Denkmalwert

von MARIE-LUISE BUCHINGER, TORSTEN VOLKMANN

(der Text "Die Beelitzer Heilstätten — Denkmalwert" wurde erstmalig in dem Band "Die Beelitzer Heilstätten", herausgegeben vom Brandenburgischen Landesamt für Denkmalpflege in der Potsdamer Verlags-Buchhandlung, 1997, ISBN 3-91019-627-6 im Kapitel „Heilstätten und Sanatorium“ abgedruckt. Dieser Band ist leider vergriffen. Der nachfolgende Text konnte dank der freundlichen Genehmigung der beiden Autoren an dieser Stelle abermals veröffentlicht werden)

Die Beelitzer Heilstätten gehören zu den beeindruckendsten Zeugnissen des Heilstättenbaus in Deutschland, der infolge der beängstigenden Ausbreitung der Tuberkulose insbesondere in den Ballungsräumen seit den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts zu einer überaus dringlichen Bauaufgabe geworden war [1]. Die aus vier Anstalten mit zunächst insgesamt 600 Betten bestehende Anlage (projektiert war die Erweiterung auf 1200 Betten) war nicht nur mit Abstand der größte Heilstätten-Komplex im Deutschen Reich, sie stellte auch eine besonders gelungene, in der Fachwelt vielbeachtete und Maßstäbe setzende Realisierung der neuen Bauaufgabe dar. Im folgenden soll die architektur- und medizingeschichtliche, die städtebauliche, bau- und gartenkünstlerische und die sozialgeschichtliche Bedeutung der Beelitzer Heilstätten dargelegt werden. Mit ihrer ruhigen Waldlage, der Ausrichtung der Krankengebäude nach Süden, den großzügig bemessenen Liege- und Wandelhallen, den modernen Badeeinrichtungen, der weiträumigen Parkanlage und einer Ausstattung, die alle hygienischen Anforderungen auf vorbildliche Weise erfüllte, entsprachen die Heilstätten in hohem Maße den Forderungen, wie sie auf dem Tuberkulose-Kongreß von 1899 in Berlin formuliert worden waren (vgl. S. 10). Sie dokumentieren noch heute die damalige, auf den von den Ärzten Herrmann Brehmer und Peter Dettweiler aufgestellten Prinzipien beruhende Behandlungsmethode, die durch Liegekuren im Freien, Sonnenbestrahlung, individuell dosierte Bewegung und hydriatische Behandlung, verbunden mit strengsten Hygiene-Vorschriften, gekennzeichnet war [2]. Besonders deutlich wird in den Beelitzer Heilstätten die hohe Bedeutung, die man der Wirkung gesunder Luft im Heilungsprozeß beimaß. Die Krankenräume besaßen ein ausgeklügeltes Belüftungssystem, und die Liege-und Wandelhallen gehören zu den prägenden Elementen der Anlage. Die »Lufttherapie« mit Bewegung und Liegekuren im Freien war seit ihrer Einführung durch Dettweiler 1876 unverzichtbarer Bestandteil der Tuberkulosebehandlung. Die Bedeutung gesunder, reiner Luft für den Heilungsprozeß schätzte man damals noch um so höher, als man in der »Luftinfektion« das heißt in der Ansteckung über »unreine« Luft den Hauptgrund für die Verbreitung von Seuchen sah [3]. Selbst nach der Widerlegung dieser Anschauung, die durch Fortschritte der bakteriologischen Forschung unhaltbar geworden war [4], behielten Freiluftliegekuren und Bewegung im Freien in der Tuberkulosebehandlung ihren hohen Stellenwert, da sie auf viele Jahre guter Erfolge zurückblicken konnte. Eine neue Entwicklung in der Tuberkulose-Behandlung wird in Beelitz durch das 1928-30 errichtete Tuberkulosekrankenhaus oder Chirurgiegebäude, das drei große Operationssäle beherbergte, dokumentiert (A 11). Seit Mitte der 1920er Jahre spielte nämlich die operative Methode in der Tuberkulosebehandlung eine immer größere Rolle. Sie versprach auch Schwerstkranken mit offener Tbc, die als hoffnungslose Fälle ursprünglich keine Aufnahme in den Heilstätten gefunden hatten, Aussicht auf Heilung. Diese Kranken waren bisher in Spezialabteilungen der allgemeinen Krankenhäuser oder in Siechenhäusern untergebracht gewesen, die jedoch in Anbetracht der höchst unzulänglichen medizinischen Betreuung als »Sterbehäuser« gemieden wurden. Da es keine gesetzliche Möglichkeit einer Zwangseinweisung gab, stellten die offen Tuberkulösen nach wie vor gefährliche Infektionsquellen dar, denen mit der Einrichtung von Tuberkulosekrankenhäusern erstmals wirksam begegnet werden konnte. An der Architektur des neuen Gebäudes sind seine vom bisherigen Heilstättenbetrieb unterschiedenen Aufgaben und Funktionen deutlich ablesbar: Die großflächige Verglasung kennzeichnet den Operationstrakt von außen. Die großzügig bemessenen Hausliegehallen sind charakteristisch für das Raumprogramm von Tuberkulosekrankenhäusern, deren schwerkranke Patienten oft nicht in der Lage waren, die weiter entfernten, freistehenden Liegehallen aufzusuchen. Auch im Zusammenhang mit der damals aktuellen Diskussion um das Pavillonsystem im Krankenhausbau, bei der es um die Frage der Denzentralisierung bzw. Zentralisierung im Krankenhausbau ging, ist die Beelitzer Anlage von größter Bedeutung. Das Pavillonsystem hatte sich, nach französischen und englischen Vorbildern, in Deutschland im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts durchgesetzt. Es sollte das kompakte, mehrgeschossige Krankenhausgebäude, das alle Stationen und Funktionsräume unter einem Dach beherbergte, durch eine dezentrale Anordnung von Einzelgebäuden ersetzen [5]. Diese meist eingeschossigen »Pavillons« enthielten große durchgehende Krankensäle, die auf beiden Seiten Fenster besaßen und damit optimal belüftbar waren. Dem Pavillonsystem lag die oben bereits erwähnte Hypothese der Luftinfektion zugrunde. Da trotz deren Widerlegung die lufthygienische Erwägungen einen hohen Stellenwert behielten, wurde das Pavillonsystem bis zum Ersten Weltkrieg im Krankenhausbau bevorzugt. Dabei spielten nicht zuletzt auch soziale Gesichtspunkte eine Rolle: Die dezentralisierten Pavillonkrankenhäuser muteten fast wie Sommerfrischen an und boten ein optimales Pflegemilieu. Ein gravierender Nachteil des Pavillonsystems waren jedoch seine vergleichsweise hohen Bau-, Unterhaltungs- und Betriebskosten. Deshalb wurde seit den 1880er Jahren nach Kompromissen in der Bauart gesucht, was zu verschiedenartigen Kombinationen zwischen Pavillonsystem und der wirtschaftlich günstigeren Blockbauweise führte. So wurden häufig die Pflegestationen in mehrgeschossigen Gebäuden übereinandergelegt, die zentralen Einrichtungen wie Verwaltung, Küche und Wäscherei dagegen in Korridorgebäuden untergebracht. Beibehalten wurden zunächst noch die durchgehenden Säle für die Pflegestationen. Die Beelitzer Heilstätten stellen eine gelungene Synthese zwischen Pavillonsystem und Blockbauweise dar, obwohl es sich hier nicht um »Pavillons« im eigentlichen Sinn handelt. So weisen die Krankengebäude keine großen Säle mehr auf, sondern sind in kleinere Krankenzimmer mit zwei bis vier Betten aufgeteilt, die an Korridoren liegen. Die zeitgenössisch verwendete Bezeichnung »Pavillons« ist daher nicht im engeren Sinne zu verstehen. Vom Pavillonsystem übernommen wurde jedoch die Grundform der Anlage, die sich durch eine relativ weitgehende Dezentralisierung auszeichnet.

