Begegnungen

Reise nach Lourmarin

25. April 2019

Auf den letzten 300 Kilometern müssen wir mit unserem Wohnwagengespann gegen einen heftigen Sturm ankämpfen, der schon lange zuvor auf den Anzeigetafeln der Autobahn angekündigt war. Südwind, das Pendant zum Mistral, er verspricht wärmere Luft, aber auch Regen. Am Abend erreichen wir nach 11-stündiger Fahrt L´Isle-sur-la-Sorgue im Département Vaucluse. In der Nacht ergießt sich ein heftiger Regen.

Die Sorgue ist ein malerisches Flüsschen, das sich mit klarem Wasser unter den überhängenden Ästen der Uferbäume schlängelt. An der Stelle, an der sich der Fluss dann teilt, hat man auf der dadurch entstandenen Insel die Stadt gebaut. Zahlreiche Abzweigungen vom natürlichen Bachbett durchziehen die gesamte Altstadt, einige Mühlräder drehen sich noch für die Touristen. Nicht weit von hier, in der berühmten Fontaine de Vaucluse hat die Sorgue ihre Quelle in einer Höhle, deren wahre Tiefe bis heute nicht sicher ist. Bisher ist man mit Tauchrobotern auf 308 Metern Tiefe vorgedrungen. Nach jahrzehntelangen Untersuchungen hat man herausgefunden: das Wasser stammt weitestgehend vom etwa 50 Kilometer entfernten Mont Ventoux. In Regenzeiten und Schneeschmelze ist das Becken, aus dem die Sorgue entspringt, bis zum Rand gefüllt, ansonsten kann man tief hinein sehen, unten eine Pfütze erkennen und das Flüsschen dringt erst einige 100 Meter unterhalb seines ausgetrockneten Bachbettes zwischen den Steinen hervor.

Internetwissen; die Wahrnehmung, die man selber hat, variiert.

Samstag 30. (…) Früh ins Bett. Ich kann die ganze Nacht nicht schlafen, schlafe um 3 Uhr ein, wache um 5 Uhr auf, esse tüchtig und fahre im Regen los. Elf Stunden bleibe ich am Steuer, knabbere von Zeit zu Zeit einen Zwieback, und der Regen bleibt die ganze Zeit, bis er in der Drôme langsam schwächer wird, während ungefähr auf Höhe von Nyons der mächtige Duft des Lavendels mir entgegenkommt, mich weckt und mein Herz munter macht. Die Landschaft, die ich wiedererkenne, nährt mich von neuem, und bei der Ankunft bin ich glücklich. L´Isle, wo ich mich in dem ärmlichen Zimmer des Hotels St Martin unvermittelt beschützt und beschwichtigt fühle.

In L´Isle René Char wiedergesehen (…)

Tagebucheintrag Albert Camus am 2. September 1958 in L´Isle-sur-la-Sorgue


René Char, der berühmte Dichter und Freund von Albert Camus stammt aus L´Isle-sur-la-Sorgue. Camus hat ihn hier oft besucht, Char hat ihm bei seiner Suche nach einem Domizil in diesen Gefilden helfen wollen, doch keines der ihm gezeigten Häuser hat Camus wirklich zugesagt.

René Char war ein großer kräftiger Mann. Ich erinnere mich an ein Foto, das ihn und Albert Camus zeigt, ein privates Foto, das Camus nicht gerade als Dandy abbildet. Als Char beigesetzt wurde, so erzählt man mir, passte sein Sarg nicht in die Familiengruft und das Fußende ragte heraus - wer sagt, dass Beisetzungen nicht auch komisch sein dürfen?!


28. April.

Ankunft Lourmarin. Grauer Himmel. Im Garten wunderbare, von Wasser beschwerte Rosen, köstlich wie Früchte. Der Rosmarin blüht. Spaziergang, und das Violett der Schwertlilien wird am Abend noch dunkler. Erschöpft.

