Einige Texte über den Anarchismus, die gut aufzeigen, dass es beim Anarchismus nicht um Chaos und Zerstörung geht.
Quelle: Entnommen am 5.6.2015 von https://www.anarchismus.at/anarchistische-klassiker/peter-kropotkin/ 7275-peter-kropotkin-die-entwicklung-der-anarchistischen-ideen Originaltext: Nachdruck der Broschüre „Die Entwickelung der anarchistischen Ideen“, erschienen im Verlag „Der Syndikalist“, Fritz Kater, Berlin 1920. (Nachdruck aus den 70ern [?] ohne weitere Angaben). Die deutschsprachige Übersetzung erfolgte 1912 durch Pierre Ramus. Zuerst erschienen in der „Encyclopédie du Mouvement Syndicaliste“, Maiheft 1912. Digitalisiert und bearbeitet (Entwickelung zu Entwicklung, ae zu ä u.a.) von www.anarchismus.at
Wer mit dem Blick auf zeitlose Weiten neue Moral, neue Gerechtigkeit, neue Menschlichkeit zum Inhalt seines Strebens macht, der weiß aus unzähligen Erfahrungen, daß er mißverstanden wird. Es ist fast notwendiges Schicksal seiner Überredungskunst, selbst bei Menschen von Verstand, Kritik und gutem Willen Kopfschütteln und Achselzucken zu erregen. Denn jede Agitation, deren Absicht nicht zeitlich begrenzt ist, steigt unbekümmert und rücksichtslos über praktische Bedenklichkeiten hin. Für bürgerliche – das heißt gegenwartsbesorgte – Naturen ist das Ziel immer der nächste Schritt. Wer aufs Ideal steuert, „schießt über das Ziel hinaus“. Den Weg zu einem Ziele nicht in jeder Kurve kennen, das Werkzeug zu einem Kampfe nicht auf jede Gefahr erprobt haben, das bewirkt die Zweifel, das Warnen, das Bangemachen und selbst den gewalttätigen Widerstand gegen Tendenzen, gegen deren Ehrlichkeit garnichts eingewandt wird. Aber wer im reinen Gefühl die Wahrheit weiß und in kluger Skepsis von ihr abläßt, den heiße ich einen Lumpen. Hier ist mein idealer Zweck – da sehe ich das Mittel, ihn zu erfüllen: was kümmert mich die Chamade der Vorsichtigen? Naturwissenschaftler, Volkswirtschaftler, Historiker, Geographen, Politiker und Kaufleute sollen hundertmal recht haben, – mein Gefühl, das seine Wege kennt, können sie nicht widerlegen. Ich will den Völkerfrieden, weil er mich gut dünkt. Ich weiß, er wird sein, wenn die Arbeit der Menschen nicht mehr für den Krieg steuert, wenn die Soldaten sich weigern, ihresgleichen zu töten, wenn der Wille der Völker auf Frieden aus ist. Ich will Sozialismus und Anarchie. Ich weiß sie möglich, wenn Arbeit und Verbrauch auf gerechten Ausgleich gebracht sind, wenn Ordnung und Friedfertigkeit in den Menschen Leben gewonnen haben, wenn Autorität und Gehorsam, Herrschaft und Knechtschaft aus der Gewohnheit der Völker gewichen sind. Sie werden weichen, wenn allenthalben aus der Sehnsucht nach Freiheit der Wille zur Freiheit geworden ist. Ich will Kultur und Kunst Gemeingut der Völker wissen. Sie werden es sein, wenn der Geschmack der Besten sich Allen mitgeteilt hat, wenn die Ethik der Massen sich zum Anstand geformt hat, wenn aus Zwang und Strafe Rechtlichkeit und Verständigung geworden ist. Aber für den Frieden sind alle Vorbedingungen nicht erfüllt. Die Völker haben ein natürliches Expansionsbedürfnis und bedrohen die Grenzen ihrer Nachbarn. Gehorsamsverweigerung, Generalstreik, Revolution ziehen entsetzliche Strafen nach sich. Der Gedanke, das Raubtier Mensch werde in Ordnung und Verständigkeit miteinander auskommen, der Geschmack der rohen Masse könne umgeformt werden, Freiheit werde jemals etwas anderes sein als eine schöne Phrase, ist absurd und kindlich. Schon die Formulierung deiner Ideale ist ein Beweis, wie unabwendbar und naturgewollt alle die Einrichtungen sind, die du bekämpfst. Bitte: ich fordere nicht auf, – ich bekenne. Und ich 3 suche meine Gefühle, die mir Wahrheiten sind, in das Gefühl der Nebenmenschen zu verpflanzen. Verstandeskühle Einwendungen können richtig oder falsch sein, – an der Erkenntnis dessen, was gut und recht ist, prallen sie ab. Das also ist das Wesen der Agitation: auszusprechen, was subjektiv wahr ist, die Energie der andern nach der Richtung zu beeinflußen, die zu erstreben ist. Was die stärkste Energie – Weniger oder der Menge – wollen wird, das wird die Zukunft sein. Unmittelbare praktische Wirkungen gelten nicht allzuviel. Sie sind nur wertvoll als Symptome eines neuen Geistes, der unterirdisch im Werden ist. Der neue Geist aber entsteht heimlich und unbeobachtet, langsam und viel später, als sein Same gestreut ist. Wenn er zuerst in einem Gedanken, einer Tat, einem Kunstwerk oder einer Erkenntnis plötzlich aus dem Boden schießt, dann ist sein Ursprung längst nicht mehr zu entdecken, dann hat er gewirkt, als ob er selbstverständlich und ohne Rausch wäre. Plötzlich ist eine neue Bewegung da, überraschend, scheinbar aus dem Nichts gestampft. Sie zieht Kreise, wächst, wirkt, aber ihre Herkunft ist verschollen. Aller Fortschritt ist diskreter Geburt, denn er stammt vom heiligen Geist, er stammt aus der Sehnsucht und der Bitternis vergangener Idealisten. Freilich sieht jeder Erfolg des Idealismus anders aus als seine Werbung. Was daraus eingeht in das Leben des Menschen, sind Anpassungen an geltende Verhältnisse, sind nichts weiter als Entwicklungsfaktoren. Gerade darum aber müssen die Forderungen an die Welt so schroff wie möglich gestellt werden, muß stets das denkbar Äußerste verlangt werden, ohne Rücksicht auf die Aussichten der Verwirklichung. Nur die ideale Forderung in ihrem weitesten Umfange schafft Fortschritte im engen Kreise. Die Utopie ist die Vorbedingung jeder Entwicklung. Die Entwicklung hat mit dem Abrollen der Jahre nichts zu tun, nicht nur, weil uns die Irrealität der Zeit bewußt ist, sondern weil uns die Geschichte der Vergangenheit lehrt, daß die vorgeschrittene Jahreszahl keine Gewähr gibt für höhere Kultur und tieferen Menschenwert. Einsichten und Sitten entstehen und verschwinden mit dem Werden und Vergehen der Generationen. Nie wird die Zeit kommen, die keiner Revolution bedürfte. Dennoch wollen wir unser Weltbild gestalten nach dem Ideal der Vollkommenheit, und das können wir, wenn wir den Blick aufs Künftige, und das ist aufs Ewige, gerichtet halten. Und wir wollen uns freuen, wenn irgendwo aus dem Geschehen der Zeit eine Blüte treibt, in der wir verwandelt und verdünnt den Keim unserer Werbung erkennen. Wir erleben seit einem halben Jahrhundert eine gewaltige soziale Bewegung. Die werktätige Menschheit, also die Sklaven und Entrechteten, haben sich auf ihren Anspruch besonnen, an den Lebenswerten teilzunehmen. Ja, sie haben begriffen, worauf ihre Versklavung beruht, und sie haben erkannt, daß die Ablösung des Kapitalismus Sozialismus heißen muß. Zwar kamen die Advokaten und Politiker, die Geschäftemacher und Demagogen, und bemächtigten sich der Idee der Gerechtigkeit und der Befreiung, indem sie daraus ein Parteiprogramm machten. Zwar kam die Trägheit des Denkens und Handelns wieder über die Massen und der tiefste Fluch des Lebendigen, die Zufriedenheit. Aber ein Funke aus der heiligen Glut der Saint-Simon, Proudhon, Bakunin, Lassalle schwält noch unter dem Schutt, und wir Lebenden dürfen nicht ruhen, ihn freizumachen und zu neuem hellen Feuer anzublasen. Aus der Schande tausendjähriger Entwürdigung als Kreatur der Männer ist das Weib erwacht. Es will Mensch sein, die Rechte und Anerkennung des Menschen haben. Daß die kämpfenden Frauen unserer Tage im Langen nach dem Gute der Freiheit vorbeigreifen und statt Menschenrechte Männerrechte begehren, soll uns nicht verdrießen. Die Not und die Verstocktheit der Zeit hat den Frauen Männerpflichten auferlegt. Vielleicht schafft sich doch einmal die Einsicht Bahn, daß nun nicht die Assimilation ans andere Geschlecht, sondern die Befreiung von seiner Herrschaft – das ist die Freiheit des Weibes in Liebe und Mutterschaft – das Glück des Frauentums wäre. Sie müssen ihre Ziele weit 4 setzen, die Frauen, die in den Kampf getreten sind. Die Neubildung aller gesellschaftlichen Formen auf dem Boden des Mutterrechts müssen sie verlangen. Wenn sie es dann einmal erreichen, daß kein Weib mehr ein anderes deswegen verachtet, weil es Mutter ist, dann müssen sie die Genugtuung fühlen, daß ihr Werben und Kämpfen nicht umsonst war, wie sie selbst Zeugnis dafür sein sollten, daß die herrlichen Frauen der Romantik nicht umsonst die Vorbilder freier, schöner Weiblichkeit waren. Seit ganz kurzem aber beobachten wir die ersten Atemzüge einer neuen Bewegung, die vielleicht berufen sein wird, das höchste anarchistische Ideal, die Selbstbestimmung des Menschen, sein stolzes Vertrauen auf die eigene Persönlichkeit zur Sehnsucht der gehorsambeherrschten Zeitgenossen zu machen. Zum erstenmale organisiert sich die Jugend gegen Autorität und Zwang, gegen Tradition und Erziehung, gegen Schule und Eltern. Die jungen Leute wollen die Hälse freibekommen von dem Umschnürungen der Verbote und des Drills. Sie wollen anerkannt werden als Menschen mit eigner Sehnsucht, mit eignem Leben, die nicht zu danken, sondern zu fordern haben. In schönem Radikalismus streben sie nach den größten Dingen: nach Wahrheit in Empfangen und Geben, nach Freiheit in Leben und Lernen, nach Raum zum Atmen und Werden. Was in der Zeitschrift der Jugend Der Anfang aus jungen Herzen nach Ausdruck drängt, das ist viel ungegorenes und manchmal bizarres Zeug, aber es ist die Sprache der Jugend, es ist das aufgeregte und den Freund der Zukünftigen heiß aufregende Bekennen heiliger, starker revolutionärer Inbrünste. Mögen Lehrer, Pfaffen und Eltern vor Entsetzen bersten, mögen sie sich mit Maulkörben bewaffnen und die Polizei herbeirufen, um das freie Wort im Munde der Jungen zu verstopfen, – es nützt nichts mehr. Der Gedanke ist stärker als das Wort, der Gedanke ist losgelassen, ihn hält nichts mehr auf. Das Problem Väter und Söhne ist gelöst, die Jugend hat es gelöst. Sie schreitet dahin über den Jammer der Alten wie der Frühling über die Dürre des Winters. Die immer und immer bewährten „Erfahrungen“ der Sechzig- und Siebzigjährigen sind um diese bereichert worden: daß die recht