Sagen (vom althochdeutschen saga, „Gesagtes“) sind kurze, prosaische Erzählungen aus der mündlichen Volksüberlieferung. Im Gegensatz zu Märchen, die als reine Fiktion und „erfunden“ verstanden werden, besitzen Sagen, einen wahren Kern. Sie sind immer an einen konkreten Ort, eine reale historische Persönlichkeit oder ein tatsächliches Ereignis geknüpft.
Die Sage vom Reichen Teufel zu Böttingen
Es geht um einen ungewöhnlich reichen und geizigen Bauer in Böttingen, der im Volksmund nur "der Reiche Teufel" genannt wurde. Sein Reichtum war so groß und sein Wesen so hartherzig, dass die Leute munkelten, er habe einen Pakt mit dem Teufel geschlossen.
Der Legende nach hatte der Teufel dem Bauern versprochen, ihn so lange mit Reichtum zu segnen, wie dieser es schaffte, keine gute Tat zu vollbringen und niemals eine Kirche zu betreten. Sobald er eine dieser Bedingungen brach, würde der Teufel kommen, um seine Seele zu holen.
Der "Reiche Teufel" lebte jahrelang in Saus und Braus, mied die Kirche und half niemandem. Doch eines Tages, es war stürmisches Wetter, geriet eine Hochzeitsgesellschaft auf dem Weg zur Kirche in große Not. Ausgerechnet in seiner Nähe suchten sie Schutz. Ob aus einer plötzlichen Regung des Mitleids oder aus einem anderen Grund – der Bauer gewährte ihnen Unterschlupf in seinem Haus.
Das war sein Verhängnis. Indem er den Menschen in Not half, hatte er eine gute Tat getan. Augenblicklich erschien der Teufel, um den Pakt zu erfüllen. Er packte den reichen Bauern und riss mit ihm ein gewaltiges Loch in die Hauswand, durch das er ihn in die Tiefe zerrte. Man sagt, die Seele des "Reichen Teufels" würde seitdem ruhelos umherirren.
Historischer Kern und Lokalität:
Der "Teufelsstein": In Böttingen gibt es einen großen, markanten Felsen, der im Volksmund "Teufelsstein" genannt wird. Oft wird die Sage mit diesem Stein in Verbindung gebracht. Manche Erzählungen berichten, dass der Teufel den Bauern genau an diesen Stein schleifte oder dass der Stein das Haus des Reichen Teufels war.
Realer Hintergrund: Solche Sagen entstanden oft um reale, aber unerklärlich reiche Personen. Der Neid der Dorfbewohner und die Unfähigkeit, sich den Reichtum anders zu erklären, führten dann zur Dämonisierung und zur Entstehung einer Teufelspakt-Geschichte.
Moral: Wie viele Sagen hat auch diese eine klare moralische Botschaft: Unmoralisch erworbener Reichtum führt ins Verderben, und am Ende holt einen die eigene Schuld ein.
Es ist eine typische und gruselige Sage aus der Region, die zeigt, wie sehr der Aberglaube und die dörfliche Sozialkontrolle im ländlichen Schwaben früher verwurzelt waren.
Der Pakt war, dass er weder eine gute Tat vollbringen noch eine Kirche betreten durfte. Als er einmal einer Hochzeitsgesellschaft in einem Unwetter Schutz gewährte, war dies seine erste gute Tat – und der Teufel holte ihn augenblicklich. Man sagt, er riss ein großes Loch in die Hauswand, als er den Bauer in die Hölle zerrte
Die Sage vom Gueteret Weible von Böttingen
Das "Guteret Weible" (auch "Guteretweible") war der gute, hilfsbereite Geist von Böttingen und das genaue Gegenstück zum "Reichen Teufel". Sein/ihr Name leitet sich vom Schwäbischen "guet" ("gut") ab und bedeutet so viel wie "die Gütige". Die Erscheinung des Weibleins war an einen ganz bestimmten Ort gebunden: das Gewann "Gutert" (von dem sein Name "Guteret Weible" ableitet).
Wenn ein Bauer mit seinem Pferdegespann in diesem Flurstück "Gutert" unterwegs war und sich in einer verzweifelten Lage befand – übermüdet, überfordert oder in Sorge –, dann konnte es geschehen, dass sich das Weiblein plötzlich und ungesehen zu ihm auf die Pritsche (den Aufsitz des Wagens) setzte.
Diese Erscheinung war kein Schrecken, sondern ein tröstliches Zeichen. Sie signalisierte dem Bauer, dass er nicht allein war und Hilfe da war. Die Anwesenheit des Weibleins gab ihm neuen Mut oder war das Vorzeichen dafür, dass sich seine Not wundersam lösen würde.
Das Guteret Weible und der verduzte Bauer
Die Herbstsonne warf lange Schatten über das Gewann Gutert. Sie tauchte die abgeernteten Felder in ein mattes Gold und ließ die kühle Abendluft frösteln machen. Bauer Konrad, allein auf dem Kutschbock seines Leiterwagens, spürte beides nicht. In ihm war nur eine bleierne Müdigkeit und eine nagende Sorge, die schwerer wog als die letzte Fuhre Kartoffeln hinter ihm.
Es war ein hartes Jahr gewesen. Der Frühling zu nass, der Sommer zu trocken. Die Ernte war karg ausgefallen und die Schulden beim Bauern von Böttingen drückten ihn wie ein Mühlstein. Heute hatte er die letzte der kümmerlichen Feldfrüchte verkauft, und das Geld in seiner Lederhosentasche reichte bei Weitem nicht. Sein Pferd, der alte Schimmel, trottete müde der Heimat entgegen, seinen Hufschlag ein gleichgültiger Takt der Resignation.
