Westfälische Zeitung,
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7. April 1928

Ein Besuch bei den Antonisten

Von unserem Pariser Korrespondenten.

Jemeppes, im April.

Jemeppes an der Maas, ein kohlengeschwärzter Vorort von Lüttich, ist das Rom der neuen, seltsamen Religion, die nach ihrem Gründer „Antonismus“ genannt wird. Dieser „Père Antoine“, wie er von den Gläubigen mit ehrfurchtsvoller Liebe angerufen wird, war ein gewöhnlicher Bergarbeiter, dem vor einigen zwanzig Jahren im Verlaufe einer spiritistischen Sitzung die große Offenbarung zuteil wurde. Die Zahl seiner Anhänger vermehrte sich mit reißender Schnelligkeit. Heute verlangen 300 000 „Erleuchtete“ die Anerkennung ihres Kultus als offizielle Religion in Belgien. In der Hauptsache sind es die Ärmsten der Armen, Arbeiter, denen der Sozialismus weder innere noch äußere Rettung zu bringen vermochte. Entrechtete und Bettler unter diesem ewig grauen Himmel, in diesem trostlosesten aller Landstriche. Jemeppes an der Maas: Tausende sprechen diesen Namen voller Andacht aus, Taufende wallfahren aus allen Provinzen Belgiens, Nordfrankreichs und Luxemburgs zur „Mutter“, die den Verzweifelten Heilung spendet, Segen verleiht. Ein gutes kleines Mütterchen,

die Witwe des toten Erlösers.

In einer engen Gasse befindet sich das Heiligtum, die Peterskirche des Antonismus.

Das Wesen der neuen Lehre ist: Das Leiden, der Schmerz, die Krankheit können durch „Fluide“ gebannt werden. Sie sind Teufelswerk, gegen das sich der Gläubige zu schützen vermag. Die „Fluide“ werden allein durch ihren Glauben erzeugt, und sie erzeugen und stärken wiederum den Glauben. Sie gehen von dem Stärkeren auf den Schwächeren über. „Père Antoine“ besaß sie in unglaublicher Fülle. Eine gewöhnliche Handauflegung genügte, um auch das hartnädigste Leiden des Leibes oder des Geistes zu heilen. Diese Vollkraft ist auf die „Mutter“ übergegangen, die täglich in der kleinen, armseligen Kapelle von Jemeppes die „Operationen“ vornimmt. Gleich im Eingang das Symbol des Antonismus: Ein Baum, auf Glas mit Farben gemalt, der Baum der Erkenntnis des Bösen. Die neue Religion kennt keine Wunder, keine Gebete, keine Zeremonien. Sie predigt nicht so sehr die ewige, als die zeitliche Seligkeit, die mit jener untrennbar verbunden ist. Der Geist, einmal von seinen Fesseln befreit, bewegt sich in schmerzlosen Regionen. Die Materie mag ihn umkleiden oder nicht, er ist von ihr unabhängig. Der Antonismus lehrt, daß die erlösenden Fluide durch eine Art Massenwirkung verstärkt werden. Der einzelne muß sich mit seinen Brüdern vereinen, damit das gemeinsame heil erwirkt werde. Daher ein paar seltsame Vorschriften, die dahin zielen, eine vollkommen gleichartige Ausgestaltung der äußeren Bedingungen zu erzielen.

Die Kapellen weichen auch nicht in der unscheinbarsten Einzelheit von einander ab, sie mögen in Paris, Lyon, Brüssel, Tours oder Antwerpen errichtet sein. Es ist das gleiche Material, die gleiche Architektur, die gleichen Raumverhältnisse, die gleiche innere Einrichtung. Genau zur gleichen Stunde werden in den genannten Städten, die neben Jemeppes die Hauptzentren der neuen Religion sind,

die heilenden „Operationen“

vorgenommen. Die bestehen einfach darin, daß eine mit „Hochkraft“ ausgestattete Person ihre geheimnisvollen Fluide auf die versammelten Gläubigen wirken läßt. Durch die Gleichzeitigkeit wird über den Raum hinweg die Wirkung verstärkt, und man erzählt darüber ganz wunderbare Geschichten. Kein Verzweifelter soll noch ungetröstet die Kapelle verlassen haben, kein Leidender ohne Linderung seiner Schmerzen. Jedenfalls ist der Glaube dieser armen Leute unerschütterlich. Sie bedrückt kein Zweifel, im größten Elend weicht nicht das selige Lächeln von ihren Lippen. Die „Mutter“ breitet die Hände aus: Ein tiefes Atmen geht durch die versammelten Massen, die Augen leuchten auf in unsäglichem Glück, der Geist scheint jegliche Fessel abzustreifen...

Die Suggestion wirkt auch auf den fremden Besucher mit fast unwiderstehlicher Gewalt. In diesem grauen, trostlosen Lande, dem die Natur jeglichen Reiz, jede Poesie versagte, unter Menschen, die nur zum Leid, zu schwerster Arbeit, zum körperlichen und geistigen Elend geboren scheinen – plötzlich ein Zurücksinken der Materie, ein Triumpf des reinen Geistes, der auch das letzte dieser armen Menschenkinder über sich selber hinaus erhebt und ihm das, was wir Aufgeklärte mit „rauher Wirklichkeit“ bezeichnen, als wesenlosen Schatten erscheinen läßt! Nichts Unreines mischt sich ein: keinerlei Gewinnsucht, kein Ehrgeiz, keine eitle Phrase. Wortkarg sind sie alle,

die „Erleuchteten“ wie die gewöhnlichen „Gläubigen“.

Voll stiller Seligkeit fahren die kohlenschwarzen Männer in die Erde, vollbringen ihre schwere Tagesarbeit, gehen nach Schicht zur „Mutter“, wenn irgendein Schatten ihren befreiten Geist bedrohen will. In der ganzen Arbeiterstadt Jemeppes findet man kaum ein Wirtshaus, wenige Kinos nur, kein Theater oder gar ein modernes „Dancing“. Solcher Zerstreuungen bedürfen die Antonisten nicht.

Eine gemeinsame Sorge nur: Was geschieht, wenn die „Mutter“ diese Erde verläßt? Findet sich ein „Erleuchteter“ mit den gleichen, machtvollen Fluiden? Bleibe bei uns, denn es will Abend werden: dies einzige Gebet liegt auf den Lippen von tausenden. Denn schon machen sich die ersten Anzeichen eines gefährlichen Schisma bemerkbar: in Luxemburg und Deutschlothringen erhebt der „Wagnerismus“ sein Haupt, und gleich Simon fordert er irdische Güter für seine Fluiden, die doch nur den Armen, nicht den Reichen dieser Erde gelten sollen… Dr. F.

Westfälische Zeitung, 27.4.1928