Nichtverstehen als Sinnsetzung
"Der Hörer nicht der Sprecher bestimmt die Bedeutung einer Aussage". (Heinz von Foerster)
Das heißt überraschenderweise: Nicht die Intention des Senders entscheidet, sondern die Deutung des Empfängers. Er ist der Konstrukteur der Aussage. Das wohlvertraute Sender-Empfänger-Modell steht Kopf. Nehmen wir für einen Moment an, Sie finden das plausibel. Was heißt das dann für die Kunstbetrachtung?
Der passive Empfänger, der Bildkonsument wird damit aus seiner Empfängerstarre zwar erlöst, aber auf ihm lastet nun plötzlich eine neue Verantwortung. Die Verantwortung für die Aussage nämlich, die er ja bestimmt, laut Foerster. Die berühmtberüchtigte Frage, was wollen uns die Künstler sagen, wird damit obsolet. Betrachter und Künstler werden zu Komplizen. Eine klar definierte Aussage, die der Betrachter gleich einem Kunden aus der Auslage nimmt, existiert nicht mehr. Im herkömmlichen Sinne gibt es kein Verstehen mehr. Nicht verstehen können, was bedeutet das? Für Roger M. Buergel, den nächsten Documenta-Leiter, ist genau das die Erfahrung von Schönheit. Er sagt: „Für mich ist sie [die Schönheit] die Erfahrung, an der Bewegung der Welt teilzuhaben. Und diese Erfahrung mache ich, wenn mir etwas begegnet, das ich nicht einfach einordnen und verstehen kann. Wenn mein konventionelles Herangehen an die Welt scheitert.“
Doch wenn sich ein Kunstwerk massiv vor uns aufbaut und keinen Eingang bietet, sind wir wohl eher frustriert als irritiert. Schön - in einem weiten Sinne - ist Kunst, wenn sie uns neue Räume eröffnet. Oder nein: Wenn wir uns selbst, angeregt und irritiert durch die Künstler solche Möglichkeitsräume erschließen.
Die Arbeiten von Christine Ermer, Kathrin Krüger und Maritta Weber eröffnen solche Möglichkeitsräume. Solche Räume werden nie ganz durchmessen, nie restlos begriffen, nie wirklich verstanden. Es bleibt immer ein Mehr, ein unsagbarer Überschuss. Jede Bedeutungsschicht verweist auf eine andere, die sich nicht ganz zeigt, die sich im Betrachten wieder entzieht und verbirgt: Hidden Layers - verborgene Schichten.
Mit Hilfe dieser beiden beobachtungsleitenden Begriffe will ich versuchen, verborgene, das heißt: mögliche Sinnschichten in den Arbeiten von Christine Ermer, Kathrin Krüger und Maritta Weber zu "entbergen". Ich will einen Weg andeuten, eine Möglichkeit ...
Schneewittchen lag in einem gläsernen Sarg. Damit wurde sie für einen Moment aus dem Fluß der Zeit herausgenommen. Einen Augenblick oder "etwas" behalten wollen, hat immer etwas handgreifliches. Wenn man sich an etwas erinnert, dann behält man es. Aber dieser Behälter ist immer auch ein Sarg. Behalten heißt nicht nur anhalten, sondern auch aus dem Zusammenhang herausnehmen, herausreißen.
Drei Arbeiten will ich so befragen: Kathrin Krüger lässt Stücke in Kunstharz ein, in gläserne Särge. Christine Ermer legt Fotos von menschlichen Innereien in Holzkisten (Bohrungskisten). Maritta Weber packt Enten in Datenbanken. Dinge werden aus ihrem lebensweltlichen Zusammenhang heraus genommen, festgehalten, festgestellt. Wir können sie behalten. Das ist ein Gewaltakt.
Doch nicht nur: "... Werd' ich zum Augenblicke sagen: Verweile doch! du bist so schön!" Was macht also die Ambivalenz dieses Festhaltens aus? Die Arbeiten von Christine Ermer, Kathrin Krüger und Maritta Weber stellen diese Fragen und halten sie in der Schwebe. Jede auf ihre Weise.