Darin unterscheidet sich Beelitz von der Mehrzahl der um die Jahrhundertwende entstandenen Lungenheilstätten, die meist aus einem großen Hauptgebäude mit in stumpfem Winkel ansetzenden Seitenflügeln bestanden. In diesem Hauptgebäude waren außer den Krankenzimmern auch die Wohnungen der Assistenzärzte und des Pflegepersonals untergebracht, die Verwaltungsräume und häufig auch (im Untergeschoß oder in einem Anbau) die Kochküche. Die relativ starke Dezentralisierung der Beelitzer Anlage war zum einen durch ihre Größe geboten, zum andern stand ausreichend Baugrund zur Verfügung. geplanten Erweiterung entgegen. Zudem kam sie der Die Vorteile des dezentralen Systems gerade für den Heilstättenbau liegen auf der Hand. Eine freundliche, ansprechende Umgebung stellte insbesondere bei Spezialeinrichtungen wie Lungen- oder auch Nervenheilanstalten, bei denen lange Aufenthaltszeiten üblich waren, einen nicht zu unterschätzenden psychischen Faktor bei der Heilung dar und erhöhte zudem die Akzeptanz bei den Patienten. Herausragend sind die Beelitzer Heilstätten auch als städtebauliche Lösung. Schmieden gelang nicht nur eine optimale Einbindung der Anlage in die Landschaft. Er wußte auch die Gegebenheiten des Terrains geschickt zu nutzen, indem er Straße und Bahnlinie als Grenzen zwischen den vier Abteilungen mit einbezog. Obwohl jede jede dieser vier Abteilungen durch eine jeweils individuelle Gebäudeanordnung ein unterschiedliches Gesicht besitzt, wird durch das durchgängig verwirklichte Prinzip der Hauptachsen mir Nord-Süd-Ausrichtung und durch die sich wiederholenden architektonischen Formen ein innerer Zusammenhalt der insgesamt höchst abwechslungsreichen Gesamtanlage hergestellt. Städtebaulich dominant sowohl im Heilstätten - als auch im Sanatorienbereich sind die für die jeweilige Behandlungsmethode charakteristischen Anlagen: Steht im Sanatorienbereich das Badehaus entsprechend der medizinischen Bedeutung der Badekuren für die Sanatoriums-Patienten im Vordergrund, so stellen bei den Lungenheilstätten die Liege- und Wandelhallen, die die Bedeutung der Lufttherapie veranschaulichen, das bestimmende architektonische Motiv auszeichnet. Sie fungieren als künstlerisch besonders sorgfältig gestaltete Bindeglieder zwischen den Heilgebäuden, die die Nord-Süd-Ausrichtung der Anlage unterstreichen.