haben, die eine ganze Generation jünger sind, also um eine Generation Erfahrungen mehr haben. Der Kampf der Jungen ist angefacht. Er wird zum Siege führen, denn an Nachwuchs wird er nie Mangel haben, und die fröhliche Torheit, die das schöne Vorrecht der Jugend ist, wird allzeit seine gute Waffe sein. Hier ist ein prächtiges Beispiel, wie idealistische Agitation wirkt, bis der Ursprung verwischt ist und bis plötzlich an einer Stelle, die niemand kannte, in einer Art, die niemand voraussah, ihr Segen aus der Erde quillt. Was haben die Alten nicht getan, um ihre Macht über die Jungen zu konservieren! Sie haben verboten und gestraft, geprügelt und gelogen, sie haben das Geheimnis der Menschwerdung vor den Kindern gehütet, als ob alles Seelenheil in Gefahr wäre, wenn der Junge weiß, wie das Mädel beschaffen ist. Und nun stellt sich die Jugend lachend vor ihnen auf und ruft ihnen ins Gesicht: ihr braucht uns nichts zu erklären, denn wir sind längst so klug wie ihr. Ihr braucht uns nichts zu verbieten, denn wir tun doch, was wir für recht halten. Ihr braucht uns nichts zu befehlen, denn wir gehorchen euch nicht mehr. Wir Älteren haben das noch nicht gewagt, wie brünstig wir es auch gefühlt haben. Aber nun wollen wir uns ehrlich freuen, daß wir es bei den Jüngeren mit ansehen dürfen, und die nach uns kommen werden, wollen wir in einem Geiste aufwachsen lassen, der die Beherrschung in sich selbst hat und keine Beherrschung von außen mehr duldet. Die Jugend, der Nachwuchs, die kommende Generation hat sich mündig erklärt. Das Alter ist nicht berechtigt, mit seinen überlebten, verknöcherten Prinzipien daran zu rütteln. Bei der Jugend ist alle Zukunft geborgen. Ihr wollen wir unsere Ideale anvertrauen. Haben wir die jungen Leute gewonnen, dann haben wir alles gewonnen: Freiheit und Kultur, Revolution und neue Menschheit. Die Jugend soll uns die Staaten zertrümmern und den Frieden aufbauen, sie soll Sozialismus und Kultur schaffen, sie soll die Erde dem Geiste und dem Menschenglück bewohnbar machen. Wir anderen müssen uns 5 ja wohl begnügen, ihr in Dichtung und Werbung anfeuernd zuzurufen und zu gleichem Tun denen den Mund zu öffnen, in denen die geistigen Güter der Menschheit gespeichert sind. Noch verträumen die Künstler und Kulturellen ihre Zeit in ästhetischen Zirkeln. Noch haben sie nicht begriffen, daß sie zum Volke gehören, in die Gemeinschaft aller, und daß ihr Werk erst Wert enthält, wenn es Resonanz findet im Herzen der Mitmenschen. Der Geiste der Lebenden gehört an die Spitze und in die Gefolgschaft der rebellischen Jugend. Seien wir Agitatoren, bilden wir eine Jungmannschaft der Welt, auf daß auch unser Wort Keime lege zu neuem Geschehen und neuer Gestaltung! Verstopfen wir unsere Ohren vor den Unkenrufen träger Philister und vor den Rechenexempeln praktischer Nörgler! Rufen wir die Wahrheit unserer Ideale aus, unbekümmert um Erfahrungen und zweifelnde Erwägungen, – und wir werden eine Welt erleben, die auf Schönheit und Gemeinschaft und – fern ab von Gott und Kirche - auf religiöser Inbrunst errichtet ist.
Erich Mühsam - Trotz allem Mensch sein. Gedichte und Aufsätze. Hg. Jürgen Schiewe und Hanne Maußner. Philipp Reclam jun. Stuttgart 1984, ISBN 3-15-008238-2, S. 99-105. 6 Idealistisches Manifest Erich Mühsam April 1914
Einiges Vorläufige vom Liebesstaat. Max Stirner 1844 Allbekannt ist das sogenannte Sendschreiben des Freiherrn von Stein. Man hat daraus die Meinung gefaßt, daß die später eintretende Reactionsperiode sich den im Sendschreiben ausgesprochenen Grundsätzen entfremdet und einer andern Sinnesart zugewendet habe, so daß der Liberalismus vom Jahre 1808 nach kurzer Dauer in einen bis auf unsere Tage hinausgezogenen Schlaf gesunken sei. An dem angeblichen Verkennen jener Principien läßt sich jedoch zweifeln, und es müßte auch schon äußerlich sehr auffallend erscheinen, daß dieselben kraftvollen Menschen, welche wenige Jahre zuvor unter den stürmischesten Umständen eine freisinnige Ansicht aufstellten, kurz darauf so ohne weiteres von [35] ihr abgefallen sein sollten, um einen entgegengesetzten Weg einzuschlagen. Hat man es doch endlich erkannt, daß die langgehegte Meinung, die französische Revolution sei durch das Umschlagen der Napoleonischen Kaiserherrschaft sich selbst untreu geworden, auf einem Urtheil und oberflächlichen Urtheil beruhe; warum sollte nun nicht zwischen dem Stein’schen Liberalismus und der spätern, sogenannten Reaction ein ähnlicher Zusammenhang stattfinden? Sehen wir das Sendschreiben darauf hin etwas näher an. Zwei Zielpunkte hat, wie sogleich in die Augen springt, Stein mit der französischen Revolution gemein, nämlich die Gleichheit und Freiheit, und es kommt nur darauf an, wie er die eine und andere bestimmt. Was zunächst die Gleichheit betrifft, so erkannte er, daß die Uebermacht der um ihres Standes willen Bevorzugten, der Privilegirten, gebrochen werden, und an die Stelle der Vielherrschaft eine vollständige Centralisation treten müsse. Daher sollte diejenige “Erbunterthänigkeit”, welche über die Unterthanen des einen Herrn, des Königs, noch viele kleinere Herren herrschen ließ, [36] ein Ende nehmen; nur die Eine Erbunterthänigkeit Aller sollte bleiben und gerade durch die Entsetzung der vielen Herren gestärkt werden. Gleicher Weise sollte die “Polizeige-walt” Einzelner verschwinden, damit Eine Polizei über alle Unterthanen wache. Die “Patrimonialge-richtsbarkeit”, wenigen durch alte Gerechtsame Bevorzugten gehörig, sollte durch Eine monarchische Justiz abgelöst werden, und die Richter allein “von der höchsten Gewalt abhängen.” Durch diese Centralisation wird das Interesse Aller auf Einen Punkt hingezogen, auf den König: man ist fortan nur ihm unterthan, ohne sonstige Erbunterthänigkeit gegen andere Unterthanen des Königs; man steht nur unter Seiner Polizeigewalt; man empfängt nur von fürstlicher Justiz den Rechtsspruch; man hängt nicht mehr vom Willen der “höher Geborenen” ab, sondern allein von dem der “höher Gestellten” d. h. derer, welche der König um seinen Willen zu vollziehen, an Seiner Statt einsetzt und über diejenigen stellt, für welche sie in 11 Seinem Namen zu sorgen haben, der – Beamten. – Die Lehre von der Gleichheit, wie sie in dem Sendschreiben vorliegt, [37] kommt also darauf hinaus, Alle auf das gleiche Niveau der Unterthänigkeit zu bringen. Kein Unterthan des Königs sei in Zukunft zugleich der Unterthan eines Unterthanen; die Standesdifferenzen der Abhängigkeit seien ausgeglichen, und Eine Abhängigkeit die allgemeine. Diesen Grunsatz der Gleichheit kann man unmöglich mit dem der französischen Revolution verwechseln. Die letztere verlangte eine Gleichheit der Bürger, die des Sendschreibens eine Gleichheit der Unterthanen, eine gleiche Unterthänigkeit. Einen geeigneten Ausdruck findet jener Unterschied auch darin, daß die im Sendschreiben verlangte “Na-tionalrepräsentation” die “Wünsche” der nivellirten Unterthanen vor den Thron bringen soll, während in Frankreich die Bürger mittelst ihrer Repräsentanten einen “Willen”, freilich nur einen Bürgerwillen, keinen freien, haben. Der “Unterthan” darf mit Recht nur “wünschen.” Zweitens will aber das Sendschreiben nicht blos die Gleichheit, es will auch die Freiheit Aller. Daher der Aufruf: “Sorget, daß Jeder,” (mit diesem Worte wird die Gleichheit der Unterthanen [38] ausgedrückt) “seine Kräfte frei in moralischer Richtung entwickeln könne.” In moralischer Richtung? Was soll das heißen? Als Gegensatz kann die physische Richtung nicht gedacht werden, da das Sendschreiben ein “physisch und moralisch kräftigeres Geschlecht erzielen will.” Auch die intellectuelle Richtung wollte man wohl schwerlich von der moralischen ausschließen, da man die Wissenschaft ja möglichst begünstigte. Am einfachsten bleibt als Gegensatz der moralischen die unmoralische Richtung übrig. Unmoralisch ist aber ein Unterthan, wenn er aus dem Kreise seiner Unterthanen-Eigenschaften hinausgeht. Ein Unterthan, der im Staatsleben, in der Politik sich einen “Willen” anmaßte, statt des “Wunsches”, der wäre offenbar unmoralisch; denn in der Unterthänigkeit besteht allein der moralische Werth des Unterthanen: im Gehorsam, nicht in der Selbstbestimmung. So scheint also die “moralische Richtung” sich für unvereinbar mit der “spontanen Richtung”, der Richtung auf den freien Willen, auf Selbstständigkeit und Souverainetät des Willens zu erklären, und da das Wort “moralisch” auf die Verpflichtung hindeutet, so wird man [39] wohl eine Erweckung des Pflichtgefühls gewollt und dieß unter “freier Kraftentwicklung” verstanden haben. Ihr seid frei, wenn ihr eure Pflicht thut! ist der Sinn der moralischen Richtung. Worin besteht aber die Pflicht? Das Sendschreiben drückt sie klar und bestimmt mit den zur Devise gewordenen Worten aus: “In der Liebe zu Gott, König und Vaterland!” Frei in moralischer Richtung entwickelt sich, wer sich zu dieser Liebe entwickelt; der Erziehung war dadurch ihr bestimmtes Ziel gesteckt, sie war von Stund’ an eine moralische oder loyale, eine Erziehung des Pflichtgefühls, wohin natürlich auch die religiöse Erziehung gerechnet werden muß, weil auch sie die Pflicht gegen Gott einprägend, nichts anderes als eine moralische Erziehung ist. Und allerdings ist man moralisch frei, sobald man seine Pflicht erfüllt; das Gewissen, diese Gewalt der Moralität über die Immoralität, die Gebieterin des moralischen Menschen, sagt dem pflichtgetreuen Menschen, daß er recht gehandelt habe: “mein Gewissen sagt mirs!” Darüber freilich, ob die befolgte Pflicht wirklich – Pflicht sei, sagt das Gewissen nichts; es spricht nur, [40] wenn das, was für Pflicht gilt, verletzt wird. Daher empfiehlt das Sendschreiben, das Gewissen zu wecken, die Pflicht “gegen Gott, König und Vaterland” einzuschärfen, den religiösen Sinn des Volkes zu beleben und die Erziehung und den Unterricht der Jugend zu pflegen. – Dieß ist die Freiheit, mit welcher nach dem Sendschreiben das Volk beglückt werden soll: die Freiheit in der Pflichterfüllung, die moralische Freiheit. Wie oben die Gleichheit des Sendschreibens von jener, welche die französische Revolution verkündigte, sich wesentlich unterschied, so hier die Freiheit. Frei ist der souveraine Bürger des souverainen Volkes – so lehrte die Revolution; frei ist, wer Gott, König und Vaterland liebt – so lehrt das Sendschreiben: dort ist der souveraine Bürger frei, hier der liebevolle Unterthan, dort bürgerliche Freiheit, hier moralische. 