„Was soll nur werden?“, murmelte Konrad vor sich hin, die Zügel schlaff in den Händen. Der Gedanke an die sorgenvollen Blicke seiner Frau, an die hungrigen Augen der Kinder schnürte ihm die Kehle zu. Er war „verduzt“ – im Schwäbischen Sinn dieses Wortes: zermürbt, verzagt und am Ende seiner Kraft. Der Weg zog sich hin, die Dunkelheit kroch aus den Hecken, und mit ihr die Hoffnungslosigkeit.
Da, zwischen Müdigkeit und Verzweiflung, spürte er es plötzlich mehr, als dass er es sah: eine leichte Verlagerung des Wagens, ein kaum hörbares Knarren der Holzpritsche. Er drehte den Kopf.
Und da saß es.
Klein und eingemummt in ein Tuch, das wie grauer Nebel schimmerte, auf der Pritsche neben ihm. Es war keine furchterregende Erscheinung, nur ein stilles, altes Mütterchen mit Augen, die so tief und ruhig waren wie der Tümpel im Wiesengrund. Es sagte kein Wort, schaute ihn nur an, und in diesem Blick lag kein Mitleid, sondern eine tiefe, stille Gewissheit.
Konrads erster Schrecken verebbte so schnell, wie er gekommen war. Er wusste sofort, wer da bei ihm saß. Die Großmutter hatte davon erzählt, die alten Männer beim Schnapsen. Das Guteret Weible. Der gute Geist vom Gewann Gutert.
„Na also“, flüsterte er statt einer Begrüßung, und seine Stimme brach.
Das Weiblein nickte, kaum merklich. Sie fuhren schweigend weiter, der Atem des Schimmels bildete kleine Wölkchen in der nun kalten Luft. Doch etwas begann sich in Konrad zu verändern. Die lähmende Last auf seinen Schultern schien leichter zu werden. Die Sorge wich nicht, aber sie verlor ihren erdrückenden Schrecken. Die stille, gelassene Anwesenheit des Weibleins auf der Pritsche füllte die Leere in ihm mit einem seltsamen Frieden. Es war, als teile es seine Last, einfach nur durch sein Dasein.
Als die Lichter der ersten Häuser von Böttingen zwischen den Bäumen aufblinkten, spürte Konrad eine Hand auf seiner Schulter. Eine leichte, fast gewichtlose Berührung. Er fuhr herum, aber die Pritsche neben ihm war leer. Das Weiblein war fort, so still, wie es gekommen war.
Er schüttelte den Kopf, ein wunderliches Gefühl im Herzen. War es nur Einbildung gewesen? Die Wärme der Berührung auf seiner Jacke fühlte sich jedoch noch echt an.
Zu Hause, im Schein der Petroleumlampe, zögerte er einen Moment, bevor er die magere Börse zückte und den Inhalt auf den Küchentisch schüttete. Seine Frau sah ihn sorgenvoll an.
Doch dann geschah das zweite Wunder dieser Nacht. Konrad griff in die Tasche seiner Weste und zog eine Handvoll Taler hervor, die er dort nicht vermutet hatte. Silberne, blanke Münzen, die er nie zuvor gesehen hatte. Staunend breitete er sie auf dem Holz aus. Es war genau die Summe, die fehlte, um die dringendsten Schulden zu begleichen und den Winter zu überstehen.
Seine Frau starrte ihn ungläubig an. „Konrad? Woher…?“
Da erzählte er es. Von der Verzweiflung auf der Fahrt. Von der Erscheinung auf der Pritsche im Gewann Gutert. Von der stillen Gesellschaft und der leichten Berührung.
Seine Frau, eine nüchterne Frau, die an Wunder kaum glaubte, schaute ihn lange an. Dann legte sie ihre Hand auf die seinen und sagte leise: „Das Guteret Weible. Es ist denen nahe, die reinen Herzens sind und nicht aufhören zu kämpfen. Es gibt keinen Reichtum, aber genug, um weiterzugehen.“
Konrad nickte. Er wusste, dass der „Reiche Teufel“ seines Dorfes für seinen Geiz mit der Hölle bezahlt hatte. Das Guteret Weible aber belohnte die, die am Ende waren, aber nicht aufgaben. Es schenkte keine Schätze, sondern etwas viel Wertvolleres: Mut in der Verzweiflung und genau das, was man brauchte, um den Weg weiterzugehen.
Und manchmal, an besonders kalten Abenden, wenn er spät durch das Gewann Gutert fuhr, hoffte er, das leise Knarren der Pritsche zu hören und die stille, gütige Gegenwart an seiner Seite zu spüren.
Die Sage vom Götzenaltar von Böttingen 1. Sage
In uralten Zeiten, lange bevor das Christentum in diese Landschaft kam, siedelte auf der Höhe der Alb bei Böttingen ein germanischer Stamm. Mitten auf einer Waldlichtung, auf einer Anhöhe mit weitem Blick über das Land, lag ein gewaltiger Felsblock. Dieser Stein war ihr heiligster Platz – ihr Götzenaltar und Richtstein.
Auf diesem Stein nahm der Stammesälteste, der weise und gerechte Richter des Volkes, Platz, wenn es galt, über Streit zu entscheiden, schwere Urteile zu fällen oder den Stamm in kriegerischen Zeiten zu lenken. Der Stein war das Symbol seiner unantastbaren Autorität und der göttlichen Ordnung, die das Volk zusammenhielt.
