Wissenschaft und Pseudowissenschaft

(von Alois Reutterer)

1. Die Gefährlichkeit von Aberglaube und Pseudowissenschaft

Heute feiert der Aberglaube in den vielfältigsten Formen fröhliche Urständ. Es ist schier unglaublich, was Menschen alles zu glauben bereit sind. Eine Flut von Disziplinen gibt sich als Wissenschaft aus, so Anthroposophie, Präastronautik, Atlantologie, Ufologie, Numerologie, Pyramidologie, Kryptozoologie (Yeti- und Nessie-Forschung).

Esoterisch-mystisches Denken ist mit wissenschaftlicher Rationalität grundsätzlich nicht in Einklang zu bringen. Das heißt, ein Wissenschaftler kann zwar privat meditieren, oder sich mystisch versenken, er darf dies jedoch nicht mit seiner wissenschaftlichen Tätigkeit vermischen.

Pseudowissenschaft ist aus verschiedenen Gründen nicht ungefährlich, z.B. weil sie ein falsches Bild von Wissenschaft gibt und die Leichtgläubigkeit vieler Menschen ausnützt.

2. Vom Mythos zum Logos

Im Gegensatz zum bildhaft erklärenden Mythos hat die Philosophie von Anfang an versucht, die Welt rational zu erklären. Aus dieser Philosophie, wie sie die alten Griechen schufen, ging eine Wissenschaft nach der anderen hervor. Immer wieder entstanden aber auch Disziplinen, die wir heute keineswegs als Wissenschaft ansehen würden, die aber in jener Zeit durchaus den Status einer Wissenschaft hatten, z.B. die Astrologie. In der Philosophie, bes. im Wiener Kreis, hat man versucht, Wissenschaft von Nichtwissenschaft abzugrenzen. Als Paradigma für letztere stand die Metaphysik. Man hat ein Sinnkriterium gesucht, das erlauben sollte, auch weniger offensichtlichen Unsinn von sinnvollen Aussagen scharf abzugrenzen und damit wissenschaftliche von metaphysisch-spekulativen Sätzen zu scheiden. Eine Pseudoaussage ist daran zu erkennen, dass sie nicht verifizierbar ist. Nach Carnap sind metaphysische Sätze nicht erst sinnlos wegen der fehlenden Nachprüfbarkeit, sondern bereits weil die darin enthaltenen Ausdrücke ohne Bedeutung sind. Wegen der Nichtverifizierbarkeit von unbeschränkten Allaussagen und weil insbesondere alle Naturgesetze sinnlos wären, hat Popper die Verifizierbarkeit durch die Forderung der Falsifizierbarkeit ersetzt. Sätze, die an der Erfahrung scheitern können, sind empirisch gehaltvoll und daher sinnvoll. Heute müssen wohl alle Versuche, ein eindeutiges und immer anwendbares Sinnkriterium aufzustellen, als gescheitert angesehen werden.

Das bedeutet, dass es kein einheitliches Kriterium für die Unterscheidung von Wissenschaft und Nichtwissenschaft geben kann. Wir müssen uns bei jeder zur Diskussion stehenden Theorie fragen, ob bestimmte Kriterien erfüllt sind, die wir gemeinhin an Wissenschaft anlegen. Was aber ist eine Wissenschaft? Wenn wir diese Frage hinreichend beantworten können, müsste es prima facie ein leichtes sein, davon eine Pseudowissenschaft zu unterscheiden. Aber so einfach ist die Sache eben nicht.

3. Definition von »Wissenschaft«

Für die Vertreter des logischen Empirismus war klar, dass eine Wissenschaft, die von Dingen unserer Welt handelt, nur mit Hilfe der Sinneserfahrung aufzubauen und überprüfbar sei. Demgegenüber kennt der Metaphysiker nicht nur eine erweiterte Ontologie („andere“ Wirklichkeiten), sondern akzeptiert auch andere Erfahrungsarten wie Wesensschau, Intuition, Inspiration oder mystische Versenkung, also innere Erfahrungen, mittels derer er diese andere Realität glaubt erfassen zu können und auf denen er seine „Wissenschaft“ aufbaut. Es gäbe dann nicht nur einen Wissenschaftsbegriff, sondern entsprechend anderen zugelassenen Erfahrungsarten auch neue Formen von „Wissenschaft“, die man z.B. indizieren könnte: W1, W2, W3...Wn. Man müsste jeweils sagen, von welcher Art Wissenschaft man gerade spricht. Da so jede beliebige Disziplin sich »Wissenschaft« nennen könnte, scheint dieser Weg nicht sehr zweckmäßig. Auch ist es nicht sinnvoll, etwas als „Wissenschaft“ zu bezeichnen, was nur einem esoterischen Zirkel vorbehalten bleibt, wo nur wenige Eingeweihte entsprechende Erfahrungen machen können, wo „Erkenntnisse“ also nicht intersubjektiv und wo Experimente von vornherein unmöglich sind. Sinnvoller scheint doch, einen Konsens über einen (weitgefassten) Wissenschaftsbegriff zu suchen, der Kriterien enthält, die von der Gemeinschaft der Vertreter der etablierten Wissenschaften allgemein akzeptiert wird, weil sie für ihre Tätigkeit für wesentlich erachtet werden. Wissenschaft ist wesentlich doch ein rationales Unternehmen der Menschheit vielleicht das menschlichste und in diesem Sinne erhabenste.