12 Und dies Princip der Gleichheit und Freiheit als – Unterthanengleichheit und moralische Freiheit war nicht etwa nur der Sinn jenes Sendschreibens und seiner Verfasser, sondern es war das herrschende Gefühl des gesammten Volkes, war das neue [41] begeisternde Princip selbst, mit welchem es gegen die Napoleonische Uebermacht anstürmte: es was die revolutionäre Freiheit und Gleichheit, umgewandelt zur christlichen Freiheit und Gleichheit. Es war mit einem Wort das Princip des deutschen und insbesondere des preußischen Volkes von seiner Erhebung gegen die Fremdherrschaft an, durch die sogenannte Reactions- oder Restaurationsperiode hindurch bis – nun bis es ein Ende hat. Deshalb muß man die Meinung, als hätte ein politischer Freiheitsdrang, dem revolutionären ähnlich, das Volk zum Siege über Napoleon geführt, als irrig verwerfen. Wäre sein Prinzip das politische gewesen, es würde dasselbe nicht aufgegeben oder in seine Verkümmerung gewilligt haben. Man thut der Regierung Unrecht, wenn man glaubt, sie habe dem Volke etwas entzogen, wonach dieses mit Bewußtsein trachtete. Abgesehen von der Unmöglichkeit solcher Entziehung, so waren Regierung und Volk wirklich einhellig in der Abwehr der politischen Freiheit, dieser “Ausgeburt der Revolution.” Das eben erwarb ja Friedrich Wilhelm III., so viel Hingebung und Liebe, daß er gleichsam die vollendete [42] Personification jener moralischen Freiheit darstellte, daß er durch und durch ein Mann der Pflicht, ein gewissenhafter Mensch war: “der Gerechte!” Den Mittelpunkt der moralischen Freiheit bildet, wie wir sehen, die Pflicht der – Liebe. Wie ohne Widerspruch zugegeben zu werden pflegt, ist das Christenthum seinem innersten Wesen nach die Religion der Liebe. Darum wird denn auch die moralische Freiheit, die sich in dem Einen Gebote der Liebe concentrirt, die reinste und bewußteste Erfüllung des Christenthums sein. Wer nichts als Liebe ist, der hat das Höchste erreicht, der ist wahrhaft frei! – so lautet das Evangelium der moralischen Freiheit. Als diese Ueberzeugung in den Herzen erwachte, und sie mit der Seeligkeit einer triumphirenden Wahrheit erfüllte, da mußte die Kraft des Despoten zu klein sein gegen die Gewalt eines solchen Gefühls, und das Christenthum in seiner verklärtesten Gestalt, als Liebe, die Völker entzündend, rückte mit Siegesgewißheit heran gegen den Geist der Revolution. Dieser hatte das Christenthum von der Erde vertilgen wollen, aber es raffte sich auf mit der ganzen Kraft seiner Natur, [43] es trat als – Liebe gegen ihn in die Schranken, und es siegte, siegte über einen Geist, der zwar viel an ihm zu erdrücken vermogt hatte, aber das Eine nicht erdrücken konnte, – Die Liebe. Denn wie viel des Christlichen auch gefallen war unter den Streichen der Revolution, die Liebe – sein innerstes Wesen, – war in dem Bußen der revolutionairen Freiheit stecken geblieben. Sie hegte die Feindin in sich selbst, darum mußte sie vor der Feindin, als diese von Außen heranzog, erliegen. Doch lernen wir ein wenig diese Feindin der revolutionairen Freiheit, die Liebe selber, kennen! Man pflegt der Liebe die Selbstsucht gegenüber zu stellen, weil es die Natur der Letzteren mit sich bringt, daß, wer ihr folgt, ohne Rücksicht auf den Andern, oder unbarmherzig verfährt. Setzen wir nun den Werth des Menschen in die Selbstbestimmung d. h. darin, daß nicht eine Sache oder eine andere Person ihn bestimmen, sondern er selbst der Schöpfer seiner selbst, mithin Schöpfer und Geschöpf in Einem sei, so wird der Selbstsüchtige wahrscheinlich am weitesten hinter diesem [44] Ziele zurückbleiben. Sein Grundsatz lautet so: die Dinge und die Menschen sind für mich da! Vermöchte er hinzuzusetzen: ich bin auch für sie da, – so wäre er eben der Selbstsüchtige nicht mehr. Er geht nur darauf aus, den Gegenstand seiner Begierde zu haschen, läuft z. B. in der Brunst einem Mädchen nach, um dieß allerliebste “Ding” (denn für mehr als ein Ding gilt es ihm nicht) zu – verführen u. s. w. Um dieses Mädchens willen ein anderer Mensch zu werden, selbst etwas aus sich zu machen, um sie dadurch zu verdienen: das fällt ihm nicht ein, wie er ist, so ist er. Das eben macht ihn so verächtlich, daß keine Selbstgestaltung und Selbstbestimmung an ihm zu entdecken ist. 13 Ganz anders der Liebende. Die Selbstsucht ändert den Menschen nicht, die Liebe macht einen andern Menschen aus ihm. “Seit er liebt, ist er ganz andrer Mensch geworden” pflegt man zu sagen. Aber er macht als Liebender auch wirklich selbst etwas aus sich, indem er Alles an sich tilgt, was dem Geliebten widerspricht; willig und hingebend läßt er sich bestimmen, und durch die Pas- [45] sion der Liebe umgewandelt, richtet er sich nach dem Andern. Sind in der Selbstsucht die Gegenstände nur für mich da, so bin ich in der Liebe auch für sie: wir sind für einander. Ueberlassen wir jedoch die Selbstsucht ihrem Schicksal und vergleichen wir lieber die Liebe mit der Selbstbestimmung oder Freiheit. In der Liebe bestimmt sich der Mensch, gibt sich ein gewisses Gepräge, wird zum Schöpfer seiner selbst. Allein er thut das Alles um eines Andern, nicht um seinetwillen. Die Selbstbestimmung ist noch abhängig von dem Andern: sie ist zugleich Bestimmung durch den Andern, ist – Passion: der Liebende läßt sich bestimmen, bestimmen durch den Geliebten. Der freie Mensch dagegen bestimmt sich weder durch noch für einen Andern, sondern rein aus sich; er vernimmt sich und findet in diesem Selbstvernehmen den Antrieb zur Selbstbestimmung: nur sich vernehmend, handelt er vernünftig und frei. Es ist ein Unterschied, ob man durch einen Andern oder durch sich bestimmt wird, ob man ein Liebevoller ist oder ein Vernünftiger. Die Liebe lebt von [46] dem Grundsatze, daß Jeder, was er thut, um des Andern willen thue, die Freiheit von dem, daß er es um seinetwillen thue; dort treibt mich die Rücksicht auf den Andern, hier treibe ich mich. Der Liebevolle handelt um Gottes willen, um der Brüder willen u. s. w. und hat überhaupt keinen eigenen Willen: “nicht mein Wille, sondern dein Wille geschehe” – das ist sein Wahlspruch; der Vernünftige will keinen andern Willen verwirklichen als den seinen, und achtet auch Denjenigen, der seinen eignen Willen hat, nicht den, der den Willen eines Andern befolgt. So hat die Liebe wohl Recht gegen die Selbstsucht, da es edler ist, den Willen eines Andern zu dem seinigen zu machen, und auszuführen, als willenlos von der durch irgend ein Ding angeregten Begierde gestachelt zu werden, edler, sich nach einem Andern zu bestimmen, als sich gar nicht zu bestimmen, sondern sich gehen zu lassen; gegen die Freiheit aber hat die Liebe nicht Recht, weil in der Freiheit erst die Selbstbestimmung zur Wahrheit wird. Die Liebe ist zwar die letzte und schönste Unterdrückung seiner selbst, die glorreichste Weise der Selbstver- [47] nichtung und Aufopferung der wonnereichste Sieg über die Selbstsucht; aber indem sie den Eigenwillen bricht, der nur Eigensinn und Begierde heißen dürfte, läßt sie auch zugleich den Willen nicht aufkommen, der dem Menschen erst die Würde des freien Menschen verleiht. Darum müssen wir an der Liebe zweierlei unterscheiden. Gegen die Selbstsucht gehalten, feiert der Mensch in ihr seine Verherrlichung, denn der Liebevolle hat, wenn auch nicht seinen eigenen, so doch einen Willen, der Selbstsüchtige hat keinen; der Liebevolle übt eine Selbstbestimmung aus, weil er um des Andern willen etwas aus sich macht und sich in die diesem angemessene Form umbildet, der Selbstsüchtige kennt die Selbstbestimmung nicht und verharrt in seiner Rohheit, ohne in irgend einem Grade sein eigener Schöpfer zu werden; der Liebevolle ist ein Gebilde seiner selbst, indem er sich im Andern sucht und findet, der Selbstsüchtige ein Geschöpf der Natur, eine – Creatur, die sich nicht sucht noch findet. – Wie aber erscheint die Liebe Angesichts der Freiheit? Die Braut von Corinth spricht jene grausenvollen [48] Worte aus, mit denen das entsetzliche Verbrechen der Liebe gegen die Freiheit enthüllt wird: “Opfer fallen hier Weder Lamm noch Stier, Aber Menschenopfer unerhört!” 14 Ja, Menschenopfer unerhört! Denn was den Menschen erst zum Menschen macht, der freie Wille, das schmettert die Liebe, ihr Reich für das alleinseligmachende erklärend, von ihrem souverainen Throne aus, donnernd nieder, und auf Sklaven-Schultern hoch emporgehoben, proclamirt sie die Alleinherrschaft der – Willenlosigkeit. Weil nicht in jeder Zeit Jegliches gesagt werden kann, so brechen wir hier ab und überlassen es einer günstigeren Gelegenheit, die Erscheinungen des Liebesstaates im Einzelnen darzulegen1 . Ueberall werden wir dabei dem Grundsatze begegnen, daß der Liebevolle nicht Willen, sondern Wünsche [49] hat, und werden sehen, wie prophetisch das große Wort des Gouverneurs von Berlin, Grafen von Schulenburg war: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht! In den Armen der Liebe ruht und schläft der Wille, und nur die Wünsche, die Petitionen, wachen. Ein Kampf durchzieht allerdings auch diese Zeit des Liebesregimentes: es ist der Kampf gegen die Lieblosen. Da Einmütigkeit das Wesen der Liebe ist, da Fürsten und Völker in Liebe verbunden sind, so müssen sie ausscheiden, was den Liebesbund lockern will: die Unzufriedenen (Demagogen, Carbonari’s, Cortes in Spanien, Adel in Rußland und Polen u. s. w.). Sie stören das Vertrauen, die Hingebung, die Eintracht, die Liebe; “unruhige Köpfe” rühren die Ruhe des Vertrauens auf, und – Ruhe ist die erste Bürgerpflicht!