Doch eines Tages wurde das Volk von einem schlimmen Unglück heimgesucht. Die Ernte verdorrte, Vieh erkrankte und Feinde drangen in ihr Gebiet ein. Alles deutete auf Verrat hin. Jemand musste dem Feind die Schwächen des Stammes verraten haben. Die Wut und Verzweiflung im Volk wuchsen, und man versammelte sich um den heiligen Stein, um den Schuldigen zu finden und zu richten.
Der Stammesälteste, zutiefst erschüttert, führte die Verhandlung. Was das Volk nicht wusste: Er kannte die Wahrheit. Er wusste, dass sein eigener Sohn, von Neid und Machtgier getrieben, der Verräter war. Von blind Vaterliebe getrieben, begann der Alte ein verzweifeltes Spiel. Er lenkte den Verdacht auf unschuldige Männer, verdrehte Beweise und nutzte seine ganze Weisheit, um nicht Recht, sondern seinen Sohn zu sprechen.
Doch die Wahrheit, wie ein unaufhaltsamer Fluss, bahnte sich ihren Weg. Ein Zeuge trat auf, ein Beweisstück wurde gefunden – die Schuld des Sohnes war nicht länger zu leugnen. Als das Volk erkannte, dass nicht nur der Sohn ein Verräter, sondern auch der Vater, ihr oberster Richter, sie alle betrogen hatte, um den Verrat zu decken, brach ein Sturm der Entrüstung los.
Die heilige Ordnung war doppelt gebrochen. In blindem Zorn übermannte die Menge ihre jahrhundertealte Ehrfurcht. Sie stürmte den heiligen Felsen, zerrte den Sohn und den Vater von ihrem Thron und erschlug beide auf dem Stein, der einst ihre Gerechtigkeit symbolisierte.
Das Vermächtnis des Steins:
Man sagt, dass der Geist des Stammesältesten keine Ruhe findet. Seine Seele ist zwischen Pflicht und Liebe zerrissen. In manchen Nächten, so die alte Sage, kann man seine gespenstische Gestalt auf dem Felsen sitzen sehen – nicht als richtender Herrscher, sondern als ewiger, klagender Wächter über den Ort seines Verrates und seines Untergangs. Der Stein selbst aber, der Götzenaltar, trägt seit jenem Tag eine dunkle, unauslöschliche Schuld in sich.
e Sage vom Götzenaltar von Böttingen 2. Sage
Die zweite Sage vom Opferstein: Der Vater-Sohn-Kampf
An derselben Stätte, dem uralten Steinaltar, der schon Zeuge von Verrat und Gericht geworden war, sollte sich Jahre später eine weitere Tragödie abspielen, die noch tiefer ins Herz der menschlichen Natur griff.
In dem Stamm, der an diesem Ort lebte, geschah etwas Unerhörtes: Sowohl der Vater, ein angesehener und erfahrener Krieger, als auch sein Sohn, in der Blüte seiner Jugend, verliebten sich aufs Heftigste in dasselbe Mädchen. Die Eifersucht, die zwischen ihnen aufkeimte, war so mächtig, dass sie das Band der Familie zu zerreißen drohte. Statt in der Sippe Eintracht zu halten, vergiftete der Streit das Leben aller.
Weder Bitten noch Vernunft konnten einen der beiden Männer umstimmen. Da riefen die Ältesten des Stammes das höchste und unumstößliche Urteil an: das "Gottesurteil". Der Wille der Götter sollte auf dem heiligen Stein entscheiden. Die Regel war grausam und eindeutig: Vater und Sohn mussten einen Zweikampf auf Leben und Tod bestehen. Der Sieger würde das Mädchen zur Frau nehmen; der Besiegte, sollte er überleben, müsste den Stamm für immer verlassen.
Am Tag des Urteils versammelte sich das ganze Volk um den düsteren Felsen. Unter einem bleiernen Himmel traten Vater und Sohn, einst Verbündete, nun zu einem erbarmungslosen Kampf gegeneinander an. Es war ein schrecklicher Anblick: Nicht wilder Zorn, sondern eine trostlose, eiserne Pflicht trieb sie an.
Der Kampf war lang und erbittert. Die Jugend und Schnelligkeit des Sohnes stieß auf die Erfahrung und List des Vaters. Schließlich, in einer entscheidenden Wendung, gelang es dem Sohn, seinen Vater zu überwältigen und traf ihn mit einem tödlichen Hieb.
Der Vater brach zusammen, sein Leben rann aus ihm dahin. Doch als er seinen siegreichen Sohn über sich stehen sah, packte den Sterbenden eine letzte, verzweifelte Kraft. Mit dem letzten Atemzug schleuderte er den verborgenen Wurfdolch, den er in seiner Hand gehalten hatte. Die Klinge traf den Sohn mit tödlicher Genauigkeit.
Noch ehe dieser das Mädchen in seine Arme schließen konnte, brach er tödlich getroffen neben seinem Vater zusammen.
Das Vermächtnis des Steins:
An diesem Tag verlor der Stamm zwei seiner tapfersten Männer nicht durch Feindeshand, sondern durch das eigene, unbezähmbare Herz. Man sagt, dass der Opferstein an diesem Tag seine Unschuld für immer verlor. Seit dieser doppelten Untat des Sohnes- und Vatermordes ist er nicht länger nur ein Ort des Gerichts, sondern auch ein Ort des Fluches, an dem die dunkelsten Leidenschaften – Eifersucht, Verblendung und die Zerstörung der Familie – ihren blutigen Tribut forderten.