Eine zweckmäßige Definition von »Wissenschaft« könnte lauten:

Wissenschaft ist ein in sich (möglichst!) widerspruchsfreies und kritisierbares System von intersubjektiv nachprüfbaren Erkenntnissen. Naturwissenschaftliche Theorien sollten zudem prognostische Relevanz besitzen, also Voraussagen erlauben.

4. Kriterien einer guten (erfahrungswissenschaftlichen) Theorie

Folgende Minimalkriterien, die für jede Art von empirischer Wissenschaft gelten sollten, könnten gefordert werden:

  • innere logische Widerspruchsfreiheit (nicht immer gegeben und vielleicht auch nicht immer möglich), keine fehlerhaften logischen Ableitungen.
  • äußere Widerspruchsfreiheit: Die Theorie darf mit gut bestätigten anderen Theorien nicht in Widerspruch stehen.
  • Kritisierbarkeit und Prüfbarkeit (Sind beobachtungsmäßige Folgerungen abzuleiten?)
  • Erklärungswert und prognostischer Relevanz
  • ontologische Sparsamkeit (keine unnötigen, zur Erklärung eines Phänomens nichts beitragende Begriffe, wie z.B. Entelechie)
  • keine Immunisierungsstrategien (zum Wegerklären von Fehlprognosen oder zum Abblocken von Kritik)
  • „saubere“ Methoden. Häufig finden sich Paradisziplinen nur deshalb im Sumpf von Pseudodisziplinen, weil manche ihrer Vertreter (nicht alle!) mit unzulässigen Methoden arbeiten (wie dies v.a. in der frühen Parapsychologie manchmal geschehen ist).
  • Ein schwieriger Fall sind die Kryptowissenschaften, die sich mit Dingen und Ereignissen befassen, deren Existenz von der Wissenschaft nach genauen Recherchen nicht anerkannt wird, für die es jedoch Zeugenaussagen gibt, z.B. für UFOS oder das Ungeheuer von Loch Ness.
  • Klar ist, dass natürlich alle diese Kriterien für Wissenschaftlichkeit auch wieder diskutiert werden können.

5. Bereiche, die Erkenntnis anstreben (Kognitive Felder nach Mario Bunge)

Ein kognitives Feld soll charakterisiert sein als ein Sektor menschlicher Aktivität, der Erkenntnis anpeilt, gewinnt, verbreitet oder verwendet, gleichgültig, ob diese Erkenntnis wahr oder falsch ist. In unserer Kultur gibt es hunderte kognitiver Felder (Logik und Theologie, Mathematik und Numerologie, Astronomie und Astrologie, Chemie und Alchimie, Psychologie und Psychoanalyse usw.)

Die kognitiven Felder können unterteilt werden in:

Glaubensfelder: Religion, politische Ideologien, Pseudowissenschaften und Pseudotechnologien (Erdstrahlabschirmung, Magie) und

Forschungsfelder: Humanwissenschaften, Formalwissenschaften, Grundlagenforschung, angewandte Wissenschaften, Technologie (einschließlich Medizin und Recht).

Nach Bunge ist eine reinliche Trennung von Wissenschaft und Pseudowissenschaft nicht möglich. Es ist vielmehr sogar so, dass einerseits auch in Pseudowissenschaften wissenschaftliche Elemente enthalten sind, andererseits aber auch in der Wissenschaft pseudowissenschaftliche „Schmutzflecken“, sozusagen intellektuelle Viren stecken können.

Nach Edgar Wunder könnte man die Parawissenschaften unterteilen in Proto- und Pseudowissenschaften. Während eine Protowissenschaft zu einer veritablen Wissenschaft werden kann, stagniert die Pseudowissenschaft und ist nicht entwicklungsfähig. Manchmal nehmen Pseudowissenschaften auch antiwissenschaftliche Attitüden an, so der Kreationismus.

6. Kriterien einer Pseudowissenschaft

Da es kein allgemeingültiges Kriterium für Wissenschaftlichkeit gibt, muss in jedem einzelnen Fall genau untersucht werden, ob – und wenn ja welche – Kriterien von Wissenschaftlichkeit von einer mutmaßlichen Pseudowissenschaft jeweils verletzt werden. Vor allem sollte beobachtet werden, ob eine Disziplin „saubere“ Methoden verwendet, ob sie Immunisierungsstrategien verfolgt oder ob sie die an Erfahrungswissenschaften üblicherweise gestellten Anforderungen erfüllt.

An 3 Beispielen soll gezeigt werden, wie man bei der „Entlarvung“ einer sich als Wissenschaft ausgebenden Disziplin vorgehen könnte.