Stirner Berliner Monatsschrift. Hrsg. v. Ludwig Buhl. Erstes und einziges Heft, Juli 1843. (Selbst-Verlag) Mannheim 1844, pp. 34-49. 1 Er ist es werth, denn er ist die vollendetste und – letzte Form des Staates. 15
Die Vorläufer
Früher verstand man unter dem Namen Anarchie „das Fehlen der Regierung und infolgedessen die Unordnung“. Aber schon zur Zeit der großen französischen Revolution wurde das Wort in viel weiterem Sinne angewendet. Als die Girondisten in 1792 zur Macht gelangten, bezeichneten sie die vorgeschrittenen Revolutionäre als „Anarchisten“ – besonders jene der Kommune von Paris, die, über die Gleichheit der politischen Rechte hinausgehend, die tatsächliche Gleichheit forderten. Alle jene, welche die Gleichmachung der Vermögen, die Bestimmung eines Maximalpreises für die notwendigsten Lebensbedürfnisse, das Recht aller auf die Erde und die Organisierung des Austausches durch die Nation anstrebten und sich zur Erlangung dieser Ziele der revolutionären Aktion bedienten, waren für die, zu Regierungsmenschen gewordenen Girondisten „Anarchisten“. Dieser Name wurde sogar so allgemein gebraucht, daß die ersten Geschichtsschreiber der Revolution (wie Mignet) ihn durchgängig anwandten, um die vorangeschrittenen volkstümlichen Revolutionäre („über Marat hinaus“, wie Camille Desmoulins sagte) zu bezeichnen. Während derselben Zeit fand sich in England ein Schriftsteller William Godwin (1756 bis 1863) der, ohne das Wort Anarchie zu gebrauchen, den Mut hatte, in 1793 ein politisches und philosophisches Werk zu veröffentlichen („Untersuchungen über das Wesen der „politischen Gerechtigkeit und ihren Einfluß auf die Tugend und das Glück der Gesellschaft“), in welchem er die Abschaffung des Staates und seiner Gesetze und die Organisierung der Gesellschaft auf kommunistischer Grundlage forderte und die Ansicht vertrat, daß die Gerechtigkeit in der Gesellschaft nur so verwirklicht werden könne, wenn der Staat und dessen von und für die Privilegierten gemachten Gesetze aufhören und der gesellschaftliche Reichtum auf den wirtschaftlichen Beziehungen unter Gleichen und auf dem Gemeinbesitz begründet wird. Während der großen Revolution bestanden ununterbrochene Beziehungen zwischen den englischen Republikanern, (zu denen Godwin und seine Freunde gehörten) und den französischen Revolutionären, und Godwin ist jedenfalls durch den revolutionären Geist und dem selbständigen Handeln der Pariser Kommune und deren Sektionen beeinflußt worden. Aber für seine Ideen gegen den Staat hatte er auch die französischen Encyclopädisten (besonders Diderot) und deren englische Vorläufer als Vorgänger. So hatte schon der große englische Philosoph Locke das Recht des Individuums gegen den Staat in einer freien Gesellschaft verkündet; und die wirtschaftliche Befreiung, Hand in Hand gehend mit der politischen Befreiung, wurde bereits von Priestley, Price, Thomas Payne und einigen anderen gefordert, trotz der schweren Strafen, denen sich diese Rebellen von Seite der Kirche und des Staates aussetzten. Andernteils fand Godwin auch Nachfolger in den zwei großen englischen Dichtern Shelley (seinem Schwiegersohn) und Byron, deren Hauptwerke vom Geist der Empörung gegen den Staat durchdrungen sind. So entwickelte sich eine neue Weltanschauung aus der großen französischen Revolution. Wenn einesteils der Sieg der Jakobiner und ihrer Herrschaft durch den Terrorismus unter den demokratischen Politikern aller Länder viele Bewunderer gefunden hatte, sah man auch, daß der Jakobinismus geradenwegs zur zentralistischen Regierung, zur militärischen Herrschaft und schließlich zur Reaktion geführt hatte. Man begann infolgedessen einzusehen, daß eine Revolution, um zu ernsten Erfolgen zu führen, nicht durch eine Versammlung von Volksvertretern gemacht werden kann; sie muß durch das direkte selbständige Handeln des Volkes vollbracht werden, in den Versammlungen des Volkes an Ort und Stelle, in jedem Stadtteil der Großstädte, in jeder Dorfgemeinde. Und man fing auch an zu verstehen, daß, um den Anfang zu einem neuen Leben zu machen, die Gesellschaft sich außerhalb 17 der vom Staate festgesetzten Formen organisieren muß – außerhalb der Gesetze und der Hierarchie des Staates, auf der Grundlage der wirtschaftlichen Gleichheit aller Gesellschaftsmitglieder. Von dieser Zeit an sieht man unter den Reformatoren des neunzehnten Jahrhunderts zwei Richtungen zutage treten. Einerseits die staatliche, autoritäre, jakobinistisehe Richtung, die ihren Ursprung in der Verschwörung Baboeufs (1794 bis 1796) hat. Sie gibt zu, daß außer der politischen Revolution eine soziale Revolution notwendig ist, aber diese Revolution muß, ihrer Meinung nach, immer zum autoritären Kommunismus, zum Regierungskollektivismus oder zum Staatssozialismus führen. Und um diese Revolution zu vollbringen, halten die Anhänger dieser Richtung es für notwendig, sich der Gewalt im bestehenden Staate zu bemächtigen, nichts von dessen hierarchischer Organisation zu zerstören, sondern dieselbe im Gegenteil noch schärfer zu betonen, indem sie eine diktatorische Macht schaffen und dieser die Aufgabe zuweisen, die Revolution zu verwirklichen. Im Notfalle würden sie sogar die Diktatur eines Einzelnen annehmen. Baboeuf und seine Nachfolger – Buonarotti, Barbés, Cabet in den Jahren 1820 bis 1848 (autoritäre Kommunisten), Pecqueur und Vidai in 1840 bis 1848 (Staatskollektivisten) und schließlich jene Sozialisten unserer Zeit, die sich Sozialdemokraten, Kommunisten oder Possibilisten nennen – gehören dieser Richtung an. Auch Blanqui hatte ihr angehört, aber er trennte sich von ihr nach dem Pariser Kommuneaufstand (1871) und gab das Losungswort aus: „Weder Gott noch Herr!“ Es gab aber noch eine andere Richtung, welche in dem selbständigen, unvermittelten Vorgehen der Gemeinden und deren Sektionen während der großen Revolution ihren Ursprung fand. Ihr Hauptgrundsatz ist die Umwandlung der Gesellschaft, außerhalb des Staates, sich vom Staat befreiend. Es sind die wirtschaftlichen Beziehungen – sagen die Vertreter dieser Richtung – welche umgestaltet werden müssen, so daß alle Menschen ein gleiches Recht haben auf den Reichtum und die Produktivkräfte, die der heutigen Gesellschaft zu Gebote stehen. Und der Weg, um dieses zu erreichen, ist das selbständige direkte Handeln der Arbeiter selbst, die Verneinung der staatlichen Gesetzgebung und die unmittelbare Organisation der Produzenten und Konsumenten, außerhalb des Rahmens der Staaten. Charles Fourier und seine Ideen Fourier war in Frankreich der erste, der in den ersten Jahren des neunzehnten Jahrhunderts Ideen in dieser Richtung aussprach. Leider waren dieselben noch recht unbestimmt. Es gelang ihm nicht, sich ganz vom Staat frei zu machen, er wagte nicht, das Kapital offen anzugreifen, für welches er immer einen gewissen Respekt bewahrte. Er leistete den sozialistischen Ideen dennoch einen sehr großen Dienst, indem er den Gedanken der Sanskulotten von 1793/94 über die nationale Organisierung des Austausches wieder aufnahm – eine Idee, welche alle, die eine wirksame soziale Revolution anstreben, sich früher oder später zu eigen machen müssen. Und mehr als dies: um diese Organisation ins Leben zu rufen, appellierte er nicht an die Gesetzgebung und die Beamtenherrschaft des Staates, sondern, wie sein Schüler Considerat in einem Buch: „Der Sozialismus vor der Alten Welt“ (1848) treffend gesagt hat, er wollte die unmittelbaren Beziehungen der Produzenten und Konsumenten auf dem Wege kommunaler Vermittlungsorganisationen, die die Lebensmittel, etc. nur in Verwahrung aber nicht in Besitz nehmen sollten, um dieselben direkt von den Erzeugern jenen zuzuführen, die dieselben verbrauchen. Er verkündete also den gesellschaftlichen Austausch, die Nationalisation des Handels, indem er vom Einfachen zum 18 Zusammengesetzten, von der Kommune zur Nation, auf dem Wege der Föderation und nicht durch staatliche Zentralisation voranschritt. Was die Produktion im Schoße dieser Kommunen (von Fourier „Phalangen“ genannt) betrifft, so begriff er, daß dieselbe so weit wie möglich die Landwirtschaft mit der Industrie vereinigen müsse, und daß es notwendig sei, die Arbeit für Alle anziehend zu machen – was ihm das Gelächter der dummen Leute eintrug, dessen Notwendigkeit und Ausführbarkeit wir aber heute begreifen. Überdies hatte er den Mut, jeden Zwang zu verwerfen. „Die öffentliche Meinung in jeder Gemeinschaft“, sagte er, „würde genügen, um gesellschaftswidrige Handlungen zu verhindern. Unter den Verhältnissen der Gleichheit, bei Beachtung der persönlichen Bedürfnisse und Duldsamkeit für die Eigentümlichkeiten der verschiedenen Charaktere, würden die Mitglieder jeder Kommune oder Phalange bald begreifen, daß sogar die Leidenschaften der Menschen eine Quelle des Fortschrittes sein können. Es würde genügen, nützliche, gesellschaftliche Betätigungsmöglichkeiten zu finden für die Abenteuerlust, für das Bedürfnis nach Abwechslung und für die anderen Leidenschaften, die man heute bemeistern will, wo doch die Gesellschaft selbst dieselben heranzüchtet, bis sie zu einer sozialen Gefahr werden.“ Es ist überflüssig, hier auf die Art der Entlohnung der Arbeit innerhalb der Phalangen näher einzugehen, welche Fourier vorschlug – daß nämlich die Hälfte des Ertrages der Arbeit zukommen solle, während die die andere in gleichen Teilen an das Talent und das Kapital zu verteilen wäre. Was für die weitere Entwickelung der Fourierschen Ideen von Wichtigkeit ist, das ist die freie, föderative Organisation unter den Gemeinden der Produzenten, die seiner Überzeugung nach an Stelle der zentralisierten Organisation des Staates treten muß. J.-P. Proudhon und seine Ideen Wenn man schon bei Fourier die Keime der anarchistischen Ideen findet, muß man doch bis auf Proudhon kommen, um einen Schriftsteller zu finden, der den Mut hatte, das Kapital und den Staat offen anzugreifen und die Idee der Anarchie, so wie wir sie heute verstehen, zu formulieren. Proudhon tat dies von 1840 angefangen, in seinem Werk, das ein Ereignis für ganz Europa war. Sogar der Titel des Werkes: „Was ist das Eigentum? Oder Untersuchungen über die Grundsätze des Rechts und der Regierungen“, war schon ein Programm. Nachdem er bewiesen, daß das Eigentum bloß eine Form des Raubes, der Plünderung und des Diebstahls ist, zeigte Proudhon, daß eine Hauptfolge des Eigentums der Despotismus ist. Auf die Frage: „Welche Form der Regierung ziehen Sie vor“, antwortete er geradeheraus: „Gar keine!