Die Geister von Vater und Sohn, so die Sage, finden bis heute keine Ruhe. In stürmischen Nächten soll man das Klirren ihrer Waffen und ihre verzweifelten Rufe um den Felsen herum hören, eine ewige Mahnung, wohin ungezügelte Leidenschaft führt.
Die Sage vom versteinerten Riesen
Vor so langer Zeit, dass sich nicht einmal die ältesten Eichen im Lippachtal mehr daran erinnern können, war die Gegend um das heutige Böttingen nicht von Menschen, sondern von Riesen bewohnt. Sie lebten friedlich in den tiefen Wäldern und den weiten Tälern, und der größte und stärkste unter ihnen war ein Riese namens Nikolaus.
Nikolaus war von Herzen gut, aber einsam. Während die anderen Riesen in lauten Gemeinschaften lebten, zog er die Stille des Lippachtales vor. Er beschützte die Tiere, liebte den Gesang der Vögel und unterhielt sich mit den rauschenden Bächen. Sein größter Wunsch war es, nicht mehr allein zu sein.
Eines Tages, als die Abendsonne die Felsen golden färbte, hörte er ein fremdes Geräusch – nicht das Knacken eines Baumes unter einer Riesenfaust, nicht das Tosen eines Bären, sondern ein zartes, ängstliches Weinen. Er folgte dem Klang und fand, versteckt zwischen den Wurzeln einer uralten Tanne, eine Menschenfrau. Sie war verletzt und hatte sich verirrt.
Vorsichtig, um sie nicht zu erschrecken, hob Nikolaus sie mit beiden Händen auf, so behutsam, als würde er einen Schmetterling heben. Er trug sie zu seiner geschützten Schlafstelle am Eingang des Lippachtales, wo er sie mit Heilkräutern versorgte und mit Blättern warm zudeckte. Jeden Tag brachte er ihr Beeren, Nüsse und frisches Quellwasser. Die Frau, die den Mut hatte, sich in die Augen eines Riesen zu sehen, erkannte die Güte in seinem Herzen. Sie lehrte ihn die Sprache der Menschen, und zwischen ihnen wuchs eine tiefe Freundschaft.
Doch die anderen Riesen sahen diese Verbindung mit Missgunst. "Er hat sich mit den Winzlingen eingelassen!", riefen sie. "Er ist nicht mehr einer von uns!" Der Anführer der Riesen, eifersüchtig auf Nikolaus‘ Stärke, sah in dieser Freundschaft einen Verrat. Er forderte Nikolaus auf, die Menschenfrau zu opfern, um seine Treue zu den Riesen zu beweisen.
Das aber konnte und wollte Nikolaus nicht tun. "Sie ist unter meinem Schutz!", donnerte er seine Antwort durch das Tal, dass die Felsen bebten. "Ihr werdet ihr kein Leid zufügen!"
Da entbrannte ein gewaltiger Kampf. Die anderen Riesen warfen Felsbrocken von den Gipfeln, sie rissen Bäume aus und schwangen sie wie Keulen. Nikolaus, an Kraft allen überlegen, stellte sich schützend vor den Eingang des Lippachtales, wo die Menschenfrau Zuflucht gefunden hatte. Er parierte die Schläge, fing die Felsen auf und hielt die ganze wütende Horde auf Distanz. Der Kampf tobte die ganze Nacht, bis der Morgen graute.
Als die erste Sonnenstrahl über die Hügel kroch, traf der Anführer der feindlichen Riesen eine Entscheidung voller Hass. Er rief die uralte, dunkle Magie der Erde, einen Fluch, den sie nur im äußersten Zorn anwandten. "Wenn du dich so sehr an diese Erde und ihre kleinen Geschöpfe klammerst", brüllte er, "dann sollst du für immer ein Teil von ihr sein!"
Ein blendendes, weißes Licht umhüllte Nikolaus. Er spürte, wie seine Glieder schwer wurden, wie seine Haut sich kalt und rau anfühlte. Sein kämpfender Körper erstarrte, sein gutes, einsames Herz verwandelte sich in Stein. Wo eben noch der mächtige Riese gestanden hatte, ragte nun ein gewaltiger, in sich gekehrter Felsen empor – die Gestalt des Nikolaus, für immer versteinert.
Die anderen Riesen, erschöpft und erschrocken über den Fluch, den sie heraufbeschworen hatten, zogen sich zurück und wurden nie wieder gesehen.
Die Menschenfrau aber überlebte. Traurig und dankbar zugleich kehrte sie zu ihrem Volk zurück und erzählte von der Güte und dem Opfer des Riesen. Die Menschen, tief bewegt, nannten den Felsen fortan zu seinen Ehren den Nikolausfelsen.
Noch heute steht er am Dorfende von Böttingen, Wächter am Eingang zum Lippachtal. Manchmal, wenn die tiefstehende Wintersonne seine Konturen in goldenes Licht taucht, meint man, die Güte in seinem steinernen Herzen zu spüren. Und die alten Leute im Dorf sagen, in stillen Nächten, wenn der Wind durch die Täler fegt, sei es nicht der Wind, den man hört, sondern der sehnsüchtige Atem des Riesen Nikolaus, der für immer über das Tal wacht, das er so sehr liebte.