Überragt wird die gesamte Anlage schließlich vom Wasserturm, der gewissermaßen die architektonischen Gestaltungsprinzipien der gesamten Heilstätten zusammenfaßt und Wahrzeichen-Funktion besitzt. Bemerkenswert ist schließlich, daß durch die von vornherein auf Erweiterbarkeit angelegte Gesamtkonzeption auch neue Gebäude, die den aktuellen Entwicklungen in der Tuberkulosebehandlung Rechnung trugen, wie beispielsweise das Chirurgiegebäude, mühelos integriert werden konnten.

Den Architekten ist es gelungen, die zum Teil sehr großen Gebäude durch die Vielgliedrigkeit von Baukörpern und Dachlandschaft optisch aufzulockern, unterstützt von einer beachtlichen Materialvielfalt: Die Kombination von roten Ziegeln, verputzten Flächen, grünem und braunem Fachwerk sowie die Verwendung von Glasurziegeln ergeben ein äußerst lebhaftes Bild. Bei alledem bleibt ein hohes Maß an Funktionalität gewahrt, welche insbesondere das Innere der Gebäude bestimmt. Jedoch sind auch in den Krankengebäuden einzelne Räume äußerst repräsentativ ausgestaltet, wie beispielsweise die Speisesäle und die Treppenhäuser. Architektonische Höhepunkte mit hohem Repräsentationsanspruch, in denen die künstlerischen Gestaltungsprinzipien der gesamten Anlage kulminieren, bilden das Heizkraftwerk mit dem Wasserturm und das Badehaus, welches das medizinische Herzstück des Sanatorienbereichs darstellt und den Sanatorien-Gedanken am sinnfälligsten zum Ausdruck bringt. Mit seiner Kuppel und seinen romanisierenden Formen im Innern erfährt es eine geradezu sakrale Überhöhung. Ein äußerst qualitätvoller Bau der letzten Bauphase ist das Wäschereigebäude, das expressionistische Formen aufgreift.

