin Deprez, in der ein Kriegslied das thematische Material bildet.2 Seit 1724 erschienen Volksliedsammlungen; die späteren Auftragswerke an namhafte Komponisten, u. a. L. v. Beethoven, J. Haydn und I. Pleyel, waren Initiativen der Verleger William Napier, George Thomson und William Whyte, unterstützt von den schottischen Nationaldichtern Robert Burns und Sir Walter Scott. Eine umfassende Darstellung, einschließlich des historischen Zusammenhangs, findet sich bei Sagrillo, S. 1-39. Politische Gründe resultieren aus dem Verhältnis zwischen Schottland und England, der Vereinigung, die formal im Act of Union des Jahres 1707 vollzogen wurde. Die Herrschaft des Hauses Stuart, vor allem die Zeit Karls I beförderte den Gedanken der Eigenständigkeit in weiten Kreisen der schottischen Gesellschaft. Rückschläge des schottischen Separatismus wie das Massaker von Glencoe 1692  (liegt auch in einer Fassung L. v. Beethovens vor) bewirkten eine Verstärkung der Unabhängigkeitsbestrebungen. 3 Roud-Folksong-Index, Nr. 12; Francis Child, Nr. 2, S. 5-19. Erwähnt ist dort auch ein Ms. von 1673 aus dem Nachlass von Samuel Pepys. Auch weitere Lieder der Sammlung von Child verwenden Textpassagen aus Scarborough Fair. Die zahlreichen Bezüge zur Mythologie, zu Märchen und anderen Schemata des Kollektiven Gedächtnisses würden den Rahmen an dieser Stelle sprengen, siehe dazu Childs Ausführungen.4 Scarborough ist eine Hafenstadt im Nordosten von Yorkshire, Fair ist mit Handelsmesse zu übersetzen.5 Die Aufnahme des Jahres 1966 ist zudem Teil der Filmmusik zu Die Reifeprüfung. Ebenso unvergessen und eine Parodie in eigener Sache ist Paul Simons gemeinsamer Auftritt mit Miss Piggy in der Muppet Show Nr. 511 im Jahr 1980.6 Margareth Bradford Boni, S. 36f., übernimmt Frank Kidsons erste Fassung,

Zur Fantasie über Scarborough Fair 

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Form und Stil


Allgemeines


Nicht nur thematisches Material, auch Stil, Satzweise und Form lassen sich im Sinne einer Parodie übertragen. Vorbildlich für die Fantasie … sind sowohl barocke als auch klassisch-romantische Modelle. Eine Stilkopie ist hier nicht beabsichtigt, die Anwendung von Bass-Schemata, Sequenzen, Oktavregel und Harmonischem Kontrapunkt soll nur der Eindruck eines musikalischen Stils erzeugen.(7)


Die Satzweise selbst stammt aus der Alten Musik und bildet einen stilistischen Anknüpfungspunkt, der den ursprünglichen Charakter des Themas unterstreicht. Drei thematische Hauptteile, A , B und C , bilden den Bogen der eigentlichen(,) inneren Form. Darüber hinaus

spannen nichtthematische Formteile einen weiteren Bogen einer äußeren Form.



Die Hauptteile 


A Ab Takt 13 erscheint die 16-taktige Dorische Variante in d als variierter Cantus firmus. Thema und Kontrapunkt wechseln in den Oberstimmen ab.

B Eine Fuge bildet den Mittelteil. Das Fugenthema in a-Moll ist identisch mit dem Beginn der Dorischen Variante. Es erscheint in der Exposition sowohl in realer als auch tonaler Beantwortung und moduliert in der zweiten Durchführung regelgerecht in die parallele Tonart C-Dur, bewirkt damit eine entfernte Reminizenz an die Kidson-Varianten. Im Folgenden, Takt 95ff., verdichten sich angedeutete Themeneinsätze zu einer Schein-Engführung.(8)

Die Fuge ist das Ziel der Entwicklung und erreicht die größtmögliche Steigerung; dies entspricht klar einem Formkonzept der klassisch-romantischen Musik.(9) 


C , ein homophoner Choral in der Ausgangstonart, schließt die innere Form. Jede motivisch-thematische Arbeit, sei es die Durchführung einer Fuge oder Sonate, ist eine Variation im weiteren Sinne. Hier ist der Verlauf, Variationen und Thema, umgekehrt zum üblichen Thema mit Variationen.