“ – „Was sind Sie denn?“ – „Ich bin Anarchist. Obwohl sehr ein Freund der Ordnung, bin ich in vollster Bedeutung des Wortes Anarchist.“ – „So wie der Mensch die Gerechtigkeit in der Gleichheit sucht, so sucht die Gesellschaft die Ordnung in der Anarchie“, fügte er hinzu. Die Anarchie, die Abwesenheit der Herrschaft, dies ist die Form der politischen Organisation, welcher die heutigen Gesellschaften notwendigerweise entgegengehen. Niemand ist souverän. „Ob wir wollen oder nicht, sind wir verbündet.“ Da jede menschliche Arbeit das Ergebnis einer vereinigten Kraft ist, da jedes Werkzeug bereits die Frucht vereinigten Denkens und vereinigter Arbeit dars teilt, so muß das Eigentum gemeinschaftlich sein. Ein Mensch oder eine Gruppe kann nur im zeitweiligen Besitz des Bodens und des von der Gesellschaft aufgehäuften natürlichen Reichtums und der Produktionsmittel sein. Und da jeder Austausch auf der Gleichwertigkeit der ausgetauschten Sachen oder Dienste aufgebaut sein muß, „ist der Profit ungerecht.“ Das einzige Mittel, diese Gleichwertigkeit zu erreichen, besteht nach Proudhon‚s 19 Meinung darin, den Wert eines jeden Erzeugnisses durch die Zahl der Arbeitsstunden zu messen, welche bei einem gegebenen Stand der Technik verwendet worden sind, um dasselbe zu erzeugen: – die Arbeitsstunde eines jeden Mitgliedes der Gesellschaft wird dabei als gleichwertig mit jener eines jeden anderen Mitgliedes angenommen. Wenn die Gesellschaft sich nach diesem Grundsatz organisiert – wenn die freien Verbindungen zwischen den Gruppen der Produzenten und Konsumenten, das gleiche Recht aller auf die Produktionsmittel und der gerechte Austausch aufrechterhalten wird – dann wird die Regierung der Menschen über andere Menschen zur unnotwendigen Bedrückung. Die höchste Vollendung der Gesellschaft würde in der Vereinigung der Ordnung mit der Anarchie – dem Fehlen jeder Regierung – bestehen. Diese Grundideen bilden bis heute das Wesen der Gedankenrichtung, die wir Anarchie nennen. Später entwickelte Proudhon – die Nutzanwendung aus den Lehren der mißglückten Revolution von 1848 ziehend – die Grundsätze der Anarchie ausführlicher, besonders in seinen zwei Werken: „Allgemeine Ideen über die Revolution im neunzehnten Jahrhundert“ (geschrieben im Gefängnis, erschienen 1851) und „Bekenntnisse eines Revolutionärs“ (1849). Er unterzog in diesen alle Vorschläge, die darauf abzielten, dem System der Regierung durch das Referendum, das „bindende Mandat“ usw. zu neuer Kraft zu verhelfen, einer scharfen Kritik. Unter dem Namen „Mutualismus“ entwickelte er ausführlich seine Ideen über den Austausch und die Entlohnung der Arbeit mittels „Arbeitsnoten“, welche die Arbeitsstunden darstellen würden, die ein jeder der Produktion und den öffentlichen Dienstleistungen gewidmet hat und die durch eine Nationalbank ausbezahlt werden würden. Er machte sogar einen Versuch zur praktischen Organisierung dieses Austausches, mittels Arbeitsscheinen, die von seiner Volksbank eingelöst wurden. Natürlich schlug dieser Versuch, der notgedrungen in kleinem Maßstab gemacht wurde, fehl und bewies dadurch wiederum, daß jeder Versuch einer teilweisen Reformierung der wirtschaftlichen Grundlagen der Gesellschaft von vornherein dem Mißerfolg geweiht ist. Nicht weil er in Kleinem geschieht, sondern weil, solange es Millionen von Menschen gibt, die gezwungen sind, ihre Arbeitskraft und ihre persönliche Unabhängigkeit unter dem Zwang des Hungers zu verkaufen, das Kapital immer jene Macht zur wirtschaftlichen Ausbeutung und politischen Herrschaft bleiben wird, die es heute ist. Die Internationale Arbeiter-Assoziation Die endgültige Entwicklung der anarchistischen Ideen vollzog sich im Schoße der Internationalen Arbeitervereinigung, und um dieselben zu verstehen und ihre Tragweite beurteilen zu können, muß man näher auf die Geschichte der Internationale eingehen. Der Plan einer internationalen Vereinigung der Arbeiter zu ihrer Verteidigung gegen die Kapitalisten reifte seit dreißig Jahren heran (Robert Owen hatte in 1830 in England versucht, eine zu begründen), bis 1862 einige französische Arbeiter, die zum Besuch der Weltausstellung nach London kamen, mit einigen Mitgliedern der englischen Arbeitergewerkschaften (Trade Unions) zusammenkamen. Diese letzteren waren größtenteils Anhänger Owens, während die Franzosen meistens Mutualisten, d.h. Nachfolger Proudhons, waren. Die Begegnung gab den neuen Anstoß und die Möglichkeit dazu, endlich in 1866 die Internationale Arbeitervereinigung zu begründen, welche vor dreißig Jahren weder in Frankreich noch in England geduldet worden wäre. Sie spielte eine ungeheure Rolle, die Idee der sozialen Revolution zu erwecken und nahm in den Jahren 1860–1870 einen raschen und bedeutenden Aufschwung, ehe dieser durch den deutsch-französischen Krieg unterbrochen wurde. 20 Die Grundidee der Internationale war die Organisierung der Arbeitermassen aller Nationalitäten nach Arbeitszweigen und gewerkschaftlichen und lokalen Vereinigungen, zum unmittelbaren Kampf der Arbeiterschaft gegen das Kapital, auf wirtschaftlichem Gebiet. Doch sollte nach der Idee der Begründer, dieser Kampf nicht auf die teilweisen und zeitweiligen Verbesserungen im Los der Arbeiter beschränkt sein, wie dies in den englischen Gewerkschaften der Fall ist. Die Internationale sollte die vollständige Befreiung der Arbeiter im Auge, haben – das heißt die soziale Revolution, oder wie man es damals nannte, um Verfolgungen zu entgehen, die „soziale Liquidation“. Aus diesem Grunde wurden außer den Fragen des täglichen wirtschaftlichen Kampfes auch allgemeine Fragen, betreffend die Zukunftsausblicke der Arbeiter auf den Kongressen der Internationalen Arbeiter-Vereinigung besprochen, nachdem dieselben zuvor in den Gewerkschaftsgruppen und lokalen Kongressen beraten worden waren. In diesen Besprechungen wurde man sich bald über einen Punkt einig. Man begriff, daß die bis dahin vorgeschlagenen Lösungen der sozialen Frage – sei es jene der autoritären Kommunisten, oder der Mutualisten (Proudhon) oder der Bewunderer des Staates (Louis Blanc), der Anhänger Fouriers, Saint-Simons, Robert Owens usw. – noch nicht die richtigen waren. Die richtige Lösung wird nur durch die Arbeiterorganisationen selber gefunden werden – durch die fortwährende Ausübung der Solidarität im Schoße der Arbeiterklasse. Die Befreiung der Arbeiter muß das Werk der Arbeiter selber sein. – Dies war das Losungswort der Internationale. Doch schon von Anfang an traten innerhalb der Internationale selbst zwei Richtungen auf. Ein großer Teil der Arbeiter in den romanischen Ländern (Frankreich, Spanien, Italien) und eine Anzahl Arbeiter in England hatten sich die Lehren der mißglückten Revolution von 1848 und der Chartistenbewegung in England zunutze gemacht. Sie hatten begriffen, daß die Formel der bürgerlichen Demokratie: „Auf dem Wege der demokratischen Republik zur sozialen Revolution!“ falsch ist. Unter der sozialen Revolution verstanden sie eine so tiefe Umwälzung der wirtschaftlichen Verhältnisse, daß dieselbe unmöglich durch die Gesetzgebung oder durch einen von Geheimbünden vorbereiteten Handstreich zur Ergreifung der Regierungsmacht im bestehenden Staate verwirklicht werden könnte. Die wirtschaftliche und soziale Revolution müssen Hand in Hand gehen, und die neuen politischen Formen in der Nation, die die Revolution beginnt, werden durch die neuen wirtschaftlichen Verhältnisse bedingt werden, die sich während der Revolution entwickeln. Die politischen Verhältnisse werden die Folgen – und nicht die Ursache – der wirtschaftlichen Verhältnisse sein. Auf jeden Fall können die neuen politischen Formen, hervorgegangen aus einer Arbeiterrevolution, welche der kapitalistischen Ausbeutung ein Ende machen wird, nicht mehr jene des zentralisierten Staates sein. Selbst die weniger vorgeschrittenen revolutionären Elemente der Internationale waren wenigstens Föderalisten oder Kommunalisten, während die weiter vorangeschrittenen die vollständige Abschaffung des Staates – „die Auflösung der Regierung in der wirtschaftlichen Organisation“ – voraussahen und sich als Anarchisten bekannten. Aber die von der Internationale begonnene Bewegung hatte auch die politischen Revolutionäre aller Länder an sich herangezogen, die sich schon seit langem zum Zweck einer politischen, demokratischen Umwälzung in Geheim-Gesellschaften vereinigt hatten. Diese schlossen sich aufrichtig an die Arbeiterbewegung an; aber ihre ganze Erziehung, ihre ganze Vergangenheit führte sie dazu, die politische Revolution an erste Stelle zu setzen. „Begründen wir vor allem eine demokratische Republik“, – sagten sie, wie ihre Vorgänger in 1848 gesagt hatten. „Diese wird dann den Arbeitern die wirtschaftliche Revolution möglich machen.