Immer mehr Opfer-Angehörige und auch die anfangs noch zurückhaltende Opposition werfen Präsident Erdoğan und den Behörden unzureichende und zu langsame Unterstützung vor.
Präsident Erdoğan ist erst einige Tage nach dem Erdbeben in das Erdbebengebiet gereist. Bei seinem Besuch in Kahramanmaras versprach er dann den betroffenen Familien jeweils 10.000 Türkische Lira (etwa 500 Euro) Soforthilfe (1). Er erklärte auch, dass es am ersten Tag Probleme bei der Rettung gegeben habe, aber dass man ab dem zweiten Tag die Situation hätte bewältigen können. Erdbebenopfer und Oppositionsparteien hatten schon zuvor vom Organisationschaos berichtet, weil viele Erdbebenopfer auch Tage später keine Zelte und Essen bekommen hatten.
Die türkische Hilfsorganisation Roter Halbmond, die der AKP-Regierung Erdoğans übrigens nahe steht, ist auch von dieser Kritik betroffen. Sie hat 2050 Zelte für Erdbebenopfer an eine andere Hilfsorganisation („Ahbap“) offenbar nicht gespendet, sondern für umgerechnet 2,3 Millionen Euro verkauft (2) , was auch vom Präsidenten des türkischen Roten Halbmonds Kerem Kinik bestätigt wurde. Währenddessen klagen Betroffene über fehlende oder nur langsame Hilfe bei der Bergung der Verschütteten.
Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu griff Erdoğan sogar direkt an: "Wenn hier
irgendjemand für diesen Prozess verantwortlich ist, dann ist es Erdoğan."
Die Regierungspartei habe es 20 Jahre lang versäumt, das Land auf ein Erdbeben vorzubereiten (3).
Die Opposition habe zum Beispiel in den letzten Jahren 75 Anträge gestellt, um die Erdbebensicherung voranzutreiben und die Maßnahmen transparent zu gestalten, weil bekannt ist, dass es große Erdbebengebiete in der Türkei gibt, von denen jedoch 70 abgelehnt worden seien (4). Obendrein sei unter Erdoğans Regierung die Armee von ihrer Verpflichtung zur Katastrophenbekämpfung entbunden worden und es gebe das Problem der Korruption in der Baubranche.
So nimmt die Kritik an den türkischen Behörden im Umgang mit Bauvorschriften ebenfalls zu. Der Vorsitzende der türkischen Bauingenieurs-Kammer Taner Yüzgeç warf der Regierung vor, sie habe bei öffentlichen Gebäuden nicht die vorgeschriebenen Erdbebenverstärkungen veranlasst.
Eine Delegation der türkischen Architektenkammer, die die Katastrophenregion besucht hat, kommt auch zu der Einschätzung, dass es viele Versäumnisse von Seiten der AKP-Regierung gegeben hat.
Die Experten widersprechen der Behauptung der AKP-Regierung, bei den eingestürzten Gebäuden handele es sich um Bauten, die vor 1999, also vor der Machtübernahme von Präsident Recep Tayyip Erdoğan, gebaut seien.
Tezcan Candan von der Architektenkammer Ankara sagt: „Die Wohngebiete wurden falsch ausgesucht. Es wurden Gebiete ausgesucht, deren Grund flüssig ist und die Moorgebiete sind.“
Die Expertin kritisiert auch die Pläne der Regierung, die Städte in einem Jahr wieder aufzubauen. „Hier kann man nicht innerhalb eines Jahres wieder Bauten hochziehen“, meint Candan. Solche Pläne müssten alle aufgehoben werden. „Die neuen Pläne müssen auf wissenschaftlicher Basis ausgearbeitet werden.“
Die Architektenkammer Ankara hatte zuvor davor gewarnt, dass nicht sofort mit den Aufräumarbeiten begonnen werden darf, um keine Beweismittel zu vernichten. Es müssten von jedem Gebäude Proben entnommen werden und Beweise gesichert werden, damit die notwendigen Ermittlungen eingeleitet werden können.
Und immer mehr häufen sich Hinweise, dass bei vielen Bauten Mängel zum Einsturz geführt haben. Viele Gebäude in der Katastrophenregion hätten offenbar erst gar nicht genehmigt werden dürfen.
Mit einem sogenannten „Baufrieden“ hatte Präsident Erdoğan 2019 eine Amnestie (Straffreiheit & -erlass) für fehlerhafte Bauten durchgesetzt.
„Es werden illegale Bauten errichtet. Diese Bauherren sagen der Regierung, sie sollen einen Baufrieden erlassen, wenn sie Stimmen bekommen wollen. Und die Regierung erlässt dann einen Baufrieden“, sagt ein Abgeordneter der pro-kurdischen HDP.
„Viele Gebäude wurden so gebaut, dass sie klar gegen das Baurecht verstoßen. Gerade in einem Gebiet, das hochgradig erdbebengefährdet ist, ist das sehr gefährlich. Das Erdbeben hat gezeigt, wie tödlich dieser Baufrieden war“, sagt Kemal Karanfil, ehemaliger Richter am türkischen Kassationshof.
