An den Grenzen menschlichen Wissens

(aus dem gleichnamigen Buch von Alois Reutterer)

Die Geschichte des menschlichen Denkens verlief sicher nicht geradlinig vom Mythos zum Logos, von der bildhaften zur rational-wissenschaftlichen Erklärung der Welt. Dennoch: Die Grenzen des Wissens wurden – vor allem durch die Erkenntnisse der Naturwissenschaften – im Verlauf der Geschichte immer weiter hinausgeschoben und der mit dem Glauben an Wunder verknüpfte Mythos wurde ständig zurückgedrängt. Wir meinen zwar oft, schon sehr viel zu wissen – und wir wissen zweifellos sehr viel mehr als unsere Vorfahren früherer Jahrhunderte –, aber es gibt doch noch zahlreiche weiße Flecken auf der Landkarte des Erkennens; und wir wissen nicht einmal, wie groß diese Flecken sind und wie groß unsere Wissenslandkarte theoretisch sein könnte.

Die Bearbeitung und Beantwortung verschiedener „Grenzprobleme“ der modernen Wissenschaften, vor allem der Naturwissenschaften, war früher haltlosen Spekulationen anheim gestellt oder dem Mythos vorbehalten. Heute jedoch lassen sich diese Probleme bis zu einem gewissen Grade und zu einer bestimmten Grenze durchaus rational diskutieren, wenn nicht sogar empirisch untersuchen. Selbst die klassischen Kantischen Fragen der Metaphysik nach Gott, Freiheit und Unsterblichkeit finden heute ihren Platz teilweise im Kontext empirisch fundierter Spekulation. Etliche Fragen einer früheren Metaphysik sind zu (Grenz-)Problemen der modernen (Natur-)Wissenschaft geworden. Es stehen uns heute erfahrungswissenschaftliche Daten zur Verfügung, die eine rationale und empirisch fundierte Diskussion solcher Fragen erlauben. Die Spekulationen der neuen „Meta-Physik“ hängen nicht mehr so im erfahrungslosen Raum wie die der Metaphysiker früherer Epochen.

Dass in meinem Buch An den Grenzen menschlichen Wissens der evolutive Aspekt als durchgehendes Leitmotiv aufscheint, ist kein Zufall: Zum einen ist der Begriff der Evolution längst nicht mehr auf die Entwicklung des Lebendigen beschränkt, sondern ausgeweitet worden auf die Entwicklung des gesamten Universums. Zum andern treten eben in Zusammenhang mit der Evolution (dem Wandel) die wesentlichen (Grenz-)Probleme von Wissenschaft und Philosophie auf. Evolution von Kosmos, Leben, Mensch und Wissen bilden daher den Einteilungsgrund der Untersuchungen im erwähnten Buch.

Den Wissenschaftlern wird oft ein gewisser Hochmut nachgesagt, doch sind die meisten von ihnen heute weit davon entfernt, zu meinen, alles erklären zu können. Je weiter wir zu den mutmaßlich definitiven Grenzen des Wissbaren vorstoßen, desto mehr sehen wir ein, wie wenig wir letztlich wissen können. Die Wissenschaftler von heute zeichnen sich gerade dadurch vor den Ideologen jedweder Provenienz aus, dass sie sich der Grenzen ihrer jeweiligen Disziplin bewusst sind und nicht mehr glauben, absolute Wahrheiten finden zu können.

Die Erklärbarkeit der Welt scheint sich zwischen zwei Polen zu erstrecken, die für uns vermutlich für immer unlösbar bleiben werden: Warum gibt es überhaupt etwas? (Wobei gefragt werden kann, ob diese Frage überhaupt sinnvoll ist.) Und: Wie ist Psychisches, wie ist Bewusstsein möglich? Alles was dazwischen liegt, scheint grundsätzlich erklärbar – auch wenn das meiste noch unerklärt ist und zum Teil wohl noch auf lange Sicht bleiben wird.