Nichtthematische Formteile 


Der Strenge der thematischen Hauptteile stehen, analog zu Zwischenspielen in Fugen, ein- und überleitende wie abschließende Episoden gegenüber und erfüllen unterschiedliche formale Funktionen. Einleitende und abschließende Formteile dienen der Vorbereitung auf die thematische Dichte der Hauptteile, schaffen notwendigen Raum für Modulationen und wandeln scharfe Kontraste in allmählichen Entwicklungen. Andere Abschnitte, so die Takte 29ff. bzw. 47ff., erzeugen mit der Wiederaufnahme der Anfangsfiguration den Eindruck einer durchgehenden Bewegung, die erst mit dem Ausbleiben des thematischen Materials wieder zutage tritt – so als sei die Figur über den ganzen Verlauf präsent

gewesen. 


Das Erreichen der Tonika am Ende der Fuge vollzieht sich zunächst im Bass, Takte 116ff., der als Orgelpunkt Raum für die Rückmodulation schafft. Die meno mosso überschriebene Viertaktgruppe ist eine Petite Reprise, eine Art Echo der thematischen Schlussgruppe. Erst dann folgt die erneute Wiederaufnahme des Bordun-Pizzicato-Motivs, diesmal in umgekehrtem, im Vergleich zum Anfang gespiegelten Ablauf. Dieser Bogen, der Anfang und Ende umschließt, steht über dem Bogen der Hauptteile und bildet symmetrisch die äußere Form. In der Wiederaufnahme des Beginns werden damit nichtthematische Begleitfiguren zum formbildenden Element erhoben.(10)


Hinweise zur Besetzung


Allgemeines Instrumentierungsangaben beziehen sich gleichwertig auf moderne und historische Instrumente. Zu bedenken ist in jedem Fall die Balance: Zur Traversflöte ist die Gambe dem Cello vorzuziehen. Ebenso ist bei der Besetzung des Continuos der dynamische Unterschied zwischen historischen und modernen Instrumenten zu berücksichtigen, ein Problem, das Tasteninstrumente mehr betrifft als Gitarren. Die erste Stimme ist aus spieltechnischen Gründen eher der Flöte zugewiesen. Dazu verdeutlicht die Besetzung der zweiten Stimme mit Violine oder Oboe die kontrapunktische Linienführung im Spaltklang.


Violintechnische Anweisungen wie pizz., arco und sul tasto können auf der Oboe nur im Äquivalent als trockenes Staccato bzw. möglichst körperloser Klang übersetzt werden. Vorschläge zu den Pizzicati gelten nur für die Oboe, da diese keine simultanen Zweiklänge ausführen kann. Das Weiterklingen des tiefen Tons (Haltebogen) ist in diesem Fall nicht „wörtlich“ zu verstehen.




Anmerkungen


7 Latente Verwandtschaften der verschiedenen Fassungen ergeben sich aus dem unterliegenden harmonischen Verlauf, s. Robert O. Gjerdingen: Romanesca.8 Im weiteren Sinne ist auch die ästhetische Auffassung parodiert. Zum Verständnis zeittypischer Schemata sei wieder auf Robert O. Gjerdingen, s. o., verwiesen. Fugensubjekte mit exponierter (betonte Zeit!) Quint werden üblicherweise tonal beantwortet, hier verlangt der Charakter des Themas eine reale Beantwortung.9 Fugatoabschnitte dieser Art finden sich u. a. bei: Franz Schubert, Fantasie f-Moll D 940 u. Wandererfantasie op. 15 und später bei Franz Liszt, Sonate h-Moll. Aus gitarristischer Sicht sind hier die Variationen über La Folia von M. M. Ponce zu nennen, wenngleich in diesem Fall die Fuge den Abschluss bildet. Die Umkehr der Folge Thema mit Variationen findet sich an prominenster Stelle in Benjamin Britten, Nocturnal op. 70.10 Vgl.: Franz Schubert, Fantasie f-Moll D 940 und (wenn auch in anderer Gestaltung) Sinfonie Nr. 8 h-Moll D. 759, Satz 1


Zum Continuo


Das Continuo der Gitarre orientiert sich stilistisch zum einen an der Barockgitarre, zum anderen an der Theorbe. Da der Bass allein dem Cello/der Gambe zugeteilt ist, ist die Gitarre in der Ausführung frei: Polyphonie, Zerlegungen und geschlagene Akkorde wechseln je nach dynamischem

Kontext. Gelegentlich auftretende Parallelen sind in freistimmigen Satzweisen weder zu vermeiden noch, sofern diese in den Mittelstimmen liegen, als solche erkennbar. 