In der Freiflächengestaltung wurde stilistisch die Formensprache der zweiten Hälfte des 19. Jh. aufgenommen, die bereits in den Plänen von Peter Joseph Lenné 1853 für das Krankenhaus in Aachen und 1863 für die Heil- und Pflegeanstalt Lengerich Anwendung fand. Neu in Beelitz-Heilstätten war jedoch die aufgrund des Bauprogramms notwendige Dimension in der Freiflächengestaltung (140 Hektar), die durch eine einfache Erweiterung bzw. Wiederholung des Gestaltungsprogramms funktionell und gestalterisch bewältigt wurde. Bereits in der Anfangsphase der Planung wurden mit der Wahl des Standortes inmitten eines weiträumigen Kiefernwaldes die Rahmenbedingungen für die Freiraumgestaltung definiert. Gartenbaudirektor Koopmann verstand es hervorragend, den durch die zahlreich vorhandenen Altbäume gegebenen Geländevorteil auszunutzen, um zum Zeitpunkt der Aufnahme des Heilstättenbetriebes bereits einen gestalterisch und funktionell befriedigenden Freiraum vorweisen zu können. Prinzipiell fanden in allen vier Heilstättenkompartimenten die gleichen Gestaltungsformen Anwendung. Vor und zwischen den Gebäuden wurden die Freiflächen regelmäßig strukturiert, an der von den jeweiligen Haupteingängen der Gebäude ausgehenden Achse symmetrisch ausgerichtet und durch Schmuckpflanzungen aufgewertet. Um die Kernbereiche liegt ein durch landschaftliche Gestaltungsformen gekennzeichneter Waldpark, der aus dem ursprünglichen Kiefernwald entwickelt wurde. Entlang der in verschiedenen Radien um die Gebäudekomplexe angeordneten Spazierwege ist der Wald an zahlreichen Stellen mit Laubgehölz-oder exotischen Nadelgehölzpflanzungen und kleinen Lichtungen aufgelockert, auf denen bewegungstherapeutische Spiele, wie z.B. Pendelkegeln, und Ruheplätze angeboten wurden.

Die sorgfältige künstlerische Ausgestaltung von Gebäuden und Freiflächen war kein Selbstzweck. Sie sollte den Kranken eine freundliche und ansprechende Umgebung schaffen und damit wie bereits erwähnt einen positiven Einfluß auf den Heilungsprozeß ausüben, aber auch möglichst viele Tuberkulöse dazu motivieren, sich einer Behandlung zu unterziehen, was der einzige Weg zur Eindämmung der Tuberkulose war. Außerdem war eine qualitärvolle, repräsentative Gestaltung gewissermaßen auch ein Aushängeschild für die Landesversicherungsanstalt Berlin. Damit dokumentieren die Beelitzer Heilstätten die führende Rolle, welche diese und generell die Landesversicherungsanstalten bei der Errichtung von Heilstätten mittlerweile einnahmen. Die Bekämpfung der Tuberkulose war für die Versicherungsanstalten von höchster Dringlichkeit, da die hohen Krankenzahlen und die zahlreichen Invaliditätsfälle die Kassen enorm belasteten. Lungensanatorien für Privatpatienten hatte es schon lange vor der Entstehung der Heilstättenbewegung gegeben, neben den bekannten Heilstätten in Davos und Arosa sind Görbersdorf in Schlesien, eröffnet 1854, und Falkenstein im Taunus, eröffnet 1876, zu erwähnen. Als erste »Volksheilstätte« (also als erste Heilstätte für »minderbemittelte« Patienten) wurde 1895 Ruppertshain im Taunus eingerichtet. Aber erst die Erkenntnis, daß Lungentuberkulose auch im Flachland erfolgreich behandelt werden konnte — den Beweis dafür hatte die 1896 eingerichtete Heilstätte Grabowsee erbracht —, war Voraussetzung für die rasche Entstehung zahlreicher Lungenheilstätten überall im Deutschen Reich. Wenn auch zunächst wohltätige Vereine bei der Bekämpfung der Tuberkulose als Volkskrankheit eine nicht zu unterschätzende Rolle spielten, so waren es doch erst die Landesversicherungsanstalten, die dank der ihnen zur Verfügung stehenden Mittel, den Heilstättenbau in großem Maßstab betrieben. Die Grundlagen dazu waren durch das Reichs-Krankenversicherungsgesetz von 1883 und seine Novelle 1892 sowie durch das Invalidenversicherungsgesetz von 1900 geschaffen worden. Die äußerst positive Erfolgsbilanz der Lungenheilstätten verdankt sich allerdings nicht zuletzt der Tatsache, daß bis zur Einführung der chirurgischen Methode ausschließlich Leicht-Tuberkulöse mit Aussicht auf Heilung aufgenommen wurden.

In Beelitz Heilstätten hat sich ein einmaliges, unter vergleichbaren Anlagen durch seine städtebauliche und künstlerische Qualität sowie durch seinen hohen medizinischen Standard herausragendes Zeugnis des Heilstättenbaus erhalten, das auf anschauliche Weise den Stand der Tuberkulosebehandlung um die Jahrhundertwende und ihre Entwicklung in den folgenden Jahren dokumentiert und gleichzeitig ein sozialgeschichtlich aufschlußreiches Beispiel für die Bekämpfung der Volkskrankheit Tuberkulose zu Beginn unseres Jahrhunderts bietet.