Tagebucheintrag Albert Camus am 28. April 1959


29. April 2019, morgens

Wir erreichen Lourmarin, ein einsames malerisches Örtchen mitten in der vielfältigen Natur des sonnenverwöhnten Luberon am südlichen Fuß eines Gebirgszuges, 60 Jahre nachdem Albert Camus hier angekommen ist. Hier Camus ein Jahr zuvor endlich ein Haus gefunden, das seinen Träumen entsprach. Es war ein Ort, an dem er Abstand zum rauen Paris mit seinem durchwachsenen Klima und den Intellektuellenstreitigkeiten, in denen er sich ständig behaupten musste, gewinnen konnte. Im, von den Hauptstraßen abgelegenen Lourmarin hatte Camus das Gefühl, wieder zu sich selbst zu finden.


In den Städten aus Stein, wo nur der Wind und der Regen die Erinnerung an die Wiesen und den Himmel bringen.

alleinstehender Tagebucheintrag Albert Camus 1959


29. April 2019

Lourmarin - welch ein Städtchen, das sich schöner, als ich es erwartet hatte, zeigt. Eingebettet wie ein Nest in die Astgabeln seiner Zuwege hoch zu den Hängen des Luberon-Gebirges, abseits der Hauptstraße entlang der Durance, hat sich der Ort ohne sich in den letzten Jahrzehnten wesentlich vergrößert zu haben, zu einem beliebten Touristenziel entwickelt. Alte lieblich gestaltete, ineinander verwinkelte Häuschen, kleine Nischen, in denen Wein über Lauben rankt, enge ansteigende Gassen und Treppenstufen, die wieder herab führen, gesäumt von großen hellsandigen Fassadenwänden, die das Sonnenlicht von den Innenräumen abzuhalten imstande sind. Neben Cafes und Restaurants gibt es auch in jeder Gasse einen Dekorladen mit Schnickschnack, den niemand wirklich braucht und der selten länger als wenige Jahre seine Wirkung zu entfalten vermag. Auffallend sind die vielen Galerien, die mit für ein Touristenstädtchen bemerkenswert hochwertiger Kunst aufwarten. Die Bilder sind nicht progressiv, sie zeigen bereits dagewesene Kunststile, das jedoch auf technisch anspruchsvolle Art.

Ich frage mich, was Camus hier gefunden hat. Es ist nicht das, was Lourmarin von sich zeigt, was nicht recht zu seinem Streben nach der Einfachheit, wie er sie in seiner Kindheit in Algier erlebt hat, passt, vielmehr wie sich der Ort entfaltet. Das hat wenig mit Ruhe und Zurückgezogenheit zu tun. Camus muss diesen Ort urtümlicher erlebt haben.


Von seiner Terrasse, die man vom der süd-östlichen Umgehungsstraße aus, und wenn man findig ist, auch aus einer kleinen Hohlgasse steil nach oben blickend erspähen kann, konnte Camus über die Weiten einer provenzialischen Landschaft blicken und von dem Meer träumen, das 80 Kilometer weiter sein nördliches Ufer findet, es ist dasselbe Meer, in dem er in seiner Kindheit und Jugend hinaus geschwommen war, um sich gegen die Hitze abzukühlen und von den Zwängen, wie sie an Land herrschen, zu entfernen.


Am Mittag eilen die Kellner mit Gläsern, Tellern, Besteck, Gewürzen, Wasser, Wein und Tagesgerichten über das Sträßchen, um die Tische in der kleinen Ausbuchtung gegenüber dem Restaurant, an einem von denen auch wir sitzen, zu bedienen. Die Angestellten geben sich geschäftig, sie vermeiden jeden persönlichen Kontakt, der schon mit einer einfachen, freundlichen Mine herzustellen wäre. Das Essen versöhnt, ein frisches Gemüse, das noch nach sich selber schmeckt, erhält man selten und die feine Würze des Fischsoße geben dem Lokal zurück, was man bei den Kellnern entbehrt.