Im Continuo der Tasteninstrumente fallen diese gitarristischen Texturunterschiede weg, hier suggerieren Registerwechsel – vorzugsweise zweimanualiger Cembali – dynamischer Wirkungen. Das Continuospiel war immer stilistischen Wandeln unterworfen. Im Hochbarock galt insbesondere in Deutschland die Vierstimmigkeit als Norm, demgegenüber ist das Accompagnement des neuen Galanten Stils oft auf Dreistimmigkeit beschränkt. Wechselnde Stimmenzahl kann als Mittel der dynamischen Gestaltung dienen.


Der gegebene Continuosatz ist nicht in jedem Fall als obligat anzusehen – thematische Gegebenheiten in der Fuge ausgenommen. Insbesondere für die Harfe ist der Satz ggf. anzupassen.


Zur Aufführungspraxis


Übliche aufführungspraktische Gepflogenheiten gelten auch für dieses Werk. So sind Vorhalte und Appoggiaturen als so genannter Abzug auszuführen: Dissonanzen müssen betont werden, Auflösungen folgen angebunden, leicht verspätet und klanglich verkürzt – eine selbstverständliche Praxis, die keine Artikulationszeichen erfordert. Dynamische Angaben haben formbildende Funktion. In der Notation der Barockgitarre gibt die Halsrichtung der Akkorde die Anschlagsrichtung an: Hals nach unten = zur ersten Saite hin, Hals nach oben = zur sechsten Saite hin anschlagen. 


In den Takten 18f. und 37f. sind die Akzente als Hemiole zu lesen. Die Bindungen von leichter zur schweren Zeit in Takt 127f. entsprechen üblichen Mustern für die Ausführung von Leittönen zu akkordeigenen Tönen. Alle Vorschläge sind kurz und auf dem Schlag auszuführen. Der Kadenztriller, Takt 130, beginnt mit der oberen Nebennote. Für die Gitarre ist der Triller auf zwei Saiten zu erwägen.



Zum Schluss


Die bereits erwähnten Schwierigkeiten in dem unbebauten Felde hatten eine positive Nebenwirkung: Beim Komponieren verläuft der Prozess von der musikalischen Idee zur Verschriftlichung, also quasi im Krebsgang zu dem mir vertrauten lesenden Erschließen des musikalischen Sinns – ein wertvoller Perspektivwechsel und neuer Zugang zur Musik. 


Die Besprechung des Begriffs der Parodie unter verschiedenen thematischen Überschriften entspricht dem musikalischen Vorgang einer motivisch-thematischen Durchführung – eine Analogie von Sprache und Musik. Eine weitere Analogie des Textes zur Komposition ist die Wiederaufnahme des Anfangs am Schluss: Hier entsprechen die Figurationen über dem Bordun in der Fantasie dem nun folgenden Aufgreifen des einleitenden Zitats aus dem Lehrwerk Simon Molitors: Ob mit der Fantasie der Rang eines Kunstwerks erfüllt ist, darf nun der Kenner, indem er über den Werth des Werkes urtheilt, (hoffentlich wohlwollend) bewerten. Ansonsten sei mit ein wenig Fantasie die humoristische Bedeutung der Parodie zu bemerken.


Michael Sieberichs-Nau, 2024



Bibliograpie / Diskographie


Bach, Carl Philipp Emanuel:

Versuch über die wahre Art das Clavier

zu spielen, Tle. I u. II, Berlin 1753 u. 1762


Bradford Boni, Margareth (Hrsg.):

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Brannigan, Owen

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Brown, Clive:

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Child, Francis James:

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Kidson, Frank:

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Krehl, Stephan:

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MacColl, Ewan; Seeger, Peggy:

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Molitor, Simon und Klinger, R.:

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Sagrillo, Damien:

Josef Haydns Bearbeitungen schottischer

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Whittaker, William Gillies:

North Countrie Ballads, Songs and Pipe Tunes

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Dank an


Nau, Darius (Bonn); 

Nau, Solveig (Höchst); 

Pichler, Wolfgang (Dornbirn)

und Walter, Sirard (Feldkirch)