7. Beispiele: Kreationismus, Astrologie, Parapsychologie

Kreationismus

Der Kreationismus fundamentalistischer Christen behauptet, die Genesis müsse wörtlich verstanden werden, die Bibel sei quasi ein naturwissenschaftliches Buch und die Schöpfungslehre einer wissenschaftlichen Theorie ebenbürtig. Er versteht sich zwar dezidiert als Wissenschaft, stellt sich aber gegen eine gut bestätigte naturwissenschaftliche Theorie (die Evolutionstheorie) und ist daher wohl eher als religiös fundierte Antiwissenschaft einzustufen. Würde die Evolutionstheorie falsifiziert, so würde das gesamte naturwissenschaftiche Weltbild zusammenbrechen. Das bedeutet, der Kreationismus ist eine isolierte „Theorie“ – und das ist typisch für Pseudowissenschaften: isoliert dazustehen und globale, alleserklärende Erklärungsschemata anzubieten, die mit gutbestätigten Theorien der Wissenschaften nicht vereinbar sind.

Als zweites Beispiel möge die Astrologie dienen.

Da die Auffassungen früherer Zeiten, Sterne seien Götter oder später, sie würden eine Art „Schicksalsstrahlen“ aussenden, nicht mehr haltbar sind, versuchen Astrologen, dem Kunden Exaktheit ihrer Horoskope vorzugaukeln, indem sie diese mittels Computer berechnen, was den Unsinn aber auch nicht sinnvoller macht. Um der Kritik, dass es sich um eine Pseudowissenschaft handle, zu entgehen, haben die Astrologen alle möglichen Tricks versucht. Z.B. nennen sie sich jetzt „kosmobiologische Berater“ und sprechen statt von „Astrologie“ von „Kosmobiologie“. Bei Prognosefehlschlägen werden Immunisierungsstrategien verwendet. Noch weiter gehen andere Astrologen, die das ganze Unternehmen nur symbolisch verstehen wollen. Das hat dann aber mit der ursprünglichen Astrologie nichts mehr zu tun – auch eine Möglichkeit der Immunisierung.

Ein schwierigerer Fall ist die Parapsychologie.

Sie untersucht sogenannte PSI-Phänomene wie Telepathie oder Telekinese. Sofern dies in kritischer Weise mit „sauberen“ Methoden erfolgt, kann die Parapsychologie durchaus als Wissenschaft im üblichen Sinne angesehen werden. D.h. hier kommt es darauf an, wie

gearbeitet wird. Die Methodik spielt ja eine wesentliche Rolle für die Entscheidung, ob eine Wissenschaft vorliegt oder nicht. Man könnte vielleicht eine unkritische oder „gläubige Parapsychologie“ unterscheiden von einer zu fordernden kritischen Parapsychologie. Sollten die behaupteten Phänomene sich als inexistent erweisen, so hätten wir es mit einer Kryptowissenschaft zu tun.

Die Scheidelinie zwischen Wissenschaft und Pseudowissenschaft kann weniger durch die Inhalte definiert werden, als vielmehr durch die Art, wie Hypothesen belegt werden.

Ein einziges Abgrenzungskriterium kann es nicht geben, dazu sind die pseudowissenschaftlichen Theorien zu verschieden. Wir müssen daher jede Behauptung auf etwaige Mängel untersuchen. Eine Hypothese kann aus verschiedensten Gründen pseudowissenschaftlich sein:

Die Behauptung, dass die Erde eine Scheibe sei, ist weder wissenschaftlich noch pseudowissenschaftlich, sondern schlichtweg falsch.

Der Marxismus war ursprünglich wissenschaftlich, degenerierte aber zu einer Pseudowissenschaft, als er durch Immunisierungsstrategien ergänzt wurde.

Der Psychoanalyse scheint gegenwärtig zu widerfahren, zu einer Pseudowissenschaft zu werden, weil auch sie Immunisierungsstrategien verwendet.

8. Grenzen der Wissenschaft

Wir müssen akzeptieren, dass es Grenzen menschlicher Erkenntnisfähigkeit gibt, die auch Parawissenschaften nicht überschreiten können. Auch unsere heutigen „wissenschaftlichen“ Theorien könnten eines Tages als vor-, un- oder pseudowissenschaftlich angesehen werden.

Ein Patentrezept für die Abgrenzung von Wissenschaft und Nichtwissenschaft gibt es nicht. Man muss vielmehr in jedem einzelnen Fall sich die verschiedenen Kriterien für Wissenschaftlichkeit vor Augen halten und dann eine Entscheidung treffen, ob eine Disziplin in den Kreis der Wissenschaften aufgenommen werden kann oder nicht. Und es gilt zu beachten, dass viele Disziplinen die einst Protowissenschaften waren, zu veritablen Wissenschaften mutiert sind, dass aber umgekehrt auch Wissenschaften von heute vielleicht eines Tages zu einer Pseudowissenschaft werden könnten. Das bedeutet, dass Wissenschaft auch aus der Perspektive der Zeitlichkeit und all unser Wissen in seiner Vorläufigkeit zu sehen ist – was ja dem Popperschen Paradigma der Wissensevolution entspricht.