Erdoğan müsse deswegen vor Gericht gestellt werden. „Er könnte sich durch seinen Baufrieden am Tod dieser Menschen mitschuldig gemacht haben“, so Karanfil.
Während auf der einen Seite Erdoğan und die Regierung schuldig gemacht werden, suchen diese auf der anderen Seite die Schuld beim einfachen Volk.
Journalist Erkan Arikan, der zufällig während des Erdbebens vor Ort war, sagt: In den von der Regierung kontrollierten Medien sei ein völlig falsches Bild entstanden. Es wurde gezeigt, wie die Katastrophenschutzbehörde half und angeblich alles mögliche in die Wege leitete. Doch die Realität, so Arikan, sei eine andere.
Viele Erdbebenopfer seien bestürzt und traurig gewesen, dass bis zu 48 Stunden nach der Katastrophe immer noch keine Sicherheits- oder Katastrophenkräfte in den einzelnen Erdbebengebieten eingetroffen seien. Und was am meisten beklagt wurde war, "dass viele Bewohner zu ihren Wohnungen und Häusern oder zu ihren Verwandten gegangen sind und deren Schreie und deren Rufe gehört haben - 'helft uns, helft uns!' -, aber niemand da war, um in irgendeiner Weise zu helfen.
Solch ein Bild wurde natürlich nicht in den türkischen Mainstreammedien gezeigt."
Wer sich dann noch über die sozialen Medien beklagt hat oder in jeglicher Weise Kritik geäußert hat, hatte es schwer, da es dann oft eben diese Einzelpersonen waren, die Opfer der Beschuldigungen der Regierung wurden.
„Allein Tweets und Posts in den Sozialen Medien waren Anlass dafür, dass Sicherheitskräfte gekommen sind und Menschen verhaftet oder sie für
kurze Zeit in Gewahrsam genommen haben. Das ist ein Indiz dafür, dass die Regierung Erdoğan all diejenigen mundtot machen will, die in irgendeiner Weise Kritik äußern." sagt der Journalist Erkan Arikan, der zufällig während des Erdbebens vor Ort war.
In den sozialen Medien sind Videos von angeblichen Plünderern zu sehen, die Bauten bestohlen haben sollen, was zu deren Einsturz geführt haben soll, die öffentlich misshandelt werden.
Der ARD-Hörfunkkorrespondent Christian Buttkereit erklärt: „90 Prozent der Medien sind auf Erdoğan-Linie, das betrifft sowohl die Zeitungen als auch die Fernsehsender. Es gibt immer noch Medien, die relativ unabhängig agieren können, die auch noch nicht verboten wurden. Aber unabhängiger Journalismus ist relativ selten."
In der Rangliste der Pressefreiheit steht die Türkei auf Platz 149 von 180.
Mindestens 24 Journalist*Innen sind laut Reporter ohne Grenzen derzeit in Haft.
Ein Großteil der klassischen Medien steht in der Türkei unter der Kontrolle der Regierung. Soziale Medien sind in der Türkei eine wichtige Quelle zur alternativen Informationsgewinnung.
Außerdem war in dem Land Twitter zwischenzeitlich gesperrt, selbst mit VPNs war Twitter kurzzeitig nicht mehr zu erreichen. Oppositionelle warfen der Regierung vor, damit auch Kritik am
Krisenmanagement unterdrücken zu wollen.
Erdoğan und seine Regierung kriegen von mehreren Seiten, sowohl von innerhalb als auch von außerhalb der Landesgrenzen, Kritik zu hören. Die Antwort darauf lautet entweder leere Versprechen und weiteres Versagen oder einem werden kurzerhand alle Sprachrohre zur Meinungsäußerung weggenommen
(1) https://www.tagesschau.de/ausland/asien/erdogan-finanzhilfen-erdbeben-101.html [zuletzt abgerufen am 23.05.23]
(2) https://www.fr.de/politik/news-erdbeben-tuerkei-opfer-roter-halbmond-erdogan-zelte-verletzte-tote-92112078.html [zuletzt abgerufen am 24.05.23]
(3) https://www.tagesschau.de/ausland/asien/erdogan-finanzhilfen-erdbeben-101.html [zuletzt abgerufen am 23.05.23]
(4) https://www1.wdr.de/nachrichten/erdbeben-tuerkei-kritik-erdogan-wahl-100.html [zuletzt abgerufen am 24.05.23]
(5) https://www.br.de/nachrichten/deutschland-welt/erdbeben-in-der-tuerkei-wer-kritik-uebt-hat-es-schwer,TY6maN1 [zuletzt abgerufen am 24.05.23]
(6) https://www.br.de/nachrichten/deutschland-welt/tuerkei-und-syrien-aktivistin-beklagt-folter-im-erdbeben-gebiet,TVdcjOZ [zuletzt abgerufen am 24.05.23]
(7) https://www.br.de/nachrichten/deutschland-welt/erdbeben-in-der-tuerkei-wer-kritik-uebt-hat-es-schwer,TY6maN1 [zuletzt abgerufen am 24.05.23]
(8) https://www.tagesschau.de/ausland/asien/erdogan-finanzhilfen-erdbeben-101.html [zuletzt abgerufen am 24.05.23]