“ Außerdem hatte sich die ganze Entwicklung der Radikalen des neunzehnten Jahrhunderts unter dem Einfluß der jakobinischen Traditionen aus der großen Revolution in Frankreich vollzogen – oder 21 besser gesagt unter dem Einfluß der Legenden über den romantisch ausgeschmückten, angeblichen Jakobinismus, den man fälschlich als die hauptsächliche Triebkraft der großen französischen Revolution darstellte. Demzufolge waren sie unbedingte Anhänger der staatlichen Allmacht, der bis ins Äußerste getriebenen Zentralisation, der starken Regierung. Diese zwei Ideenströmungen entsprachen auch den zwei Abschnitten der politischen Entwicklung, in denen sich einerseits die romaninischen Völker, andererseits die Deutschen befanden. Das Um und Auf der Deutschen – das Ideal, für welches ihre fortschrittlichen Elemente seit den vierziger Jahren gekämpft hatten – war der einheitliche deutsche Staat. Die lokale Autonomie und die Föderation waren ihnen verhaßt. Sie nannten das Partikularismus, die Kirchturmpolitik und Eigenbrödelei der kleinen Bourgeoisie. Das Ideal der Sozialisten müsse, so sagten sie, das einheitliche, zentralisierte, mächtige Deutsche Reich sein. Manche glaubten sogar an eine sozialistische Cäsarenherrschaft. In Frankreich war das Gegenteil der Fall. Dort hatte das Volk bereits seine Erfahrungen mit dem Jakobinismus, dem zentralisierten Staat, gemacht; und es hatte 1848 gesehen, wie unfähig eine demokratische Republik zur Lösung der sozialen Frage ist. Die Revolutionäre ließen sich nicht mehr durch diese Schlagworte täuschen. Sie erinnerten sich der revolutionären Tätigkeit der Pariser Kommune von 1793 bis 1794 und sahen bereits eine neue Art der politischen Vereinigung der Menschen auf den Ruinen des zentralisierten Staates emporsprießen. Spanien und Italien, mit der Unabhängigkeit ihrer Provinzen und ihrem regen lokalen Leben, folgten derselben Richtung, obgleich in Italien die vor kurzem stattgehabten Kämpfe für seine nationale Befreiung und Vereinigung den Geist des Föderalismus einigermaßen zurück drängten. Wie man sieht, standen sich hier zwei entgegengesetzte Richtungen kampfbereit gegenüber – und der Zusammenstoß ließ nicht lange auf sich warten. Die romanischen Föderationen der Internationale empörten sich gegen die Autorität des Generalrates der Vereinigung, in welchem die deutschen und französischen Jakobiner die Herrschaft inne hatten: und der Kampf personifizierte sich in dem Gegensatz des autoritären Einflusses von Marx und des anarchistischen Einflusses von Bakunin. Nach dem Kommune-Aufstand – Michael Bakunin Der deutsch-französische Krieg von 1870–71, die Unfähigkeit der republikanischen Regierung (hervorgegangen aus der Erhebung vom 4. September 1870) zur Organisierung des nationalen Widerstandes und die Unmöglichkeit, der Invasion einer mächtigen Armee standzuhalten, ohne an die Volkserhebung zu appellieren; schließlich der Aufstand von Paris nach dem Friedensschluß, die Ausrufung der Kommune am 18. März 1871 und ihr heldenhafter Widerstand gegen die Armeen der Bourgeoisie sowie die Kommunen, die im folgenden Jahr in Spanien (Charthagena, Barcelona) ausgerufen wurden – all diese Ereignisse bewirkten einen vollständigen Umsturz in den landläufigen Ideen über die überwiegende Rolle der Regierungen in der Revolution. Schritt für Schritt entwickelte sich die Idee der Anarchie, deren Verkünder Bakunin und seine italienischen, spanischen und jurassischen Freunde geworden waren, mit immer mehr Klarheit. Die Erfahrungen der Pariser Kommune, die die heldenhafte Verteidigung der Stadt durch die Pariser Arbeiter gegen die Regierungsarmee von Versailles und der Widerhall, den die Kommune in Frankreich, Spanien und Italien fand, bewiesen, daß von nun an die Erhebungen des Proletariats nicht mehr den Zweck verfolgen werden, eine zentralisierte Republik zu errichten, wie dies in 1848 der Fall war, sondern daß sie in unabhängigen Gemeindeorganisationen (Kommunen) vor sich gehen werden. Und diese Kommunen werden, durch die Erfahrungen von Paris belehrt, sich nicht mehr darauf 22 beschränken, Reformen politischer Art zu verkünden; sie werden dazu schreiten, in ihrer Mitte die notwendigen wirtschaftlichen Änderungen auf dem Gebiet der Produktion und Konsumtion zu verwirklichen. So schwebte das anarchistische Ideal nicht mehr im Ungewissen: es knüpfte sich an eine Organisationsform, die ohne Zweifel tatsächlich die Form der nächsten Revolution in den romanischen Ländern sein wird. Aber auch innerhalb der Kommune selbst – wie das traurige Beispiel von Paris es genugsam gezeigt hat – war die zentralisierte, dem jakobinischen Staat nachgebildete Organisation ein nicht mehr gut zu machender Fehler gewesen. Die Dezentralisation muß weiter gehen als die Souveränität der Kommune. Jeder Stadtteil, jede Gasse muß die Initiative der Sozialrevolutionären Maßnahmen ergreifen, über welche ein Gemeinderat – der, wie jede ehrlich gewählte Körperschaft zur Zeit einer Revolution, notwendigerweise aus den verschiedenartigsten Elementen besteht – sich unmöglich einigen kann. Der Rat der Pariser Kommune bestand natürlich ebenso gut aus den Vertretern der Vergangenheit wie aus jenen der Zukunft. Aber die Maßnahmen, die das Volk selbst ergreifen würde – welche es sicher ergriffen hätte, wenn nicht die Kanonen der deutschen Armee, verbündet mit jenen der französischen Bourgeoisie von Anfang an die Kommune bedroht und ihr jede Lebensmöglichkeit genommen hätten (jede Revolution braucht eine gewisse Zeit, um sich entfalten zu können) – diese Maßnahmen hätten bestimmt den Charakter der sozialen Gleichheit gehabt. Die Umstände selbst, das Elend der Arbeiter in der Kommune, hätten ihnen diesen Charakter gegeben, gegen die Ansicht der Regierung, welche die Kommune sich gegeben hatte. Unnötig und schädlich innerhalb einer Nation, hatte sich die Regierung ebenso unmaßgebend, unfähig und schädlich in der Kommune gezeigt. Deshalb konnten, nach der Pariser Kommune von 1871, Bakunin und seine Freunde sich auf die allgemein erkannten Tatsachen stützen und die Idee der vollständigen Abschaffung des Staates verkünden. In der Vergangenheit war der Staat eine historische Notwendigkeit gewesen; aber heute ist es die Abschaffung des Staates, welche zur historischen Notwendigkeit geworden ist, denn der Staat ist die Verneinung der Gleichheit und Freiheit, er ist die Hauptwaffe zur Aufrechterhaltung der Privilegien, der Klassenstellung, der Macht des Kapitals, das Hauptwerkzeug zur Ausbeutung und Unterdrückung der Arbeiterklasse. Die vollständige Unabhängigkeit der Kommune, die Föderation der freien Kommunen, und die soziale Revolution innerhalb der Kommune – durch das Volk selber vollbracht – dies ist der nächste Schritt, den wir in der kommenden Revolution zu tun haben werden. Der freie Mensch ist die erste Grundlage einer freien Gesellschaft. Seit dieser Zeit haben sich diese Ideen immer weiter verbreitet und entwickelt. Jahre des Stillstandes Es ist wahr, daß infolge des deutsch-französischen Krieges von 1870/71 die Entwicklung des europäischen Proletariats vom Weg, den dieselbe in der Internationale genommen hatte, abgelenkt wurde. Die Unterwerfung Frankreichs und die Errichtung eines mächtigen Militärstaates im Mittelpunkt von Europa hielten die internationale Entwicklung des direkten Kampfes der Proletarier gegen ihre Ausbeuter auf. Diese Ereignisse drängten sie wieder auf den unfruchtbaren Weg der parlamentarischpolitischen Kämpfe. Es war übrigens nicht bloß ein mächtiger Militärstaat, der in Deutschland entstanden war. Es war auch die Entfaltung einer neuen industriellen Nation, gekräftigt durch alle vorhergegangenen Errungenschaften der Wissenschaft, voll jugendlicher Lebenskraft und mit einem erschreckend ra23 schen Anwachsen ihrer Bevölkerung. Diese ganze, riesig anwachsende Bevölkerung strömte in die Städte, und innerhalb dreißig Jahren entwickelte sich eine riesige Industrie. Im Schoße dieser industriellen Bevölkerung, der die Regierung unter Bismarck das allgemeine Wahlrecht gewährt hatte und die noch ihr ganzes Vertrauen auf dieses allgemeine Wahlrecht setzte, nahm der staatliche politischparlamentarische Sozialismus eine rasche Entwicklung. Bis dahin hatte es in den verschiedenen Staaten und kleinen Fürstentümern, aus denen Deutschland bestand, keine radikalen politischen Parteien gegeben. Nun bildete sich im Parlament des Deutschen Reiches unter dem Namen der Sozialdemokratie eine gemischte, radikalsozialistische Partei. Sie nahm in der Einleitung zu ihrem Programm sozialistische Ausblicke für die fernste Zukunft an, aber sie beschränkte ihre unmittelbaren Forderungen in ihren Wahlprogrammen auf die allerbescheidensten Wünsche für eine Arbeitergesetzgebung. So gewann die sozialdemokratische Partei sowohl die immerfort anwachsende Masse des städtischen Proletariats, wie auch die kleine Bourgeoisie, welche mit dem feudalen Charakter, den die Regierung beibehalten hatte, unzufrieden war. Auf diese Art gelang es der Partei im Laufe der Jahrzehnte, bei den Wahlen ein, zwei, drei und sogar vier Millionen Stimmen auf sich zu vereinigen und bis zu 110 Sitzen im Reichstag zu erhalten. Freilich hat die Sozialdemokratie, trotz dieser imposanten Zahlen, den Beweis ihrer jämmerlichen Unfähigkeit gegeben, was das Erreichen von Reformen, sowohl wirtschaftlicher wie politischer Art, betrifft. Aber die Zahlen imponieren eben, und infolgedessen triumphierte während der letzten dreißig Jahre des neunzehnten Jahrhunderts der parlamentarische Sozialismus über die anarchistische Richtung und über die Arbeiterorganisationen, welche sich den direkten Kampf der Arbeit gegen das Kapital zum Ziel gesteckt hatten. Unter diesen Verhältnissen fand die Propaganda des Anarchismus allerdings keinen günstigen Boden, bis die Enttäuschung über die parlamentarische Agitation begann, während die Erfolge der direkten Aktion und des Generalstreiks den Arbeitern endlich die Augen öffneten. Diese Jahre des Stillstandes ermöglichten übrigens den Anarchisten, ihre Ideen zu vertiefen und deren historische Grundlagen und Bedeutung für die Zukunft besser zu erkennen. Die heutige Auffassung Die Anarchie stellt sich heute als eine Auffassung der herrschaftslosen Gesellschaft dar; eine Gesellchaft, in welcher die Harmonie der Beziehungen unter den Menschen nicht durch die Unterwerfung Aller unter ein System von Gesetzen oder die gewählte oder erbliche Autorität von irgend jemand zustande kommen wird, sondern durch die freiwillige Übereinkunft zwischen den verschiedenen Gruppen entsteht – jener Gruppen, die sich je nach dem gemeinsamen Wohnsitz, dem Beruf und anderen gemeinschaftlichen Interessen ihrer Mitglieder bilden werden, um die Erzeugung, den Verbrauch und den Austausch von Gütern, sowie die Befriedigung der tausenderlei Bedürfnisse des zivilisierten Menschen möglich zu machen. In einer Gesellschaft, welche sich nach diesem Grundsatz organisiert, wird die freiwillige Vereinigung, die wir schon heutzutage für alle Lebensnotwendigkeiten erstehen sehen, eine neue mächtige Entfaltung nehmen. Sie wird an die Stelle des Staates