Ich lehne mich zurück und nippe an meinem Pastis, den ich inzwischen derart oft mit Wasser verdünnt habe, dass nur noch eine Note des Aromas geblieben ist. Sicherlich ließe es sich, wenn man die auf die Touristen ausgelegten Aspekte wegdenkt, gut für eine Zeit hier leben, bis einen das pralle Leben einer Stadt wieder von hier wegzieht.

Erst am Abend finde ich endlich das, was ich am Tage vermisst habe. Die Touristen sind weitgehend verschwunden, wir wenigen Verbliebenen unterscheiden uns dennoch von den Einheimischen. Jetzt erst scheint der Ort in sich zu wohnen, jetzt erst kann ich mir Albert Camus vorstellen, wie er durch die Gassen streift, im Café Ollier einen Absinth trinkt oder sich das Fußballspiel der lokalen Mannschaft auf dem Platz jenseits der großen Mühle anschaut und sich für knapp zwei Stunden in seine Jugend zurückversetzt sieht, als er im Spiel mit seiner Mannschaft, dem Universitätsclub Racing Algier alles lernte, was ihm das Leben abverlangte. Ich sehe zwei Männer, die leidenschaftlich miteinander um ihre Mannschaft streiten: ein Fischhändler aus dem benachbarten Bergdorf Bonnieux und ein Literatur-Nobelpreisträger aus Lourmarin. Augenhöhe!


Mai

Wieder an der Arbeit. Im ersten Teil von Erster Mensch vorangekommen. Dankbarkeit für dieses Land, seine Einsamkeit, seine Schönheit.

Tagebucheintrag Albert Camus Mai 1959


30. April 2019

Wie es unter Camus-Liebhabern üblich ist, besuchen auch wir den Friedhof des Ortes und brauchen nicht lange nach dem Grab Albert Camus‘ zu suchen. Wir finden es da, wo es auf dem Friedhof am grünsten ist, vom Eingang aus gesehen auf den linken Flanke.

Der Grabstein ist nicht, so wie ich es von Bildern her vermutet habe, aus Granit, einem Stein, den man in dieser Gegend des Luberon ohnehin nicht fände, sondern aus Muschelkalk, eben jenem Stein, der aus lockeren Ablagerungen eines Meeres stammt, ohne in seinem Werdungsprozess eine Metamorphose durchgemacht zu haben - was würde besser zu Camus, der das Meer so liebte, passen.

Ich war vorgewarnt, die Schriftfarbe sollte ausgewaschen, der Name Albert Camus‘ kaum zu entziffern sein, aber nein, die Buchstaben sind so tief in den Stein gehauen, dass ihre Konturen selbst in der hohen Mittagssonne kleine Schatten werfen und es überhaupt keiner Hinzufügung bedarf. Die Stimmen der Enttäuschung über den Zustand des Grabes kann ich nicht nachvollziehen. Die Bescheidenheit in der sich dieses Fleckchen zeigt, wird von vielen Besuchern angesichts der Ideale Camus noch geteilt, als verwahrlost, so wie sich viele Kommentare anhören, erlebe ich diese Stätte dennoch keineswegs. Hinten der Oleander. Ein wenig gegen seine maßlose Ausdehnung beschnitten, wirkt er ansonsten wild und wirft, wie die Mangroven an den Straßen von Algier, die Camus in seinen Erinnerungen beschrieben hat, seinen schützenden Schatten auf das Grab. Vorne die weißblütigen Lilien, wie sie auf vielen brachliegenden Feldern der Umgebung wild wachsen, die sich zwischen den Steinen der Grabbegrenzung ihren Raum erobern und dem Ort eine andere Art von Farbigkeit verleihen, als die pinkfarbene Kerze, die jemand dort hingestellt hat. Zwischen diesem, sich fast selbst überlassenen Arrangement haben große Ameisen und anderes krabbelndes Getier, das ich nicht benennen kann, das Feld erobert. Unter den abgeworfenen welken Blättern des Oleander finden sich auf der lockeren Erde kleine leere Schneckenhäuser.

