© Myriam Thüringen
Geheimrat Carl Bosch (1874–1940), Nobelpreisträger der Chemie von 1931, war nicht nur Industrieller, sondern auch ein begeisterter Privat-Astronom[1][2]. In seinem Garten ließ er zunächst (um 1919) ein kleines Kuppelgebäude errichten mit einem Zeiss-Linsenfernrohr von ca. 11 cm Öffnung. In den 1920er Jahren ließ er in seinem Heidelberger Villengarten eine eigene Sternwarte errichten, um seinen astronomischen Interessen – insbesondere der Astrofotografie – nachzugehen[3][4]. 1924 bestellte Bosch bei der Firma Carl Zeiss Jena ein großes Refraktor-Teleskop nebst Zubehör für diese Privatsternwarte[5]. Das Instrument hatte einen Objektivdurchmesser von 30 cm und stellte zur Bauzeit ein echtes High-Tech-Gerät dar[6]. Bosch investierte dafür den damals beträchtlichen Betrag von 63.440 [7][8]. In Bezug zum Goldpreis vom 25.10.2025 sind das ca. 2,7 Millionen Euro. Legt man den Durchschnittsverdienst von ca. 180 Reichsmark pro Monat eines Arbeiters von 1924 zugrunde, dann entsprechen 63.4400 Goldmark dem 352-fachen eines Monatslohns. Nimmt man als Maßstab einen monatlichen Durchschnittsbruttolohn eines Vollzeitbeschäftigen 2025 in Höhe von 3.800 Euro zugrunde, dann entsprechen 352 Monatsgehälter einem Wert von 1,34 Millionen Euro.
In seinem Garten ließ er extra eine Kuppelsternwarte errichten, in die das Teleskop Mitte der 1920er Jahre eingebaut wurde[7]. Kurze Zeit danach, Anfang 1927, erfolgte das „First Light“ – also die erste Himmelsbeobachtung – mit dem neuen Fernrohr. Bosch konnte dank seines Vermögens dieses Hobby professionell betreiben. Er nutzte das Teleskop für die fotografische Beobachtung von Himmelsobjekten. Da Carl Bosch viel beschäftigt war, beschäftigte er ab 1928 auf Empfehlung von Max Wolf den Astronomie-Studenten Bernhard Timm, der die Anlage für ihn mit betreute [9]. Dessen Aufgabe war unter anderem die Erstellung fotografischer Aufnahmen mit Farbfiltern, u.a. zur Bestimmung der Oberflächentemperaturen von Sternen. Diese private Sternwarte galt als sehr fortschrittlich und verschaffte Bosch einen exklusiven Einblick in das Universum – sein Fernrohr war gewissermaßen sein Fenster zu den Sternen.
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Boschs Teleskop ist ein Achromatischer Linsenrefraktor mit mehreren optischen Teilfernrohren. Es wurde maßgeschneidert von Carl Zeiss Jena gebaut und lieferte in den 1920er Jahren Spitzenleistungen. Zu der Anlage gehörten ursprünglich folgende Komponenten[10][11]:
Hauptrefraktor (E-Objektiv): Linsendurchmesser 300 mm, Brennweite 5 m[10].
B-Objektiv: Linsendurchmesser 200 mm, Brennweite 3 m[12]. (Dieses kleinere Parallelfernrohr diente als Führungsrohr für Beobachtungen.)
UV-Spezialobjektiv: Linsendurchmesser 160 mm, Brennweite 1,5 m[10]. (Für Fotografie im ultravioletten Spektralbereich.)
Objektivprisma: Öffnung 160 mm, prismatischer Winkel 7°[13]. (Diente der spektroskopischen Zerlegung des Sternenlichts.)
Montierung: Azimutale Kniesäulen-Montierung mit elektrischem Stundenantrieb (Uhrwerk) zur Nachführung des Fernrohrs[14].
Fotografie-Ausrüstung: Kameraauszüge für alle drei Fernrohre, passend für Fotoplatten im Format 13 × 18 cm[15].