treten – noch viel mehr, als dies bereits heute der Fall ist -; sie wird sich auf all jene Gebiete ausdehnen, welche heute als Machtsphäre des Staates angesehen werden. Die Gesellschaft wird dann ein Netzwerk von Gruppen aller Größen und von Föderationen aller möglichen Abstufungen werden – von lokalen, regionalen, internationalen, langandauernden oder zeitweiligen Verbindungen – von Verbindungen zur Befriedigung aller nur denkbaren 24 Bedürfnisse, welche das Zusammenwirken einer gewissen Anzahl Menschen erfordern. Produktion, Konsum und Austausch; innerer und internationaler Verkehr; Erziehung, Gesundneitsmaßnahmen, Verteidigung, gegenseitige Versicherung gegen Unglücksfälle; schließlich all die tausenderlei wissenschaftlichen, künstlerischen, literarischen und geselligen Bedürfnisse einer zivilisierten Gesellschaft könnten durch diese Vereinigung befriedigt werden, ohne daß es im geringsten notwendig ist, sich dafür an die Kirche oder den Staat zu wenden. In einer Gesellschaft, die sich auf dem System der freiwilligen Vereinigung aufbaut – anstatt auf dem System der Vorrechte und Monopole, die der Staat heute zum Profit der herrschenden Minoritäten geschaffen hat – könnte der Mensch leicht einen sehr hohen Grad von Wohlstand für Alle und auch die vollständige Entfaltung seiner Persönlichkeit erreichen, welche heute unter dem gesellschaftlichen System des Individualismus der Bourgeoisie einfach unmöglich ist, und welche unter was immer für staatssozialistischem oder autoritär-kommunistischem System ebenfalls unmöglich wäre. Die Idee dieser Gesellschaft ist keine Utopie, denn sie folgt aus der Beobachtung der Tendenzen, die sich bereits heute in der Gesellschaft zeigen. Das Recht der Persönlichkeit wird nicht mehr bloß yon einigen vereinzelten Rebellen verkündet; es ist ein fester Standpunkt, den sich unser Fortschritt erobert hat. Unser Zeitalter wird sich nicht mehr zum Cäsarismus bequemen, von dem man nach 1848 träumte, und ebensowenig wird es sich an den allmächtigen Staat der deutschen Sozialdemokratie anpassen. Man beginnt zu verstehen, daß es unsinnig ist, sich einzubilden, daß die Kirche, nachdem sie Jahrhunderte lang ein Werkzeug der Unterdrückung war, jetzt auf einmal ein Mittel zur Befreiung werden könne; und ebenso kindisch ist es, sich einzubilden, daß der Staat, dessen Ursprung und Aufgabe die Schaffung von Monopolen zugunsten der besitzenden Klassen war, das Werkzeug dazu werden könne, die Masse des Volkes vom Druck dieser Monopole zu befreien. Man merkt auch, wie verfehlt es ist, unter dem Vorwand der Nationalisation (Verstaatlichung) der natürlichen Reichtümer in der Gesellschaft den bestehenden Bourgeoisiestaat mit der riesigen Macht auszustatten, welche ihm der Besitz der Eisenbahnen, der Bergwerke und aller Art Monopole – Banken, Verkauf von Spirituosen usw. – gibt. Um so mehr, da die Arbeiter in England bereits die Frage aufgestellt haben, ob die Gewerkschaften der Eisenbahn- und Hafenarbeiter die zu Gemeindeeigentum gemachten Eisenbahnen und Hafenanlagen nicht ebenso gut verwalten könnten, als die Ministerien mit ihrer Hierarchie von Beamten? – eine Frage, deren Aktualität durch den großen Streik der russischen Eisenbahnarbeiter und der transsibirischen Linie in 1905 so trefflich bewiesen wurde. Auf jeden Fall steht eines fest: Wenn die Idee des Staates als Verwalter aller Industrien für einen Augenblick wünschenswert erscheinen mochte, so ist jetzt diese Idee dazu verurteilt, immer mehr an Ansehen zu verlieren, in dem Maße, wie die Fähigkeit der Arbeiterklassen, sich selbst zu organisieren, immer mehr durch ihre direkte Aktion zutage tritt. Die Richtung, in welcher heute unsere Gesellschaft voranschreitet, ist die Dezentralisation; sowohl die territoriale Dezentralisation, je nach Provinzen, Gemeinden, Stadtteilen, Gassen; wie auch die Dezentralisation der Funktionen, die Bildung von mannigfachen Gruppen je nach Berufszweigen, von Gruppen von Konsumenten, Gruppen für den Austausch und für alle nur denkbaren bestimmten Zwecke. 25 Der kommunistische Anarchismus Was die Abschaffung des Staates und seiner Regierungstätigkeit, sowie die vollständige Verneinung der kapitalistischen Herrschaft betrifft – darüber sind sich alle Anarchisten klar und vollkommen einig. Andererseits sind sie, in Übereinstimmung mit jedem Sozialisten, die noch der Idee der sozialen Revolution treugeblieben sind, vollständig einig darüber, das Recht des Privateigentums an Boden, Wohnhäusern, Bergwerken, Verkehrsmitteln, Fabriken, Werkstätten, Lebensmittelniederlagen usw. – kurzum an allem, was zum Leben und Produzieren notwendig ist, zu verneinen. Aber die Anarchisten sind noch weit davon entfernt, sich über die Mittel einig zu sein, welche es ermöglichen würden, den gesellschaftlichen Reichtum Allen zugänglich zu machen. Die Unsicherheit, welche über diesen Punkt in allen sozialdemokratischen Parteien vorhanden ist – vielleicht infolge der ungenügenden Aufmerksamkeit, welche man gewöhnlich dieser wichtigen Frage zugewendet hat – findet sich auch bei den Anarchisten. Alles, was sich diesbezüglich heute sagen läßt, ohne in optimistische Übertreibung zu verfallen, ist dies: Wenn in naher Zukunft eine kommunale Revolution in den Städten und Gemeinden der romanischen Länder ausbricht, so wird es Kommunen geben, die nicht zögern werden, die Wohnhäuser als Gemeindeeigentum zu erklären, um so für jedermann eine anständige Wohnung zu sichern; und unter irgendeiner Form wird die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln als eine Frage von öffentlichem Interesse betrachtet werden. Andernteils ist es auch sehr wahrscheinlich, daß an vielen Orten die Gewerkschaften der Arbeiter sich unter irgendeiner Form der Eisenbahnlinien, Hafenanlagen, Fabriken und Werkstätten bemächtigen werden. Was dies betrifft, so hat man es schon heute in England gesehen, daß, als die Unternehmer die Bezahlung eines zum Leben notwendigen Arbeitslohnes (living wage) verweigerten, die Arbeiter zu den Unternehmern sagten: „Dann geht fort! Wir werden schon wissen, wie den Betrieb aufrecht zu erhalten, ohne daß die Arbeiter Not zu leiden brauchen!“ Und diejenigen, die die Industrie kennen, wissen, daß dies kein leeres Prahlen ist. Wenn man noch einige Zweifel darüber hegen mag, ob die Arbeitergewerkschaften fähig sind, den Verkauf jener Erzeugnisse zu organisieren, für welche eine künstliche Nachfrage geschaffen werden muß – so steht doch ihre Fähigkeit, die Produktion und den Verkauf jener Gegenstände, welche für die große Masse notwendig sind, zu organisieren, außer Zweifel: sie haben in ihren Genossenschaften reichlich bewiesen, daß sie dies können. Und was jene Gegenstände betrifft, die heute noch Luxusgegenstände sind – die Muße für Alle, welche eine von Ausbeutern befreite produktive Arbeit jedem sichern wird, und der Geist der Vereinigung werden genügen, um die notwendigen Gruppierungen zu schaffen, welche all die Unzahl Gegenstände erzeugen werden, die heute bloß der Luxus der Wenigen sind, dann aber den allen zugänglichen Fortschritt der Industrie darstellen werden. So entstand unter den Anarchisten eine gewisse Übereinstimmung in der Auffassung der wesentlichen Züge der anarchistischen Gesellschaft und der revolutionären Mittel zur Erreichung derselben. Der Punkt, der aber noch unsicher ist, ist die Frage, nach welchem Grundsatz die produktive Arbeit eines Jeden entlohnt werden solle. Früher, in der föderalistischen Internationale, begnügte man sich damit, zu sagen, daß dies der Kollektivismus sein würde. Dieses Wort war 1848 von Pecqueur eingeführt worden, um die Entlohnung der Arbeiter-Untertanen durch die staatskapitalistische Regierung nach der Anzahl der geleisteten Arbeitsstunden zu bezeichnen; später wurde der Name von Collins in weiterem Sinne gebraucht und durch die französischen Mitglieder der Internationale in diese letztere eingeführt, um eine genaue Bezeichnung der Entlohnungsart zu vermeiden, welche nach der gesellschaftlichen Besitznahme der zum Leben und Produzieren notwendigen Sachen angenommen werden könnte. Man sagte zu dieser Zeit: Einige produktive Gruppen könnten die kommunistische Verteilung 26 der Produkte annehmen, während andere vielleicht die Entlohnung durch Arbeitsscheine oder nach was immer für einem System vorziehen würden. Aber dieses Wort „Kollektivismus“ gab zu Mißverständnissen Anlaß, besonders seit es durch die Sozialdemokraten für ihren sozialistischen Staat angenommen wurde; und da ein Teil der Anarchisten offen kommunistisch gesinnt war, wurde im Jahre 1880 durch die italienische Föderation und einige Monate später durch die Juraföderation der Internationale beschlossen, sich anarchistische Kommunisten zu nennen. Unsere Gegner versäumten nicht, uns zu sagen, daß die Worte „Anarchie“ und „Kommunismus“ sich nicht miteinander vertragen. Man antwortete ihnen darauf, daß es ein großer Irtum sei, den Kommunismus nur unter der staatlichen Form aufzufassen, den ihm Cabet und seine Nachfolger gegeben. Die kommunistische Auffassung, die darin besteht, daß eine bestimmte Gruppe, Föderation oder Gesellschaft, von ihren Mitgliedern nur soviel fordert, als dieselben ihren Fähigkeiten gemäß leisten können und ihnen dafür die Befriedigung der Bedürnisse eines jeden sichert – diese Auffassung beeinträchtigt nicht im geringsten den Charakter der persönlichen Beziehungen, die in dieser Gruppe oder Gesellschaft unter den Mitgliedern bestehen werden. Sie können – wie Cabet es wollte – auf der vollständigen Unterwerfung, des Einzelnen, oder auf der Gleichheit und vollen Freiheit eines jeden begründet sein. Außerdem läßt diese Idee sich den verschiedensten Formen anpassen. Man kann sich z.B. eine Kommune oder sogar einen Landstrich oder eine Arbeitergewerkschaft vorstellen, in welchen alles, was heute als ein nur den Wenigen zugänglicher Reichtum angesehen wird, jedem Mitglied gesichert sein würde, als Gegenwert für, sagen wir, täglich fünf Stunden Arbeit in irgend einem Arbeitzszweig, der durch die Gemeinde oder Gewerkschaft als allgemein nützlich anerkannt ist. Und es ist begreiflich, daß in