Die Sage vom Roten Morgen zu Böttingen
Im Osten von Böttingen, dort, wo die Sonne ihre ersten Strahlen über die kargen Höhen der Schwäbischen Alb schickt, liegt das Gewann "Roter Morgen". Sein Name kommt nicht von ungefähr, denn die ersten Sonnenstrahlen färben den Boden dort nicht golden, sondern oft in ein unheimliches, fast blutiges Rot. Die Alten im Dorf wissen warum.
Vor vielen Generationen, als die Menschen in Böttingen noch um jedes Stück fruchtbaren Bodens kämpfen mussten, lebte auf dieser Höhe ein einsamer Bauer namens Albrecht. Sein Land war steinig und karg, die Ernten waren mager, und die Not trieb ihm oft die Verzweiflung ins Herz. Doch er gab nicht auf und schuftete von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang.
Eines Nachts, in einer Zeit großer Dürre, als das Korn auf den Halmen verdorrte und die Erde rissig war, konnte Albrecht nicht schlafen. Von Sorge um seine Familie geplagt, stieg er noch im Dunkeln zur höchsten Kuppe seiner Felder, um zu beten. Er flehte um Regen, um eine einzige gute Ernte, die seine Lieben retten würde.
Doch statt auf den gnädigen Gott, rief er in seiner Verzweiflung unbewusst die alten Mächte der Erde an – jene Wesen, die schon hier hausten, lange bevor die ersten Menschen kamen. Und die Erde antwortete.
Plötzlich brach aus der Mitte seines Feldes ein glutrotes Licht hervor. Der Boden öffnete sich, und eine gewaltige, feurige Gestalt erhob sich – der Geist des Albvulkans, ein mächtiger Erd-Dämon, den die Menschen längst vergessen glaubten. Seine Haut war wie glühende Lava, und seine Augen funkelten wie Kohlen.
"Du hast gerufen, Sterblicher", dröhnte es, und die Hitze ließ die Luft flirren. "Ich kann dein Land die Fruchtbarkeit von hundert Jahren schenken. Deine Ernte wird die reichste sein, die je ein Mensch gesehen hat."
Albrecht, zitternd vor Furcht und Hoffnung, stammelte: "Und... was willst du im Gegenzug?"
Der Dämon lachte, ein Geräusch wie berstendes Gestein. "Nichts, was du nicht geben kannst. Das erste Licht des nächsten Morgens soll mir gehören. Das Licht der aufgehenden Sonne an diesem Ort wird fortan mein sein – für immer."
In seiner grenzenlosen Not willigte Albrecht ein. Der Dämon versank lachend in der Erde, und noch in derselben Nacht brach ein sanfter, segensreicher Regen vom Himmel.
Am nächsten Morgen, als die Sonne aufging, eilte Albrecht auf sein Feld. Und er erstarrte. Die ersten Strahlen der Sonne, die auf seine Äcker fielen, waren nicht golden, sondern tiefrot, wie getränkt in Blut. Das Licht war unheimlich und kalt, obwohl es hell war. Der Boden unter diesem roten Licht aber war tatsächlich verwandelt – dunkel, fett und fruchtbar, und schon sprossen die jungen Halme in einer Geschwindigkeit, die nicht natürlich war.
Die Ernte wurde phänomenal, wie versprochen. Albrecht und seine Familie waren gerettet. Doch mit dem Wohlstand kam die Angst. Denn jeden Morgen, wenn die Sonne aufging, fiel dieses gleißend rote, tote Licht auf die Felder. Es war ein ständiger, bedrohlicher Hinweis auf den Pakt. Die Vögel mieden das Gebiet in der Morgendämmerung, und die Menschen mieden es ganz.
Albrecht wurde von Reue geplagt. Er hatte nicht nur das Morgenlicht verkauft, sondern auch die Seele dieses Ortes. Er starb als reicher, aber gebrochener Mann.
Seit jenem Tag gehört das erste Licht der Morgensonne an diesem Ort dem Dämon. Es leuchtet rot, nicht als Zeichen der Fruchtbarkeit, sondern als Warnung. Eine Warnung davor, welchen Preis man bereit ist zu zahlen, und eine Erinnerung daran, dass es Kräfte gibt, die älter und mächtiger sind als die Not der Menschen.
Und so nennen die Böttinger die Fläche bis heute den "Roten Morgen". Manche sagen, in der Dämmerung könne man immer noch die glühende Silhouette des Erd-Dämons sehen, wie er sein erkauftes Licht einsammelt. Und die Bauern, die dort heute ihr Getreide anbauen, wissen, dass der Boden zwar gut ist, aber die Ernte immer mit einem seltsamen, unerklärlichen Gefühl der Beklemmung verbunden ist, wenn die Morgensonne ihn in ihr gespenstisches Rot taucht.
Die Sage vom Holzfäller Valentin zu Böttingen
Hoch oben über Böttingen, dort wo der Wind ungehindert über die Höhen pfeift und die Aussicht weit ins Land reicht, liegt das Gewann "Galgen". Heute ist er vollständig bewaldet, doch einst war er kahl und ragte als mahnende Silhouette gegen den Himmel. An diesem Ort, so wird erzählt, stand einst der Galgen der Grafschaft, weithin sichtbar für alle, die sich den Gesetzen von Gott und den Menschen widersetzten. Doch nicht die Gerechtigkeit allein gab diesem Ort seinen unheimlichen Ruf, sondern die Begebenheit um einen Mann namens Valentin.