Sternwartenkuppel: Rundkuppel (Holzkonstruktion) mit 8 m Innendurchmesser[11].
Diese umfassende Ausstattung erlaubte es Bosch, gleichzeitig verschiedene Himmelsaufnahmen zu machen und auch Spektralanalysen durchzuführen – eine für Amateursternwarten außergewöhnliche Möglichkeit in jener Zeit. Das Zeiss-Teleskop besaß somit mehrere „Röhren“ und Optiken und wird in historischen Beschreibungen als fünfrohriges Refraktorteleskop charakterisiert[6]. Teleskope dieser Größe und Güte waren in Deutschland damals wie heute selten: Im süddeutschen Raum existiert neben Boschs Instrument lediglich im Deutschen Museum München ein Refraktor von vergleichbarer Leistungsfähigkeit[16]. Das Bosch’sche Fernrohr war also nicht nur für private Verhältnisse beeindruckend, sondern zählt bis heute zu den bedeutenden historischen Großteleskopen des Landes.
Carl Bosch verstarb 1940; seine Sternwarte in Heidelberg blieb zunächst einige Jahre ungenutzt mit dem Teleskop vor Ort[17]. Nach dem Zweiten Weltkrieg reifte der Plan, das wertvolle Instrument einer wissenschaftlichen Nutzung zuzuführen. In den 50er Jahren wollte man endlich die Pläne für eine neue Sternwarte in Tübingen realisieren. 1953 kaufte man das Gelände „Waldhäuser Höhe“. Der Baubeginn war 1955. In den nachfolgenden Jahren wurde das Bosch-Teleskop schließlich von Heidelberg nach Tübingen überführt[18]. Initiiert und finanziert wurde dieser Transfer von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), die das Fernrohr dem Astronomischen Institut der Universität Tübingen zur Verfügung stellen wollte[19]. Fachleute der Firma Zeiss begleiteten den Abbau in Heidelberg und den Wiederaufbau in Tübingen[20]. Die Eröffnung der neuen Tübinger Sternwarte fand 1960 statt. Die Beobachtung wurde durch eine Hebebühne erleichtert.
Das historische Teleskop versah nun seinen Dienst in Tübingen: Es wurde von den Universitätsastronomen für Ausbildungszwecke und kleinere Forschungsprojekte eingesetzt[23]. Astronomie-Studierende lernten an diesem Instrument den praktischen Beobachtungsbetrieb und die Himmelsnavigation, während die Wissenschaftler damit vor allem Übungsbeobachtungen und Demonstrationen durchführten[24][25]. Aufgrund der rasanten Entwicklung der Astrophysik in den 1950er Jahren war der Standort Tübingen (innerstädtisch, mit mäßigen Sichtbedingungen) und das betagte Fernrohr zwar für bahnbrechende Forschung nicht mehr optimal, doch erfüllte es eine wichtige Rolle in der Lehre[26]. Der 30-cm-Refraktor blieb somit integraler Bestandteil der Tübinger Universitätssternwarte und verband moderne Forschung mit historischer Instrumentenkunde.
Ab dem Ende der 1950er Jahren gewann die Radio-, UV und Röntgenastronomie mehr und mehr an Bedeutung. Das große Refraktor-Teleskop auf der Waldhäuser Höhe gewann dafür eine neue Bedeutung in der Öffentlichkeitsarbeit. 1972 gründeten Astronomie-Enthusiasten und Wissenschaftler – maßgeblich initiiert durch den Tübinger Astrophysiker Kurt Walter – die Astronomische Vereinigung Tübingen e.V. (AVT)[27]. Der Verein übernahm fortan die Aufgabe, regelmäßige öffentliche Himmelsbeobachtungen an der Unisternwarte zu organisieren[28][29]. In einem Artikel des Schwäbischen Tagblatts anlässlich der Gründung wurde das historische Fernrohr als eine Art „Gründungsmitglied“ der AVT bezeichnet: Unter dem Titel „Am großen Fernrohr“ berichtete man 1972 über den neuen Verein, dessen Hauptziel „Sternführungen für jedermann auf der Sternwarte“ sei[30]. Damit knüpfte die AVT an eine gute Tradition der Volksbildung an und machte das Bosch-Teleskop zum Zentrum der Popularastronomie in Tübingen. In vielen Medienberichten jener Zeit spielte das Fernrohr die Hauptrolle – Überschriften wie „Den Mars im Rohr“ oder „Galaxien in Sicht“ unterstrichen die Faszination des Blicks durchs Teleskop[31].