Vom Standpunkt eines Naturalismus und kritischen Rationalismus, der die Bedeutung anderer Lebensbereiche als der Wissenschaft in ihrer Berechtigung durchaus anerkennt, geht es in der Welt allezeit mit rechten Dingen zu und nirgendwo müssen prinzipiell unerklärbare Wunder postuliert werden. Die Welt ist grundsätzlich (so weit überhaupt) rational erklärbar.

Aber natürlich stößt unser menschliches Erkenntnisvermögen in vielfacher Weise an Grenzen:

(1) Die Begrenztheit unserer kognitiven Fähigkeiten ist in erster Linie natürlich dadurch begründet, dass unser Gehirn das Produkt eines evolutiven Vorgangs ist, der keine Gehirne hervorbrachte, welche die absolute Wahrheit erkennen können, sondern lediglich das schlichte Überleben ermöglichen. Ein unerwarteter Zusatznutzen besteht

allerdings darin, dass unser sehr leistungsfähiges Gehirn sich auch ein Modell der Welt machen kann, das viel reichhaltiger ist als es die nützlichkeitsorientierten Vorstellungen waren, die unsere Vorfahren zum Überleben brauchten. Kunst und Wissenschaft sind verselbständigte Ausdrucksformen dieses Zusatznutzens.

(2) Dann gibt es die Grenzen unserer Wahrnehmungsfähigkeit. Man denke nur an die feinen Sinne mancher Tiere, aber auch an unsere Unfähigkeit, sehr Großes oder sehr Kleines wahrzunehmen.

(3) Ferner existieren Grenzen unserer Sprache, die nach Wittgenstein „die Grenzen meiner Welt“ bedeuten. Sapir und Whorf haben in ihrer Theorie des sprachlichen Determinismus darauf hingewiesen, dass unser Weltbild weitgehend von der Struktur unserer Sprache abhängt (eher dürfte eine Wechselwirkung zwischen Sprechen und Denken vorliegen). Das würde heißen, dass Sprachen anderer Strukturen, z. B. solche ohne Subjekt-Prädikat-Konstruktion, vielleicht besser imstande wären, bestimmte Sachverhalte – etwa in der Quantenphysik – zu beschreiben. Andererseits wäre vermutlich eine Wissenschaft in unserem Sinne im Kontext einer völlig anders gearteten Sprache gar nicht entstanden.

(4) Die Definitionslehre zeigt, dass wir beim Definieren von Ausdrücken an Grenzen der Exaktheit stoßen. Letztlich werden wir immer wieder auf die Umgangssprache zurückverwiesen.

(5) Dann gibt es die Grenzen der Erklärbarkeit, wie sie besonders von Stegmüller aufgezeigt wurden. Wo nichts mehr vorausgesetzt werden kann, kann eine Theorie auch nicht mehr überprüft werden, etwa bei der Frage nach der Entstehung der Welt oder des Multiversums.

(6) Auch wenn wir es heute mit Hilfe der Mathematik weit übersteigen, so bleibt doch unser beschränktes Fassungs- und Anschauungsvermögen eine für unseren Verstand unüberwindbare Grenze.

(7) Auch eine falsche Betrachtungsweise und dadurch falsche Fragestellung stellt einen erkenntnisbegrenzenden Faktor dar. So ist die monokausal-lineare Betrachtungsweise für komplexe Systeme zweifellos inadäquat. Sie kann unsere potenzielle Erkenntnisfähigkeit – wenigstens vorläufig – stark begrenzen.

(8) Schließlich gibt es gesellschaftlich-historische Voraussetzungen des Denkens, deren wir uns gar nicht bewusst sind. Wir sind Kinder unserer Gesellschaft und unserer Zeit. Wir können nicht über unseren soziologisch-historischen Schatten springen. Unser Denken entspricht der allgemeinen Denkweise unseres Zeitalters. Es baut auf dem gegenwärtigen Wissen auf. Gerade in unserer Epoche bahnt sich ein Paradigmenwandel an von einer mechanistischen Sehweise zu einer ganzheitlich-kybernetischen Systembetrachtungsweise.

