Hausarzt und Neuraltherapeut – sind das zwei Paar Schuhe?
Was ist Neuraltherapie überhaupt? Und was kann man damit behandeln?
Für mich stellt die Neuraltherapie eine Brücke zwischen Schulmedizin und Komplementärmedizin dar. Es geht dabei nicht primär darum, Schmerzen zu unterdrücken, sondern deren Ursache zu finden und zu behandeln – über die Regulation des vegetativen Nervensystems, also jenes Systems, das unseren Körper wie ein inneres „Internet“ steuert.
Die Neuraltherapie ist eine Schmerztherapie, die in den 1920er Jahren von den Brüdern Huneke in Deutschland entwickelt wurde, sie feiert also bald ihr 100-jähriges Bestehen. Grundlage der Methode sind Injektionen mit Procain, einem lokalen Betäubungsmittel, das auch in der Zahnmedizin oder bei Wundversorgungen verwendet wird. Der Vorteil: Procain bleibt nur etwa 30 Minuten im Körper und wird vollständig am Ort des Geschehens abgebaut, es belastet also weder Leber noch Nieren. Mitte des letzten Jahrhunderts war Procain zeitweise in Verruf geraten, da man allergische Reaktionen befürchtete – diese Sorge hat sich jedoch nicht bestätigt.
In Österreich, Deutschland und auch in der Region Bern ist die Neuraltherapie weit verbreitet. Die Ausbildung erfolgt in Bern durch die Schweizerische Ärztegesellschaft für Neuraltherapie, eine FMH-anerkannte Weiterbildung, die auch ich absolviert habe.
Der schulmedizinische Aspekt der Neuraltherapie
Schmerzempfindungen verlaufen über das vegetative Nervensystem, das unseren gesamten Körper durchzieht. Wenn Sie z. B. eine heisse Herdplatte berühren, reagiert der Körper blitzschnell: Sie empfinden Schmerz, ziehen die Hand zurück, beginnen vielleicht zu zittern oder zu schwitzen – ähnlich verhält es sich bei Angstreaktionen.
Zwischen dem Schmerzort und dem Gehirn besteht ein Regelkreis. Schmerzen können sich im Nervensystem „einschreiben“ und chronisch werden, oft schon nach wenigen Wochen. Auch wenn die eigentliche Ursache längst behoben ist, bleibt der Schmerz bestehen. Hier setzt die Neuraltherapie an: Durch die Injektion von Procain kann die Schmerzübertragung unterbrochen werden. Der Regelkreis wird durchbrochen, ähnlich wie ein Computer, der neu gestartet wird. Das vegetative System hat die Möglichkeit, sich neu zu regulieren.
Was kann man erwarten?
Wenn der Schmerz rein lokal bedingt ist, ist oft eine rasche Besserung möglich. Besteht der Verdacht auf eine übergeordnete Störung, können Nervenknotenpunkte, sogenannte Ganglien, mit einbezogen werden, die bestimmte Körperregionen steuern:
Halsganglien: Kopf, Hals, Brustkorb, Arme
Solarplexus: Bauchorgane
Grenzstränge: Unterbauch, Beine
Diese Injektionen sind oft weniger schmerzhaft als Hautinjektionen und zeigen gute Wirkung.
Der komplementärmedizinische Teil: Das Fass-Prinzip
Der menschliche Körper ist wie ein Fass, das im Lauf des Lebens mit belastenden Einflüssen gefüllt wird: Entzündungen, Operationen, Narben, psychische Belastungen, Umweltfaktoren usw. Irgendwann ist das Fass voll, ein scheinbar harmloser Auslöser bringt es zum Überlaufen. Beschwerden treten auf, oft an einer ganz anderen Stelle als die Ursache. So kann nach einer Bauchoperation plötzlich die Schulter schmerzen oder nach einer Zahnbehandlung das Knie.
Am Schmerzort lässt sich dann nichts mehr ausrichten, erst wenn das „Störfeld“ (z. B. der Zahn) behandelt wird, verschwinden die Beschwerden. Neuraltherapie hilft, diese Störfelder zu identifizieren. Die Reaktion auf eine Spritze am Schmerzort kann bereits Hinweise auf tieferliegende Ursachen geben.
Ablauf der Behandlung
In der ersten halbstündigen Sitzung besprechen wir Ihre persönliche Krankengeschichte, mit Fokus auf belastende Ereignisse. Bitte bringen Sie eine Liste mit relevanten Vorkommnissen mit, z. B.:
Operationen
Wiederholte Entzündungen
Schwere Erkrankungen
Psychische Belastungen
Lebensereignisse, an die Sie sich gut erinnern
Anschliessend erfolgt meist eine Injektion am Schmerzort zur ersten Orientierung. Der weitere Verlauf ist individuell und richtet sich nach Ihrer Reaktion, die Behandlung ist so einzigartig wie Sie selbst.
Wichtig zu wissen: Manchmal kann ich keine Lösung bieten, etwa wenn das System zu stark blockiert ist oder die Ursache im Zahnbereich liegt. In solchen Fällen erfolgt eine Überweisung.
Was kann mit Neuraltherapie behandelt werden?
Alle akuten und chronischen Schmerzsyndrome
Sudeck-Syndrom (CRPS)
Migräne, Schwindel
Gelenkbeschwerden
Allergien, Hautausschläge, Ekzeme
Vegetative Beschwerden, Stimmungsschwankungen
Schmerzlinderung bei Krebserkrankungen
Durchblutungsstörungen
Und vieles mehr
Wichtige Hinweise & Nebenwirkungen
Kontraindikationen:
Allergie auf Lokalanästhetika
Einnahme von Marcoumar oder NOAK (nur oberflächliche Injektionen möglich – Aspirin Cardio und Plavix sind erlaubt)
Mögliche Reaktionen:
Schwindel, leichte Euphorie, emotionale Reaktionen (z. B. Tränen, Lachen)
Erstverschlechterung für 1–2 Tage; unangenehm, aber erwünscht!
Schmerzen an anderen Körperstellen; Hinweise auf Störfelder
Hämatome, selten Nervenirritationen
Sehr selten Kreislaufreaktionen; bei Ganglieninjektionen bleiben Sie deshalb noch 20 Minuten zur Kontrolle
Kostenübernahme:
Seit dem 1. Juli 2011 wird die Neuraltherapie von der Grundversicherung übernommen.