Bauanlage und Architekten

von PETER LEMBURG (BAB Architekten), TORSTEN VOLKMANN

(der Text "Die Beelitzer Heilstätten — Bauanlage und Architekten" wurde erstmalig in dem Band "Die Beelitzer Heilstätten", herausgegeben vom Brandenburgischen Landesamt für Denkmalpflege in der Potsdamer Verlags-Buchhandlung, 1997, ISBN 3-91019-627-6 im Kapitel „Entwicklungsgeschichte und Beschreibung“ abgedruckt. Dieser Band ist leider vergriffen. Der nachfolgende Text konnte dank der freundlichen Genehmigung der beiden Autoren an dieser Stelle abermals veröffentlicht werden)

Die Bewertung der imposanten Beelitzer Heilstätten aus architekturhistorischer Sicht muß vor dem Hintergrund ihrer medizinisch-wissenschaftlichen Bedeutung erfolgen, denn dem eng aufeinander bezogenen Wechselspiel von Zweckbestimmung, Gestaltung im einzelnen wie im räumlichen Ordnungssystem des Gesamtorganismus kann man schwerlich gerecht werden, wenn nur auf das rein Architektonische abgehoben wird.

Die »Lungenheilstätte« bestand als eigenständige Bauaufgabe erst wenige Jahre, als die Beelitzer Anlage 1902 ihren Betrieb aufnahm. Daß sie allerdings auf Strukturen zurückgriff, die durch den Krankenhausbau des 19. Jahrhunderts vorgegeben waren, liegt nahe. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte die Ausbreitung der Tuberkulose, seinerzeit gemeinhin als »Schwindsucht« bezeichnet, das Ausmaß einer verheerenden Volkskrankheit angenommen. Besonders heimgesucht waren die Angehörigen der minderbemittelten Bevölkerungsgruppen. Die Gründe hierfür lagen in der zunehmenden Industrialisierung mit der »Vermassung« einer Arbeiterschaft, die in den Ballungszentren wie Berlin Arbeits- und Wohnverhältnissen ausgesetzt war, deren katastrophale hygienische Bedingungen in Verbindung mit schwerer körperlicher Arbeit und chronischer Mangelernährung der Ausbreitung der Tuberkulose Vorschub leisteten. Im Deutschland der letzten Dekade des 19. Jahrhunderts war jeder dritte Todes- und jeder zweite Invaliditätsfall im erwerbsfähigen Alter durch tuberkulöse Krankheiten bedingt.

Angesichts dieser Dimensionen stellte sich der Kampf gegen die Tuberkulose über die medizinische Herausforderung hinaus als soziale und volkswirtschaftliche Notwendigkeit dar. Gut zehn Jahre, nachdem Robert Koch 1882 den Tuberkel-Bazillus entdeckt hatte, setzte mit der Gründung zahlreicher Tuberkulosevereine in Deutschland eine allgemeine Abwehrbewegung gegen die Tbc ein, die sich vor allem den Bau von Heilstätten zum Ziel setzte. Darin tat sich das 1895 gegründete »Deutsche Central-Komitee zur Errichtung von Heilstätten für Lungenkranke« federführend hervor, das vier Jahre später in Berlin den »1. Internationalen Kongreß zur Bekämpfung der Lungentuberkulose als Volkskrankheit« veranstaltete und allgemeine Anforderungen für den Bau von Lungenheilstätten aufstellte. Damit war manifest, daß die Unterbringung von Lungenkranken im Frühstadium in speziell organisierten Heilstätten mehr Erfolg versprach, als das in herkömmlichen Kurorten oder öffentlichen Krankenhäusern der Fall war. Gleichwohl stellte sich die Frage, wie der Bau der nun erforderlichen großen Volksheilstätten für die minderbemittelte Arbeiterschaft, diese »vornehme sozialpolitische Aufgabe«, organisatorisch und finanziell zu bewerkstelligen sei. Eine Verschickung tausender Patienten in die teuren Privatsanatorien, vornehmlich in den Gebirgslagen, schloß sich aus, und die Möglichkeiten der Wohltätigkeits- und Heilstättenvereine waren eingeschränkt. Große Bedeutung kam daher den Trägern der Invaliditäts- und Altersversicherung zu, in deren Interesse es lag — neben ihrer sozialen Verantwortung im Kampf gegen die Volkskrankheit —, der drohenden schweren Rentenlast infolge Erwerbsunfähigkeit der Versicherten durch den Bau von Heilstättenanlagen zu begegnen. Diese Versicherungsträger wurden daher seit 1895 zu Hauptstützen der Tuberkulosebewegung, in der der Bau von Lungenheilstätten von zentraler Bedeutung war.