Neben den imposant errichteten und teils aufwendig bespielten tumben Monumenten der Nachbarschaft hat dieser Ort die Kraft, seine Natürlichkeit vollkommen unaufdringlich zu entfalten, geradeso, als hätte man keine Zeit gefunden, alles geordnet herzurichten.


Links von dem Grab liegt Francine Faure begraben, in einem anders angelegten, aber ebenso natürlich bewachsenen Grab. Ich brauche nicht die oberste Inschrift des Grabsteines zu lesen, um zu wissen, wer sie ist; - dort steht Madame Albert Camus und erst an zweiter Stelle ihr eigener Name, eine althergebrachte Sitte, die ich nicht teilen kann, auch wenn Francine in der Öffentlichkeit als kaum etwas anderes als die Frau ihres Mannes wahrgenommen wurde. Mein Innehalten gilt auch ihr.


Ich gehe weiter, will mich noch ein wenig zerstreuen und beobachte heimlich die nächsten Besucher des Grabes. Nacheinander tritt die vierköpfige Familie an die Stätte heran, liest vorgebeugt die Inschrift, dann sprechen sie leise miteinander, treten einen Schritt zurück, eine von ihnen geht schon weiter, ein anderer tut es ihr gleich, dann kommt die erste zurück und spricht anstelle der verbliebenen beiden.

Was machen Menschen wie ich und diese dort drüben an einem solchen Ort?


Der Nachmittag ging jetzt zu Ende. Das Rascheln eines Rocks in seiner Nähe, ein schwarzer Schatten, brachte ihn in seine Umgebung von Gräbern und Himmel zurück. Er musste gehen, er hatte hier nichts mehr zu tun. Doch er konnte sich von diesem Namen, von diesen Jahreszahlen nicht lösen. Unter der Steinplatte war nur Asche und Staub. Für ihn aber war sein Vater wieder lebendig, von einer seltsam stummen Lebendigkeit …

aus: Albert Camus - Der erste Mensch: Suche nach dem Vater


2.Mai 2019

Der Tochter einer berühmten, längst verstorbenen Persönlichkeit begegnen zu dürfen, mag nichts weltbewegendes sein, über das sich zu berichten lohnt - es sein denn, diese Begegnung selbst hat seine eigene Größe. Was soll sein, an meiner Begegnung mit Catherine Camus?

Für Menschen, die sich mit ihm beschäftigen, gilt Camus nicht nur als ein großer Schriftsteller und Denker, sie schätzen ihn ebenso als Menschen, der gelebt hat, was er schrieb, und der geschrieben hat, was er war, ohne sich zu verrenken oder gar zu verleugnen. Für mich hatte es demnach Bedeutung, einem Menschen begegnen zu dürfen, der Albert Camus sehr nahe war, der ihn als vertraute Person gekannt hat und, ja, das muss erwähnt sein, der bis zu dessen Tod nicht von dessen Berühmtheit wusste.

Die Umarmung auf der berühmten Terrasse seines Hauses in Lourmarin, als wir ein Foto machen wollen, ist nicht einmal der Höhepunkt meiner Begegnung mit Catherine Camus, es ist vielleicht sogar ein eingespieltes Ritual, das so mancher der Bewunderer Albert Camus´ und Gast in diesem Haus schon erlebt hat.

Doch ich berichte besser von Anfang an:

Alexandre, Catherines Sekretär, ein gut aussehender Mann (somit waren wir jetzt zwei :), freundlich und offenherzig, öffnet uns, nachdem wir an der Haustüre den Türklopfer bedient haben, eine Seiteneingangstüre, die direkt durch einen Hof in das Büro führt, in dem der Nachlass Albert Camus verwaltet wird. Der Raum ist nicht aufgeräumt, damit wir uns setzen können, muss erst die Hundedecke vom Sofa weggenommen werden, drei Hunde und mindestens einem halber Dutzend Katzen teilen sich nach Alexandres Auskunft das Anwesen mit den Nachkommen Camus´. Wir bleiben stehen, warten auf Catherine, währenddessen frage ich mich, ob dieser Raum 60 Jahre zuvor ähnlich ausgesehen hat. Aus einem kleinen Fenster kann man über das Tal südlich von Lourmarin blicken - man sieht nichts, was wir nicht Tage zuvor schon aus allen möglichen Blickwinkeln gesehen haben, nur ist man hier vom Trubel des Ortes abgeschieden und dadurch weniger abgelenkt. Wer hier alleine ist, kann sich in seinen Gedanken verlieren.