Während die Universität Tübingen im Jahr 2001 ihr Astronomie-Institut auf einen neuen Campus verlegte und auf dem nahegelegenen Sand eine moderne Forschungssternwarte eröffnete[32][33], blieb das historische Observatorium auf der Waldhäuser Straße erhalten. Das Gebäude ging 2001 in den Besitz der Stadt Tübingen über und wird seitdem von der Astronomischen Vereinigung Tübingen betreut und betrieben[32][33]. Die AVT richtet dort bis heute regelmäßig öffentliche Sternführungen, Beobachtungsabende und Vorträge aus[34]. Das große Zeiss-Teleskop befindet sich nun vollständig in der Obhut des Vereins[35]. Seit 2001 ist die Tübinger Sternwarte damit faktisch eine Volkssternwarte, in der interessierte Bürger unter Anleitung den Sternenhimmel erkunden können. Der denkmalgeschützte Kuppelbau aus den 1950er Jahren beherbergt außerdem ein kleines Restaurant, was das Gebäude zu einem beliebten Ausflugsziel macht[36][37].
Obwohl das Instrument fast 100 Jahre alt ist, wird es weiterhin gepflegt und einsatzfähig gehalten. In den 1980er Jahren musste die Technik der Sternwarte erstmals modernisiert werden: 1987 wurde die alternde Hebebühne durch eine neue hydraulische Hubbühne ersetzt, um den geltenden Sicherheitsauflagen (TÜV) zu genügen[38]. Einen großen Qualitätssprung brachte dann eine umfassende Restaurierung im Jahr 2005. Ermöglicht durch eine Spende der Klaus-Tschira-Stiftung (die interessanterweise ihren Sitz in Boschs Heidelberger Villa hat), wurden das Teleskop und die Dome-Kuppel grundlegend überholt und weitgehend in den Ursprungszustand von 1924 zurückversetzt[39]. Das historische Instrument erstrahlte danach technisch und optisch in neuem Glanz. Allerdings fehlte zu diesem Zeitpunkt noch ein wichtiger Teil: Das 20-cm-Leitfernrohr (B-Objektiv) war seit den 1970er Jahren ausgebaut und verschollen[40]. Erst Anfang 2007 spürte die AVT dieses zweite Teleskoprohr eher zufällig wieder auf und brachte es zurück an seinen Platz[41]. Das Objektiv dieses Fernrohrs war jedoch durch unsachgemäße Behandlung verstellt und praktisch unbrauchbar[42]. Mit Unterstützung des Vereins konnte der Optikspezialist Wolfgang Busch die Linse 2008 restaurieren, sodass das 20-cm-Fernrohr nun wieder seine ursprüngliche hervorragende Abbildungsqualität erreicht[43].
Heute präsentiert sich das gesamte Zeiss-Triplet-Teleskop der Sternwarte Tübingen wieder vollständig und funktionsfähig. Das Instrument wird mittlerweile ausschließlich für Publikumsbeobachtungen genutzt – wissenschaftliche Forschungsaufgaben übernehmen moderne Observatorien an besseren Standorten. Doch als historisches Erlebnisfernrohr leistet der 30-cm-Refraktor unschätzbare Dienste: Er vermittelt Besuchern ein Gefühl für die astronomische Beobachtungstechnik vergangener Zeiten und erlaubt beeindruckende Blicke auf Mond, Planeten und Sterne. Die Astronomische Vereinigung Tübingen führt regelmäßig Führungen „am großen Fernrohr“ durch, bei denen das fast ein Jahrhundert alte Zeiss-Teleskop im Einsatz gezeigt wird[44]. Somit spannt die Sternwarte Tübingen einen Bogen von der Geschichte zur Gegenwart – die technischen Wurzeln aus Carl Boschs Ära sind lebendig geblieben und begeistern noch heute neue Generationen für die Astronomie.