Valentin war einst ein angesehener Holzfäller in Böttingen, bekannt für seine Kraft und seinen Fleiß. Doch er war auch jähzornig und ließ sich leicht von Eifersucht und Groll verzehren. Als sein jüngerer Bruder Konrad die Hand der Frau gewann, die Valentin selbst begehrte, kochte etwas Dunkles in ihm hoch. Bei einem Streit im Wald, von niemandem gesehen, erschlug er seinen Bruder im Affekt mit seiner Axt.
Die Tat blieb nicht unentdeckt. Valentin wurde gefasst, vor Gericht gestellt und zum Tode durch den Strang verurteilt. Doch als man ihn zum Galgen auf den Berg führte, zeigte er keine Reue. Statt um Vergebung zu flehen, verfluchte er den Richter, den Henker und selbst Gott. Seine letzten Worte, bevor die Falltür unter ihm aufklappte, waren: "So wahr meine Seele keine Ruhe findet, so soll auch dieser Ort niemals Frieden kennen!"
Man verscharrte seinen Körper in ungeweihter Erde am Fuße des Galgens. Doch mit Valentins Tod begann der Schrecken erst.
Bald schon mieden die Hirten ihre Schafe in der Dämmerung auf den Berg zu treiben. Die Tiere wurden unruhig, und die Hunde knurrten in die leere Luft. Die Wachen, die nachts in der Nähe des Galgens postiert waren, um die Leichen vor Dieben zu schützen, berichteten von seltsamen Geräuschen – ein schweres, röchelndes Atmen, das aus dem Boden unter dem Galgen zu kommen schien, und das Klappern von unsichtbaren Ketten.
Doch das Schlimmste geschah in den Nächten des Vollmonds. Dann, so erzählten sich die Menschen mit ängstlichen Blicken, sei die Geistergestalt des Valentin zu sehen. Nicht als durchsichtiger Schatten, sondern als dunkle, massige Silhouette, die den Galgen umkreiste. Manchmal schien sie zu versuchen, den Galgenstrick zu zerreißen, der nur noch als gespenstisches Seil in der Luft hing. Ein eisiger Hauch ging von der Erscheinung aus, und wer sie auch nur aus der Ferne sah, den überkam eine lähmende Angst und eine tiefe Traurigkeit.
Der Galgenberg wurde zu einem Ort, den man mied. Die Vögel mieden die Bäume in seiner Nähe, und die Pflanzen schienen kümmerlicher zu wachsen. Selbst die Justizherren zögerten, dort weitere Hinrichtungen durchzuführen, aus Furcht, den Fluch noch zu verstärken.
Erst als der Galgen nach vielen Jahren verfiel und man ihn schließlich abriss, legte sich der Schrecken allmählich. Der Geist des Valentin fand seine Ruhe, als das Werkzeug seiner Schande und seines Hasses nicht länger den Himmel berührte.
Doch bis heute sagt man in Böttingen, der Westwind, der über den Galgenberg fegt, klinge manchmal nicht wie Wind, sondern wie ein fernes, unerlöstes Stöhnen. Und in klaren Vollmondnächten, so behaupten einige, werfe der karge Platz, wo einst der Galgen stand, immer noch einen Schatten, obwohl dort nichts mehr steht, das einen werfen könnte. Ein Schatten, der aussieht wie ein Mann am Seil – eine ewige Warnung vor der zerstörerischen Macht von unbeherrschtem Zorn und einem Herzen ohne Reue.
Die Sage von der weißen Frau in der Rappenhalde
Südlich von Böttingen, in Richtung des Dreifaltigkeitsberges, liegt das Gewann „Rappenhalde“. Es ist der alte Weg, den seit jeher die Böttinger Bauern mit ihren Pferdegespannen nahmen, um nach Spaichingen zum Markt zu gelangen. Der Weg ist steil und steinig, und wer ihn kennt, weiß, dass die Pferde hier besonders viel Kraft aufwenden müssen. Doch es gibt eine Stelle, eine scharfe Kurve an einem besonders abschüssigen Abhang, an der die Pferde unweigerlich scheuen und zur Seite zucken, selbst an einem stillen, windlosen Tag. Die alten Bauern nicken dann nur wissend und flüstern dem erschrockenen Fuhrmann zu: „Zuckt der Rappe? Da ist sie wieder. Die Weiße Frau der Rappenhalde.“
Vor vielen Generationen lebte in Böttingen eine Magd namens Elsa. Sie war Waise, von schlichter Schönheit und arbeitete für einen hartherzigen Bauern, der sie mehr als sein Vieh schlug. Elsas einzige Freude und ihr ganzer Trost war ein stolzer Rappenhengst, den sie heimlich pflegte und liebkoste. Das Pferd war das einzige Wesen auf dem Hof, das ihr Zuneigung entgegenbrachte, und sie flüsterte ihm all ihre Sorgen und ihren größten Wunsch zu: der Armut und der Tyrannei zu entfliehen.
Eines Nachts, in einer sternenklaren Herbstnacht, als der Bauer sie wiederum unbarmherzig geschlagen hatte, fasste Elsa einen verzweifelten Entschluss. Sie schlich sich in den Stall, sattelte den Rappen und floh. Ihr Ziel war Spaichingen, wo sie sich eine neue Existenz zu erhoffen wagte. Sie kannte den Weg über die Rappenhalde, denn sie hatte ihn oft genug mit dem Fuhrwerk ihres Herrn zurückgelegt.