Baugeschichte und Gesamtanlage

Die Errichtung der Beelitzer Heilstätten durch die Landesversicherungsanstalt vollzog sich in drei Bauabschnitten und war von Beginn an auf Erweiterungsfähigkeit angelegt. Die Gründungsphase (1898-1902, Architekten Heino Schmieden und Julius Boethke) wurde durch den Ankauf des Geländes im Jahre 1898 markiert. Bereits im Mai 1902 waren die Baulichkeiten so weit fertiggestellt, daß das Sanatorium für Männer eröffnet werden konnte. Im Mittelpunkt der zweiten Bauperiode (1905-08, Architekt Fritz Schulz) stand die Erweiterung der Lungenheilstätten durch den Bau je eines Pavillons für Männer und Frauen sowie sieben neuer Liegehallen und heute nicht mehr existierender Freiluftbäder. Zur dritten Bauperiode (1926-30, Architekt ebenfalls Fritz Schulz) gehört neben dem Neubau einer Zentralwäscherei in erster Linie die Errichtung des Chirurgie-Pavillons in der Frauenabteilung der Lungenheilstätte. Die Struktur der gesamten Heilstättenanlage einschließlich der Architektur ihrer Einzelbauten wurde bereits durch die Erstplanung von Heino Schmieden und Julius Boethke bestimmt und bietet sich auch heute noch trotz verschiedener unter sowjetischer Regie vorgenommener Eingriffe und Neubauten weitgehend unverändert dar. Die Heilstättenanlage befindet sich ca. 3 km nordwestlich der Stadt Beelitz innerhalb eines knapp 200 ha umfassenden Geländes. Aufgrund der sehr unfruchtbaren Böden war das Gebiet bereits seit Jahrhunderten mit Wald bestanden. Die durch Waldweidewirtschaft, Streuentnahme und extensive Holzwirtschaft schüttere Heide wurde 1837-41 mit Kiefern aufgeforstet. Das gesamte Gelände war mit einem System von rechtwinklig angeordneten Forstschneisen (Gestelle) durchzogen. Am nordöstlichsten Punkt des Geländes im Schnittpunkt von Breitem Gestell und Jagdgestell befand sich ein Jagdstern (»Kleiner Stern"), dessen Konturen noch auf dem Meßtischblatt von 1955 ablesbar sind. Die Wahl dieses Standortes bot sich durch die Anbindung an die 1879 eröffnete Wetzlarer Bahn, die vorhandene Kreischaussee zwischen Beelitz und Lehnin und die Struktur der Landschaft an. So gewährleistete einerseits der dichte, sechzigjährige Kiefernwaldbestand die aus medizinischer Sicht erforderliche ruhige, windgeschützte Lage sowie die rauch- und staubfreie Qualität der Luft. Andererseits ermöglichte die Teilung des Geländes in vier nahezu gleiche Bereiche die Realisierung des umfangreichen Bauvorhabens der Landesversicherungsanstalt Berlin, welches die in gemeinsamen ökonomischen und verwaltungstechnischen Betrieb zu führende Anlage eines Sanatoriums für chronisch Kranke sowie einer Lungenheilstätte jeweils für Männer und Frauen vorsah. Die gebotene strikte Trennung der nichttuberkulösen Erwerbsunfähigen von den »Schwindsüchtigen« sowie der Angehörigen beider Geschlechter konnte dadurch erreicht werden, daß die sich kreuzenden Wegeführungen von Bahnlinie und Chaussee als »natürliche« Grenzlinien eingesetzt wurden: Nördlich der Bahnlinie wurden die Lungenheilstätten errichtet, südlich die Sanatorien, wobei man die Bereiche westlich der Chaussee für Frauen und östlich für Männer anlegte. Die Erschließung dieser vier abgeschlossenen Bereiche erfolgt über die Chaussee, an der sich die Zufahrten der Lungenheilstätte bzw. der Sanatorien, ausgestattet mit je einem eigenen Pförtnerhaus, paarig gegenüberliegen. Den Schwerpunkt der Einzelbereiche bilden die langgestreckten Pavillonbauten, denen in den nördlichen Bereichen die für Lungenheilstätten charakteristischen offenen Wandel- und Liegehallen zugeordnet sind und die im Sanatoriumsbereich durch ein auf der Männerseite gelegenes großes Badehaus ergänzt sind. Diese zunächst errichteten vier Pavillons waren auf insgesamt ca. 600 Betten ausgelegt. Bereits jene enorme Kapazität sowie die in Aussicht genommene Erweiterung auf die doppelte Bettenzahl und die relativ weite Entfernung nach Beelitz begründeten die Notwendigkeit, die gesamte Anlage mit einer komplexen Infrastruktur zur Gewährleistung des medizinischen und technischen Betriebs auszustatten.