1924
Carl Bosch bestellt bei Zeiss Jena einen 30-cm-Refraktor (mit Nebeninstrumenten) für seine private Sternwarte in Heidelberg (Kosten: 63.440 Goldmark)[8].
1925
Aufbau des Teleskops in Boschs Garten-Sternwarte und erstes Licht (Inbetriebnahme für astrofotografische Beobachtungen) in Heidelberg[5][7].
Anfang 1927
First Light
1940
Tod von Carl Bosch am 26. April 1940; die Privatsternwarte wird vorerst geschlossen, das Teleskop bleibt in Heidelberg eingelagert[17].
1955
Deutsche Forschungsgemeinschaft initiiert die Überführung des Bosch-Teleskops an die Universität Tübingen. Zeiss-Experten zerlegen das Instrument in Heidelberg und transportieren es nach Tübingen[19].
Ab Mitte der 1950er Jahre
Neubau der Sternwarte Tübingen (Waldhäuser Str. 70) wird fertiggestellt. Der 30-cm-Zeiss-Refraktor wird im Kuppelbau installiert und geht als Hauptinstrument der Universitätssternwarte in Betrieb[21][22].
1960
Einweihung der "neuen" Sternwarte in Tübingen
1972
Gründung der Astronomischen Vereinigung Tübingen (AVT), die fortan öffentliche Beobachtungen am großen Fernrohr organisiert[30]. Das historische Zeiss-Teleskop dient nun verstärkt der Volksastronomie.
1987
Modernisierung: Die alte mechanische Hebebühne der Sternwarte wird durch eine hydraulische Plattform ersetzt (TÜV-bedingte Sanierung)[38].
2001
Das Univ.-Institut zieht um; die Stadt Tübingen übernimmt die Sternwarte. Seitdem wird sie vollständig von der AVT als Volkssternwarte betreut und für öffentliche Führungen genutzt[33].
2005
Durch Förderung der Klaus-Tschira-Stiftung erfolgt eine grundlegende Restaurierung des Teleskops und der Kuppel. Das Instrument wird in den Originalzustand von 1924 zurückversetzt[39].
2007
Das lange verschollene 20-cm-Leitfernrohr (B-Objektiv) des Zeiss-Teleskops wird wiederentdeckt und zur Sternwarte Tübingen zurückgebracht[40].
2008
Restaurierung der beschädigten B-Objektiv-Linse: Der 20-cm-Refraktor ist wieder voll einsatzfähig[43]. Seitdem ist das historische Zeiss-Tripel-Teleskop in kompletter Ausstattung für die Öffentlichkeit im Einsatz.
[1] [3] [5] [6] [7] [9] [17] [18] [19] [20] [22] [23] [24] [25] [26] [28] [29] [30] [31] [35] [38] Stielaugen der Wissenschaft. Zur Geschichte eines Tübinger Teleskops
https://edoc.hu-berlin.de/bitstreams/88b04b53-33f9-4775-9dc6-0c4e990c3c9d/download
[2] [4] [36] Sternwarte Tübingen - Observatory history | Sternwarte Tübin… | Flickr
https://www.flickr.com/photos/eagle1effi/16704494250/
[8] [16] [33] [34] [37] Sternwarte – TUEpedia
https://www.tuepedia.de/wiki/Sternwarte
[10] [11] [12] [13] [14] [15] [32] [39] [40] [41] [42] [43] [44] Die alte Sternwarte | Universität Tübingen