Doch der Bauer bemerkte die Flucht schneller, als sie gedacht hatte. Wutentbrannt folgte er ihr mit seinem Söhnen. Elsa, die das Hufgetrampel der Verfolger hörte, trieb den Rappen zu höchster Eile an. Der Weg war gefährlich, und der Mond warf tückische Schatten. Als sie die scharfe Kurve an der steilsten Stelle erreichte, geschah das Unglück. Ein losgerollter Stein, die hohe Geschwindigkeit, die panische Angst – der Rappe stolperte, bäumte sich auf und stürzte mit Elsa im Sattel den Abhang hinab.
Die Männer fanden sie kurz darauf. Das Pferd war tot, und Elsa lag, nur noch ein Hauch von Leben in ihr, daneben. Mit ihrem letzten Atem flüsterte sie einen Fluch: „So wie ich hier sterbe, einsam und verlassen, so soll fortan kein Pferd, das diesen Weg passiert, je wieder Frieden finden an dieser Stelle. Mein Geist wird hier wachen, bis ein Pferd so reinen Herzens ist wie meiner Rappe, dass es mich erlöst.“
Seit dieser Nacht geht die Weiße Frau der Rappenhalde um. Sie erscheint nicht als furchterregende Gestalt, sondern als blasse, traurige Erscheinung in zerrissenen Kleidern, die am Rand des Abgrunds steht und nach ihrem Pferd sucht. Ihre Gegenwart ist nicht böse, aber von einer so tiefen Traurigkeit und Verlorenheit erfüllt, dass die Pferde sie instinktiv spüren. Sie wittern den Tod, den gebrochenen Willen und die unerlöste Seele – und sie scheuen.
Die Bauern von Böttingen wissen um die Sage. Sie sprechen, wenn sie die gefährliche Kurve passieren, ein stilles Gebet für die arme Seele der Elsa. Und manchmal, wenn der Nebel vom Dreifaltigkeitsberg herabsteigt und sich in der Rappenhalde festsetzt, meinen einige, eine schluchzende Stimme zu hören und das dumpfe, geisterhafte Wiehern eines Pferdes, das seinen Weg in die Freiheit nie fand.
Die Sage vom Köhler"Kochel" zu Böttingen
Südwestlich von Böttingen, dort wo früher die Wälder dichter und die Pfade steiniger werden, erhebt sich der Kochelsberg. Sein Name kommt nicht, wie man meinen könnte, von einem friedlichen Bauern, sondern von einem Mann, den die Menschen nur den "Kochel" nannten - und vor dem sie sich fürchteten.
Vor vielen Generationen, als in den Tälern noch Wölfe heulten und die Menschen das Feuer mehr fürchteten als verehrten, lebte auf jenem Berg ein eigenbrötlerischer Köhler. Sein wahrer Name war längst vergessen. Alle kannten ihn nur noch "Kochel", was so viel wie "der kleine Koch" oder einfach "der Seltsame, der da kocht" bedeutete.
Denn Kochel tat mehr, als nur Holzkohle in seinem qualmenden Meiler zu brennen, der stets eine trübe, gelbliche Rauchfahne über den Berg wehen ließ. In einer windschiefen Hütte, abseits der Glut, standen seltsam geformte Gefäße und irdene Tiegel. Dort kochte, brodelte und rauchte es unentwegt. Kochel, so munkelten die Dorfbewohner, koche keine Suppen, sondern mische Tränke und Tinkturen aus Kräutern, die bei Nacht gesammelt waren, und Wurzeln, die an Kreuzwegen wuchsen.
Man flüsterte sich zu, er könne mehr als nur Kohle brennen. Seine Tränke, hieß es, könnten Wunden heilen, die kein Kraut mehr schließen konnte. Aber sie könnten auch das Herz eines Menschen so kalt machen wie Stein, wenn man ihm einen Tropfen davon ins Bier mischte. Er habe einen Pakt mit den Mächten des Feuers und der Erde, die ihm ihre Geheimnisse verrieten.
Die Kinder wurden ermahnt, sich ja nicht dem Kochelsberg zu nähern, wenn die Dämmerung hereinbrach. Denn dann, so hieß es, sei der Alchimist am Werk. Dann warf seine Gestalt zuckende Schatten gegen die Fensterläden seiner Hütte, und manchmal sah man ein unheimlich grünes oder bläuliches Licht aus den Ritzen dringen. Der Geruch, der dann vom Berg wehte, war nicht der von Holzrauch, sondern beißend und fremd, nach verbrannten Kräutern und etwas Metallischem.
Eines schneereichen Winters brach im Dorf ein hartnäckiges Fieber aus. Der Arzt und die Kräuterweiblein waren machtlos. In ihrer Verzweiflung schickten die Dorfältesten eine Abordnung den vereisten Berg hinauf, um Kochel um Hilfe zu bitten. Sie fanden ihn vor seinem rauchenden Meiler, wie immer in seinen rußgeschwärzten Lumpen.
Schweigend hörte er sie an. Ohne ein Wort zu erwidern, verschwand er in seiner Hütte und kam mit einer kleinen, dunklen Flasche wieder heraus. "Gebt jedem Erkrankten einen Tropfen in Milch", knurrte er und schickte sie fort.
Das Wunder geschah: Das Fieber wich, und die Kranken genesen. Doch die Dankbarkeit der Dorfbewohner war von Furcht getrübt. Denn die Geretteten berichteten, sie hätten in ihrem Fieberwahn seltsame Dinge gesehen – Bilder von flüssigem Feuer und eine Gestalt, die in den Flammen stand, ohne zu brennen.