Die Verteilung der für Bewirtschaftung und Verwaltung dienenden Gebäude auf die vier Abteilungen folgte zum einen organisatorischen Überlegungen, zum anderen sollte auch hierbei die konsequente Separation der Frauen- und Männerbereiche fortgesetzt werden, um eine Berührung der Kranken mit den Angehörigen des anderen Geschlechts möglichst auszuschließen. Es wurden daher diejenigen Gebäude, in denen männliche Bedienstete beschäftigt waren, in die Abteilungen für Männer gelegt. Dazu gehören das Kessel- und Maschinenhaus, Werkstättengebäude, Desinfektionsanstalt, Pferdestall, Gärtnerhaus, Feuer-wehrdepot sowie die Villen der leitenden Ärzte. Dagegen wurden die beiden Wasch- und Kochküchengebäude, in denen weibliches Personal beschäftigt war, gegenüber den Pavillons für Frauen errichtet. Von diesem Ordnungsprinzip aus naheliegenden Gründen ausgenommen war die heute nicht mehr existierende Kapelle, deren Standort sich zentral im Kreuzungsbereich von Bahn und Chaussee befand. Stellte die Separation der Geschlechter ein bedeutendes Kriterium für die Organisation der Heilstätten dar, so ist es vor allem die Stellung der Baulichkeiten zueinander, die der gesamten Anlage ihr charakteristisches, kompositorisch geschlossenes Erscheinungsbild verleiht. Schmieden und Boethke legten in ihrem Gesamtplan die strikte Nord-Süd-Ausrichtung aller Gebäude fest. Dabei bildeten sie für jeden Bereich eine Hauptachse aus, die durch die besonders hervorgehobenen Mittelbauten der langgestreckten Pavillons definiert wird. Diese Achsen fungieren als Symmetrieachsen und bestimmen so die Anordnung der Wandel- und Liegehallen sowie der paarig gegenübergestellten Wasch-und Kochküchengebäude. Leicht variiert findet sich dieses Kompositionsprinzip im Bereich des Männersanatoriums. Hier wird durch die nord-südliche Reihung von Kessel-und Maschinenhaus, Verwaltungsgebäude und Badehaus eine gemeinsame Symmetrieachse gebildet, während sich der Krankenpavillon östlich davon befindet. Ausgangspunkt dieses übergeordneten Kompositionsgedankens war das Bestreben, sowohl den Krankenzimmern als auch den offenen Liegehallen eine Orientierung nach Süden zu geben. Weitgehend fortgesetzt wurde das Prinzip der Nord-Süd-Ausrichtung bei den durch Fritz Schulz entworfenen Erweiterungsbauten. Dies gilt in erster Linie für die drei Pavillonbauten, die Liegehallen und das heute nahezu vollständig zerstörte Wohngebäude für ledige Ärzte. Mit Ausnahme des Chirurgie-Pavillons geht der Standort dieser Neubauten dabei auf die von Schmieden und Boethke vorgeschlagenen Erweiterungsmöglichkeiten zurück. Lediglich die innerhalb des Männersanatoriums gelegenen Neubauten von Bäckerei, Schlachterei und Zentralwäscherei sind von dem Prinzip der Nord-Süd-Orientierung ausgenommen. Der Vollständigkeit halber sei hier noch hingewiesen auf Postgebäude, Gästehaus und Verkaufshäuschen, deren Lage nahe der Bahnlinie sich aus ihrer übergeordneten Funktion herleitet. Ähnliches gilt auch für die in der zweiten und dritten Bauphase errichteten Wohnhäuser für Angestellte und Beamte [4]. Wenngleich nicht zum eigentlichen Heilstättengelände gehörend, sollen hier auch die ca. 15 km entfernt gelegenen Güter Blankensee und Breite Erwähnung finden, die in den Jahren 1918/19 von der Landesversicherungsanstalt angekauft wurden, um ergänzend zur heilstätteneigenen Obst- und Gemüseplantage sowie Schweinemästerei eine weitgehend unabhängige Versorgung der Heilstä

tten mit Fleisch und anderen Lebensmitteln zu gewährleisten [5].

Daß die gesamte Beelitzer Anlage nach einem durchgehenden Kompositionsprinzip errichtet wurde, dem in jedem Bereich eine an einer Hauptachse orientierte Nord-Süd-Ausrichtung der Gebäude zugrunde liegt, wird betont und vor Ort erfahrbar durch ein verbindendes Wegesystem, dessen Anlage durch den Entwurf von Schmieden und Boethke festgelegt wurde. Im näheren Gebäudeumfeld nach geometrischen Prinzipien gestaltet, faßt das Wegenetz die Einzelbauten innerhalb der vier Bereiche zu Gebäudegruppen zusammen und bindet gleichzeitig die kleineren Nebengebäude in die Einzelanlagen mit ein. Hauptachsen und symmetrische Anordnung der Gebäudekörper wurden hierbei aufgegriffen und betont, während die Wegeführung innerhalb des Waldgebietes freieren Formen folgte, um dort den Geländeverlauf einzubeziehen und den Erholungswert der Spaziergänge zu steigern. Lediglich die Abschnitte, die bis 1930 einen festen Belag erhielten, also die Zufahrtswege und Fußwege in unmittelbarer Gebäudenähe, sind zum überwiegenden Teil noch erhalten und vermögen ein Bild der ursprünglichen Situation zu vermitteln.

Foto links unten: Frauenpavillon / Karte rechts: Lageplan um 1906