einer derartigen Gesellschaft die ganze Menge von Beamten, die heute auf Kosten der Arbeitenden leben, gänzlich überflüssig sein würde. Aber der Wohlstand, gesichert als Entgelt für einen halben Arbeitstag – wo heute, bei der Ausbeutung der Arbeit durchs Kapital, durch das kommerzielle Monopol und durch den Staat, wir nicht einmal nach zehn- bis zwölfstündiger, erschöpfender und ungesunder Arbeit zum Wohlstand gelangen können – dies ist schon ein Recht auf Muße für alle, welches heute nur einer kleinen Minorität von privilegierten Personen zukommt. Und die Muße gibt jedem das Recht, nicht bloß auf den Luxus, sondern hauptsächlich auf die volle Entwicklung seiner Persönlichkeit. Die Bourgeois dachten, sich dieses Recht, welches jedem unabhängigen Wesen so teuer ist, durch den industriellen und kommerziellen Individualismus zu sichern; sie machten denselben zu ihrer Religion, und es gibt noch naive Leute, die diesen unabhängigen Wohlstand zu erreichen hoffen, wenn sie sich „Individualisten“ nennen. Doch die intelligenteren Bourgeois fangen schon an, zu verstehen, daß diese Zeit von (übrigens sehr beschränktem) Wohlstand und Unabhängigkeit, welche von einigen unter ihnen auf Kosten der Versklavung der Massen erobert worden ist, bereits zu Ende geht. Die Massen weigern sich, die Lasttiere des Bourgeoisindividualismus zu bleiben. Die Idee der kommunistischen Anarchisten, daß nämlich die volle Entfaltung der Persönlichkeit eines jeden bloß in einer Vereinigung erreicht werden kann, welche jedem die Befriedigung seiner wichtigsten Bedürfnisse, gegen ein Minimum von gesellschaftlich nützlicher Arbeit gewähren wird – diese Idee wird allmählich begriffen, und in Folge dessen klären sich die Mißverständnisse, mit welchen der anarchistische Kommunismus bei seinem Erscheinen empfangen wurde. 27 Die mutualistische Richtung Im Gegensatz zur kommunistischen Richtung gab es unter den Anarchisten von jeher eine Richtung, welche man oft die individualistische genannt hat, die aber mehr den Namen des anarchistischen Kollektivismus oder Mutualismus (im Sinne Proudhon‚s) verdient. Seine hauptsächlichen Vertreter waren die Amerikaner Stephan Pearl Andrews, W. Greene, Joshua Warren, Lysander Spooner in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts; und späterhin Benjamin Tucker, der eine Kombination der antistaatlichen Ideen des englischen Philosophen Herbert Spencer mit jenen Proudhon‚s vertritt und seit 1881 in Boston die mit viel Geschick redigierte Zeitschrift „Liberty“ (Freiheit) herausgibt. Diese individualistischen Anarchisten, besonders Spooner und Tucker, haben eine treffliche Kritik des Staates geliefert. Tucker verwirft den Staat in all seinen Formen, einerlei, ob derselbe auf erblichen Rechten oder auf der Herrschaft der Majorität, dem allgemeinen Wahlrecht begründet ist. Er anerkennt nur die freiwillige Vereinigung, begründet durch einen frei geschlossenen und jeden Moment durch jedes Mitglied widerrufbaren Vertrag. Aber er erkennt dieser Vereinigung das Recht zu, ihre Mitglieder zur Erfüllung ihrer gegenüber der Vereinigung und den übrigen Mitgliedern auf sich genommenen Verpflichtungen zu zwingen und sie zu diesem Zwecke mit Strafen (die Todesstrafe mit eingerechnet) zu belegen; er nimmt sogar für diesen Zweck die Notwendigkeit eines besonderen Organes an. Da er außerdem auch das Recht auf Privateigentum anerkennt, muß man sich fragen, ob diese Zugeständnisse nicht eine Wiederherstellung der Regierung und des Staates bedeuten? Die Funktion würde sich schließlich wieder ihr Organ schaffen. Die individualistischen Anarchisten Es gibt endlich eine Anzahl Anarchisten, die sich individualistisch nennen und das Selbstinteresse als Grundsatz proklamieren. Sie bestehen aus sehr verschiedenartigen Elementen, aber den besten Ausdruck der Ideen, die unter ihnen vorherrschen, hat wohl ein Deutscher namens Johann Kaspar Schmidt gegeben, der in 1845 unter dem Namen Max Stirner ein kraftvoll und mutig geschriebenes Werk: „Der Einzige und sein Eigentum“ veröffentlichte. Das Buch wurde bald wieder vergessen und erst vor rund 15 Jahren von J.H. Mackay wie neu entdeckt, und von den individualistischen Anarchisten als der Ausdruck ihrer Ideen bewillkommnet. Im Grunde genommen enthält dieses Werk keine Idee einer neuen auf die Gerechtigkeit gegründeten Gesellschaft. Es ist eher ein kräftiger Aufruf zur Empörung des Einzelmenschen gegen den Staat und gegen alle Einrichtungen und Grundsätze der bestehenden Gesellschaftsordnung – gegen die Fesseln, die sie dem Menschen auferlegt. Eine Revolution bezweckt die Umwälzung der Einrichtungen; aber was, bei der heutigen Erniedrigung der Menschen, Not tue – meint Stirner – das ist die Empörung, die Kraftanstrengung des Einzelmenschen gegen alles, was besteht, gegen alle Fesseln, durch welche die gegenwärtige Gesellschaftsordnung ihn in Knechtschaft zu halten sucht. Diese Empörung des Individums war eine notwendige Folge der Hegelschen Philosophie, welche zu dieser Zeit die Geister vollständig beherrschte und die vollständige Selbstvernichtung des Individuums vor dem Gottes-Staat lehrte. Die Hegelianer waren bis zur Rechtfertigung alles Bestehenden gelangt – mit Einschluß der politischen Reaktion, die damals in Deutschland und Rußland ihren Höhepunkt erreicht hatte; und Stirner wurde – im Gegensatz zur herrschenden Reaktion – so zum Apostel der bis zum Äußersten getriebenen Empörung. 28 „Alles, was heilig ist, ist eine Fessel, eine Kette“, sagte er. „Halte dich für mächtiger als du scheinst, und du wirst es werden…“ „Die Armen werden bloß dann frei werden, wenn sie sich empören, wenn sie sich erheben werden…“ „Es ist nur vom Egoismus, daß das Volk eine Hilfe erwarten darf; diese Hilfe muß es sich selber leisten…“ Es ist nur durch die willkürliche Kühnheit, daß der Staat“ besiegt werden kann“, und so weiter. Dies sind jedenfalls Worte, die im Stande sind, die Empörung zu entfachen. Doch Stirner blieb nicht dabei stehen. Im selben Tone fortfahrend, sagt er weiterhin: „Ich werde vor gar keiner Tat Halt machen, was immer sie sei. Ich werde nicht zurückweichen vor dem Geist der Ruchlosigkeit, der Immoralität, der Ungerechtigkeit, welche dieselbe beseelt… Das Recht auf Leben und Tod, welches sich Kirche und Staat vorbehalten haben, nehme ich für Mich in Anspruch; ihre Güter, sowohl materielle, wie geistige, gehören Mir. Ich behandle sie als Eigentümer gemäß Meiner Kraft.“ Man muß übrigens diese letzten Redensarten nicht wörtlich nehmen, denn, ähnlich wie andere deutsche Philosophen, die, nachdem sie auf dem Papier „alles zerstört“ haben „um den Geist zu befreien“, sich den preußischen Gendarmen fügten – ebenso endete Stirner; (zwar, ohne so weit zu gehen) damit, daß er, nachdem er in Worten alles zerstört hatte, die „Vereinigung der Egoisten“ anerkannte, in welcher nichts dergleichen zugelassen würde. Hier, sagte er, würde „der Kampf zwischen Egoisten“ bald „die Gerechtigkeit“ in gegenseitigen Zugeständnissen herbeiführen. Dann, indem er vom Grundeigentum spricht, sagt er: „Das, woran alle einen Anteil haben wollen, wird jenem, der es für sich allein besitzen will, entzogen und als Gemeingut erklärt werden“, wie „unserem alten Erbrecht gemäß ein Haus, das fünf Erben gehörte ihr gemeinsames, ungeteiltes Eigentum wird während bloß ein Fünftel des Ertrages einem jeden als Eigentum zufällt.“ Man kann sogar sagen, daß in seinem sozialen und politischen Ideal Stirner sich Proudhon nähert, dessen Werk gegen das Eigentum gerade erschienen war. So wie Proudhon und Godwin, sprach er zu Gunsten der freien Vereinigungen, die sich immerfort an die Verhältnisse anpassen und den jeweiligen Bedürfnissen der Menschen gemäß entstehen. Wie wir, verkündete er den Generalstreik und die soziale Expropriation. Er erkannte sogar die Vorteile des teilweisen Kommunismus an und sagte, daß die „menschlichen und universalen“ Bedürfnisse (wir nennen sie die vor allen notwendigsten Bedürfnisse) durch die Gesellschaft befriedigt werden müssen. Er sah darin schließlich doch den besten Weg, um der großen Mehrzahl der Menschen die Entfaltung ihrer Persönlichkeit möglich zu machen. Man sieht aus all dem, daß Stirner im allgemeinen viel mehr den Staat angriff als die Gesellschaft; aber er verwechselt die beiden oft, wie der größte Teil seiner Zeitgenossen besonders in Deutschland. Nur ging er, ähnlich wie die heutigen Kollektivisten, nicht so weit, um die gleiche Entlohnung aller Arbeit und aller der Gesellschaft geleisteten Dienste zu fordern. Für seine aus Literaten und Künstlern bestehenden „Vereinigungen von Egoisten“ verlangte er Vorrechte, die, seiner Meinung nach, den Wesen höheren Ranges zukommen. „Wenn du tausenden Genuß verschaffen kannst, werden tausende dich belohnen. – Soll Ich, der Machtvolle, keine Vorteile über den Machtlosen haben?“; also die höheren Ansprüche des „Intellektuellen“ sind ihm geblieben. Dies ist wahrschein lich die Ursache, warum sein Buch, trotz dem mächtigen Hauch der Empörung, der in demselben enthalten ist, auf die Empörung der Arbeiter nicht jene Wirkung ausübte, welche es sonst gehabt hätte. Seine Leser begriffen, daß sein „Individualismus“ ein aristokratischer Individualismus ist und diesen hatte man bei der Bourgeoisie genugsam am Werk gesehen. Für uns ist die Arbeit Stirners, wie jene Nietzsche‚s und Spencer‚s nur eine neuerliche Bekräftigung des kommunistischen Anarchismus. 29 Entnommen am 5.6.2015 von https://www.anarchismus.at/anarchistische-klassiker/peter-kropotkin/ 7275-peter-kropotkin-die-entwicklung-der-anarchistischen-ideen Originaltext: Nachdruck der Broschüre „Die Entwickelung der anarchistischen Ideen“, erschienen im Verlag „Der Syndikalist“, Fritz Kater, Berlin 1920. (Nachdruck aus den 70ern [?] ohne weitere Angaben). Die deutschsprachige Übersetzung erfolgte 1912 durch Pierre Ramus. Zuerst erschienen in der „Encyclopédie du Mouvement Syndicaliste“, Maiheft 1912. Digitalisiert und bearbeitet (Entwickelung zu Entwicklung, ae zu ä u.a.) von www.anarchismus.at 30 Anarchistische Bibliothek Anticopyright Anarchistischer Einstieg anarchistischebibliothek.org