(9) Gerade die große Zahl von Hypothesen über die Entstehung des Kosmos oder des Lebens und des Menschen zeigt, dass die Forschung in diesen Bereichen noch lange nicht am Ende ist und dass es sehr viele weiße Flecken auf der Landkarte unseres Wissens gibt. Und vielleicht werden wir nie wissen, wie Weltall, Leben und Mensch wirklich entstanden sind, zumal es sich hier um historische und so letztlich nicht wiederholbare Prozesse handelt.

All diese Grenzen wissenschaftlicher Wahrheitsfindung zu sprengen maßen sich allerdings die Pseudo- und Parawissenschaften an, denen die Wunder unserer Welt offensichtlich nicht genügen (als ob etwa das Leben oder die Existenz des Kosmos für uns keine Wunder wären) und die daher synthetische Ersatzwunder konstruieren und für bare Münze nehmen. Nicht dass wir die verschiedenen behaupteten paranormalen Phänomene nicht ernsthaft untersuchen sollten, nur müsste dies unvoreingenommen und viel kritischer geschehen als bisher. Auch ist ein Paradigmenwechsel dahingehend nicht prinzipiell ausgeschlossen, dass unser gegenwärtig gültiges Weltbild der Naturwissenschaften so erweitert werden könnte, dass heute angezweifelte oder unerklärliche Phänomene in einem neuen Paradigma ihren legitimen Platz finden könnten. Zur Zeit spricht freilich fast alles gegen eine solche Möglichkeit.

Die letzte Wahrheit werden wir nicht finden, wir haben immer nur mehr oder weniger gute Modelle der Wirklichkeit. Das neue holistische (Ganzheits-)Paradigma erlaubt zweifellos in vielen Bereichen neue adäquatere Modelle der komplexen Wirklichkeit. Zahllose Fragen sind vermutlich prinzipiell unbeantwortbar, etwa die Frage nach der Herkunft des Multiversums oder die nach dem Sosein bewussten Erlebens. Was aber der Aberglaube, was uns manchmal Paradisziplinen zumuten, hat nicht nur in unserem heutigen Weltbild keinen Platz, sondern bedeutet, abstruse Vorstellungen zu akzeptieren, die von der Wissenschaft längst anders erklärt oder als Unsinn ad acta gelegt wurden. Es scheint daher an der Zeit, vermeintliche wunderbare Phänomene auf das zu reduzieren, was sie vermutlich einzig und alleine sind, nämlich normalpsychologisch oder physikalisch deutbare Fakten. Und wir sollten versuchen, die vorläufigen Grenzen menschlichen Erkenntnisvermögen immer weiter hinauszuschieben, dennoch aber die prinzipiellen Grenzen anzuerkennen. Dabei bedeutet es selbst wieder ein Grenzproblem, wo die Grenze zu ziehen ist zwischen vorläufigen (empirischen, durch den jeweiligen Forschungsstand bedingten) und den grundsätzlichen unaufhebbaren Grenzen, welche durch die raumzeitliche Struktur unseres Erkenntnisapparats Gehirn festgelegt sind.

Wir müssen akzeptieren, dass es für uns unlösbare Probleme gibt, weil zweifellos kognitiv bedeutsame Phänomene existieren, die jenseits der Reichweite unseres Verstandes liegen. Wir müssen aber darüber hinaus anerkennen, dass gewisse Fragen im Rahmen der Wissenschaft unzulässig sind, weil sie mit wissenschaftlichen Methoden nicht behandelt werden können, die außerhalb des Zuständigkeitsbereichs der Wissenschaft liegen und anderen Bereichen – wie der Darstellenden Kunst, Dichtkunst, oder Musik – überlassen werden sollen und müssen.

Wissenschaft ist sicher ein ganz wesentlicher, ja der vornehmste Bereich menschlichen Tuns, aber es gibt neben dem kognitiven Unternehmen Wissenschaft auch noch den emotionalen und den Wertbereich, die von der Wissenschaft nicht durchgehend erfasst werden können.