6. Gleichgewicht des Lenker bei mittleren und hohen Geschwindigkeiten

Am Konktaktpunkt des Vorderpneus greifen 2 Kräfte an. Die eine, die Normalkraft Fn, ist nach oben gerichtet. Sie ist die Gegenkraft zur Schwerkraft. Die zweite Kraft, die Zentripetalkraft Fc ist die Gegenkraft zur Zentrifugalkraft. Sie ist vom Kontaktpunkt des Vorderpneus parallel zum Kurvenradius Rv (siehe Bild 2 im Kapitel 2) nach innen gerichtet. Mit dem Nachlauf als Kraftarm erzeugen die beiden Kräfte ein Drehmoment auf den Lenker.

Der Einfachheit halber wird im Folgenden stets die Näherung kleiner Fahr- und Kippwinkel verwendet.

(A = horizontaler Abstand Schwerpunkt - Hinterradnabe, L = Radstand, ms = totale Masse, g = Erdbeschleunigung, v = Geschwindigkeit, α = Fahrwinkel des Vorderrades (Kap. 2)).

Die beiden Kräfte erzeugen je ein Drehmoment Mn (Normalkraft) resp. Mc (Zentripetalkraft) in der Steuerrohrachse.

(Φ = Steuerrohrwinkel, θr = Kippwinkel des Rahmens, Δ = Nachlauf (Kap. 4))

Für Φ < 90° hat das Kreiseldrehmoment des Vorderrades eine Komponente Mz1 in der Steuerrohrachse z1. Dies wird meist übersehen. Im Gegensatz zum Beitrag des Kreiseldrehmoments gegen Kippen der vernachlässigbar ist, beträgt das Verhältnis Mz1 zu Mc typisch etwa 0.07. Da dieser Faktor geschwindigkeitsunabhängig ist, kann das Kreiseldrehmoment durch einen Korrekturfaktor K berücksichtigt werden. Das heisst, an Stelle von Mc ist K.Mc einzusetzen.

Im Gleichgewicht addieren sich die Drehmomente zu Null. Unter Verwendung der Kleinwinkelnäherung:

(σ = Lenkerausdrehung, α = Fahrwinkel des Vorderrades (Kap. 2)) findet man die Gleichgewichtsbedingung als:

Die Gleichung hat nur oberhalb einer kritischen Geschwindigkeit vcrit eine Lösung.

Für ein typisches Fahrrad liegt vcrit bei 6 - 7 km/h. Natürlich existieren auch bei kleineren Geschwindigkeiten Gleichgewichtslagen des Lenkers. Die Voraussetzung für die lineare Näherung, dass kleine Verkippungen zu kleinen Auslenkungen führen, ist jedoch unterhalb vcrit nicht mehr erfüllt. Sogar beim aufrechten Fahrrad liegt die Gleichgewichtsauslenkung nicht mehr bei 0 Grad. Dies wird im nächsten Abschnitt besprochen.

Bild 7: Gleichgewichtsausdrehung des Lenkers bei 10 km/h als Funktion der Rahmenverkippung. Blaue Kurven ohne Kreiseldrehmoment, rote Kurven inkl. Kreiseldrehmoment. Durchgezogene Linien entsprechen stabilen Lösungen.

Interessant ist das Verhalten bei grossen Winkeln, bei denen die Kleinwinkel-Näherung nicht mehr zulässig ist. Dies soll in Bild 7 am Beispiel v = 10 km/h dargestellt werden. Um das Verständnis für die Physik zu vereinfachen, wurde das Gleichgewicht zunächst unter Vernachlässigung des Kreiseldrehmoments berechnet (blaue Linien). Für kleine Verkippungen existiert eine stabile Lösung mit kleiner Lenker-Ausdrehung (durchgezogene Linie) und eine instabile (gestrichelte Linie) mit grosser Ausdrehung. Die instabile Linie entspricht der Lösung Nachlauf = 0. Bei einer Verkippung von ungefähr 18° kreuzen sich die Lösungen und vertauschen ihre Stabilität. Für grössere Verkippungen ist jetzt Nachlauf = 0 die stabile Lösung. Wird das Kreiseldrehmoment eingeschlossen (rote Linien), so tritt am Übergangspunkt bei 18° eine Phase auf, in der das Kreiseldrehmoment dominiert und eine Kreuzung verhindert. In den übrigen Bereichen ist der Einfluss des Kreiseldrehmoments gering.

Wie man im Bild 7 sieht, erstreckt sich der quasilineare Bereich der stabilen Lösung bis etwa Θ = 12°. Bei 10 km/h genügt dies, da grössere stationäre Verkippungen kaum auftreten. Würde jedoch kr gegenüber dem hier angenomenen Wert von 6 cm vergrössert, so würde sich die Nachlauf = 0 Lösung in Bild 7 nach unten verschieben und der quasilineare Bereich entsprechend verkleinert. Ein Regelverhalten, das den Fahrer unterstützt, ist nur im quasilinearen Bereich erfüllt. Bild 7 zeigt, dass mit kr = 6 cm ein guter Kompromiss zwischen einem vernünftigen Stabilitätsbereich und einfachem Handling erreicht ist.

Zusätzliche Drehmomente

In speziellen Fahrsituationen treten zusätzliche Drehmomente am Lenker auf.

Wird mit der Vorderradbremse gebremst, so greift am Kontaktpunkt des Vorderpneus die entsprechende Bremskraft an. Sie übt ein rückstellendes Drehmoment auf, das heisst der Lenker tendiert sich gerade zu stellen.

Sobald das Vorderrad bei einer allgemeinen Lenkerausdrehung zu rutschen beginnt, ist die in der Fahrebene liegende Kraft gegeben durch die Gleitreibung. Sie liegt entgegengesetzt zur Fahrtrichtung und hängt nicht mehr von der Lenkerausdrehung ab. Das resultierende Drehmoment wirkt rückstellend. In tiefem Sand oder Schnee wird der effektive Angriffspunkt der Gleitreibung nach vorne geschoben. Dies kann so weit gehen, dass aus dem Nachlauf ein effektiver Vorlauf wird. Dadurch wirkt das Drehmoment der Gleitreibung ausdrehend. Die Lenkerausdrehung wird instabil, der Lenker droht sich querzustellen und die Sturzgefahr steigt dramatisch. Bis zu einem gewissen Grad kann man sich dagegen schützen, indem man den Schwerpunkt möglichst weit nach hinten verlegt.