8. Das autonome Fahrrad

Wir betrachten ein Fahrrad, das mit einem "dummy" Fahrer bestückt ist, der keinerlei Drehmomente auf den Lenker ausübt und dessen Schwerpunkt in der Rahmenebene fixiert ist. Die Frage ist, ob und unter welchen Bedingungen ein derartiges autonomes Fahrrad in der Lage ist, sturzfrei zu fahren.

Falls die Gleichgewichtslage des Lenkers bei einer gegebenen Verkippung exakt dem Gleichgewichts-Fahrwinkel gegen Verkippen entspricht, so durchläuft das Fahrrad einen stationären Kreis (die Reibung wird vernachlässigt). Ist der Fahrwinkel zu klein, so durchläuft das Fahrrad eine Spirale, die im Sturz endet. Ist der Fahrwinkel zu gross, ist keine stationäre Kurvenfahrt möglich. Entweder richtet sich das Fahrrad auf und geht in eine stabile Geradeausfahrt über oder es treten anwachsende Oszillationen auf die zum Sturz führen.

Der für eine stabile Kurvenfahrt bei einem Kippwinkel Θ erforderliche Fahrwinkel ist gegeben durch:

Der aus der Gleichgewichtsposition des Lenkers resultierende Fahrwinkel beträgt dagegen:

Ein Vergleich der beiden Winkel zeigt, dass bei hohen Geschwindigkeiten der Gleichgewichtswinkel des Lenkers zu klein ist, um Stabilität gegen Kippen zu gewährleisten. Dafür verantwortlich ist in erster Linie der von 90° verschiedene Steuerrohrwinkel Φ und in geringerem Mass das rückstellende Kreiseldrehmoment, das sich im Faktor K ≈ 1.12 niederschlägt (siehe Kapitel 6). Bei hohen Geschwindigkeiten wirkt das Kreiseldrehmoment leicht destabiliserend. Der instabile Bereich beginnt typisch knapp oberhalb 18 km/h. Oberhalb dieser Grenzgeschwindigkeit geht das autonome Fahrrad langsam in immer engere Spiralen über und stürzt schliesslich.

Unterhalb etwa 18 km/h ist der Gleichgewichtsfahrwinkel grösser als für die Stabilität gegen Kippen erforderlich. Das Fahrrad wird sich entweder aufrichten und in eine stabile Geradeausfahrt übergehen oder darum herum oszillieren. Die beiden Gleichungen, die die Dynamik der Lenkerausdrehung und der Verkippung beschreiben sind gekoppelte Differentialgleichungen 2. Ordnung und haben grundsätzlich oszillatorische Lösungen. J.P.Meijaard, Jim M. Papadopoulos, A. Ruina und A. L. Schwab haben die linearisierten dynamischen Differenzialgleichungen eines Referenzfahrrades gelöst. Im selben Artikel findet sich auch eine umfassende Literaturliste über wissenschaftliche Publikationen zum Thema. Es zeigt sich, dass unter Vernachlässigung der Reibung im Lenkersystem der stabile Geschwindigkeitsbereich zwischen Kipp-Instabilität und Oszillations-Instabilität sehr eng ist. Das autonome Fahrrad geht mit abnehmender Geschwindigkeit sehr rasch in ein oszillatorisches Verhalten über. Die Folgerung ist, dass das autonome Fahrrad nur in einem sehr kleinen Geschwindigkeitsbereich als intrinsisch stabil betrachtet werden kann. In der Realität wirkt die Reibung im Lenkersystem der oszillatorischen Instabilität entgegen.

Ein zusätzlicher Grund dafür, dass die Oszillationen beim realen Fahrrad mit Fahrer kaum auftreten liegt darin, dass der Schwerpunkt nicht starr in der Rahmenebene liegt. Auch ein passiver Fahrer ist keineswegs ein starrer Körper. Er folgt den Oszillationen nicht instantan. Dadurch wird die Rückkopplungsschlaufe die zur Oszillation führt stark geschwächt.