Von diesem Tag an mied man den Kochelsberg mehr denn je. Man nahm seine Hilfe an, wenn die Not zu groß war, aber man lud ihn nie ins Dorf ein. Man fürchtete die Macht, die er besaß, mehr als man sie schätzte.
Eines Morgens im frühen Frühling war der Rauch über dem Berg verschwunden. Der Meiler war erloschen. Als man sich nach Tagen des Schweigens hinauf traute, fand man die Hütte verlassen vor. Kochel war spurlos verschwunden. Nur ein seltsam geformter, schwarzer Stein lag in der Mitte der leeren Hütte, warm, als käme die Wärme von innen.
Man ließ die Hütte verfallen und den Wald sich das Land zurückholen. Doch den Namen behielt der Berg. Noch heute sagen die Alten in Böttingen, in sternklaren Nächten sei manchmal ein schwaches, grünliches Leuchten über der Kuppe des Kochelsbergs zu sehen. Und wer ganz still ist und den Wind von Westen abwartet, der meint, den beißenden Geruch von uralten Kräutern und glühender Kohle zu riechen – das Vermächtnis des Kochel, des Alchimisten des Berges, der das Feuer beherrschte und doch von den Menschen nie verstanden wurde.
In den sanften Hügeln des Heubergs, zwischen Böttingen und dem weiten Himmel, lag einst das Dörflein Allenspach. Es war ein friedlicher Ort, wo das Lachen der Kinder vom Brunnen hallte und der Duft von frischem Brot aus den Backöfen stieg. Im Herzen des Weilers stand eine kleine Kapelle, und in ihrem Türmchen hing eine Glocke, deren Klang so rein und hell war, dass die Bauern sagten, sie rufe die Engel selbst zum Gebet.
Doch dann kam der große Krieg, der dreißig Jahre währen sollte. Der Friede wich einer ständigen, nagenden Angst. Immer wieder zogen marodierende Söldnertrupps durch die Lande, brandschatzend und mordend. Die Menschen von Allenspach lebten in steter Sorge, beteten in der Kapelle und hofften, dass der Zorn des Krieges sie verschonen möge.
Eines Tages, als der Herbstnebel wie ein Leichentuch über den Feldern lag, kam die schlimme Kunde: Ein Haufen versprengter, verrohter Söldner sei im Anmarsch, habe bereits ein Gehöft in der Nachbarschaft niedergebrannt. Panik brach aus in Allenspach. Die Familien flohen hastig, nahmen nur das Nötigste mit und versteckten sich in den dichten Wäldern des Buchbergs. Nur der alte Glöckner, ein Mann namens Konrad, weigerte sich zu gehen. Seine Familie war in Sicherheit, aber er fühlte sich der Kapelle und ihrer Glocke verpflichtet.
"Die Glocke darf nicht in die Hände dieser Gottlosen fallen," murmelte er, "sie ist die Seele unseres Dorfes."
Während die ersten Rauchsäulen am Horizont aufstiegen und das Dröhnen von Pferdehufen näher kam, stieg Konrad in den engen Turm hinauf. Er wusste, dass er die Glocke nicht retten konnte. Aber er konnte verhindern, dass die Feinde sie als Siegestrophäe entweihten oder einschmolzen, um daraus Kanonenkugeln zu gießen. Mit letzter Kraft und unter Tränen lockerte er die Halterung der schweren Glocke. Mit einem letzten, dumpfen Seufzer stürzte sie herab und vergrub sich im Boden des Glockenstuhls.
Kurz darauf erreichte die Horde den Weiler. Sie fanden ihn leer und still vor. Wütend durchsuchten sie die Häuser, fanden aber wenig von Wert. Als sie die Kapelle stürmten, war auch der Glockenturm leer. Wutentbrannt zündeten sie die Häuser und die Kapelle an. Das Feuer fraß sich gierig durch das Fachwerk, und bald war nichts mehr als ein rauchender Trümmerhaufen, wo einst das lebendige Allenspach gestanden hatte.
Als die Bewohner nach Tagen zaghaft aus dem Wald zurückkehrten, bot sich ihnen ein Bild des Grauens. Nur Schutt und Asche. Und eine unheimliche Stille. Die Glocke war verstummt, für immer, so glaubten sie.
Doch die Legende erzählt, dass es nicht für immer war.
In manchen stillen Nächten, besonders wenn der Nebel vom nahenden Winter über die Felder von Allenspach kriecht, soll es geschehen: Wenn der Vollmond hinter den Wolken hervortritt und sein bleiches Licht auf die verwischten Grundmauern des alten Weilers wirft, dann kann man ihn hören – einen einzigen, tiefen, vibrationsreichen Glockenton. Es ist kein lautes Läuten, sondern mehr ein Beben in der Luft, ein Seufzer, der aus der Erde selbst aufzusteigen scheint.
Die Alten sagen, es sei die Seele der Glocke, die noch immer unter den Ruinen begraben liegt. Sie läute nicht für die Lebenden, sondern für die Toten – für all jene, die in jener schrecklichen Nacht ihr Leben ließen und für das Dorf, das niemals wieder auferstand. Dieser eine Ton sei ein Mahnmal aus Erz und Erinnerung, eine Warnung vor dem Wahnsinn des Krieges und ein tröstendes Gedenken an die Heimat, die einst hier war.
Und so lebt Allenspach, das längst in Feldern und Wiesen aufgegangen ist, in dieser geisterhaften Erzählung weiter. Nicht als Ort der Zerstörung, sondern als ein Platz, den eine letzte, unvergessene Stimme vor dem völligen Vergessen bewahrt.