Catherine kommt herein und wir setzen auf die in ihrem Stil zusammen gewürfelten Stühle. Ich stammele mich in das Gespräch hinein, weil ich meine Gedanken zunächst auf eine einfache Sprache reduziere, um sie ins noch mehr vereinfachte und fehlerhafte Französisch zu übersetzen. Bald schon scheitere ich an meinen begrenzten Fremdsprachenkenntnissen und Alexandre und Ute übersetzen sinngemäß, was ich sagen möchte, dadurch werde ich wieder etwas freier. Weil Ute seit Jahren meine Leidenschaft für Albert Camus miterlebt und teilt, übersetzt sie nicht nur meine Worte, sondern auch das, worauf ich hinaus will. Catherine schaut sie dabei an, nur manchmal wendet sie sich mir zu und lächelt mich an. Ich merke bald, wir brauchen uns nicht mit Worttiraden zu überschütten, um eine Vertrautheit mit dem was wir ausdrücken und dem was wir sind, herzustellen. Die Momente, in denen sie sich zu Ute hinwendet, nutze ich, um ihre Gesichtszüge zu betrachten. Was die Fotos von ihr so nicht hergeben, darf ich nun entdecken: Ihr Gesicht hat unglaublich viel von ihrem Vater, die Nase, die lang gezogenen Wangen, die in Höhe des Mundes noch einmal einen kleinen Wulst werfen, das Kinn, die hohe Stirn, ein Detail, das durch ihre große Brille fast verdeckt wird, sogar die Zähne, wie sie sich zeigen, wenn sie spricht und lächelt. (In Filmaufnahmen von Camus hat mich sein Mund und seine Zähne, wenn er lachte, manchmal an Fernandel erinnert, den Schauspieler der durch seine Rolle als Don Camillo bekannt wurde - eine nette Anekdote, dass ein Film mit Fernandel in „Der Fremde“ vorkommt). Auffallend ist vor allem ihr Zungenschlag, wenn sie spricht, der dem ihres Vater erstaunlich gleicht. Doch wenn ich Albert Camus in Tonaufnahmen schnell und inbrünstig sprechen höre, so sitze ich nun seiner Tochter gegenüber, die sehr langsam und bedächtig über ihren Vater spricht.


Nachdem wir uns über die Zerrissenheit bei Albert Camus ausgetauscht haben, eins meiner wichtigsten Themen, an dem ich zurzeit arbeite, frage ich, ob sie mir eine persönliche Frage beantworten würde: Wie habe sie ihren Vater erlebt, wenn er in der Öffentlichkeit den Intellektuellenstreit ausgefochten hat, was ist davon nach Hause gedrungen - oder konnte er sein öffentliches Wirken und sein privates Sein klar voneinander trennen?

Sie erklärt, was ich schon einmal in einer Biografie gelesen habe, was mich dennoch, von ihr selbst ausgsprochen, wieder erstaunt: Bis zu seinem Tod war ihr nicht klar, dass ihr Vater eine berühmte und gefeierte Persönlichkeit war. 14 Jahre waren sie und ihr Zwillingsbruder alt, als ihr Vater starb, gut zwei Jahre zuvor hatte er den Nobelpreis erhalten, doch die Kinder wurden von dem Ruhm fern gehalten. Von seinem Tod erfuhren sie erst nach der Beerdigung.

Sicherlich hat sie schon manches Mal davon gesprochen, dennoch wirkt sie sichtlich bewegt, als sie erzählt, wie sehr ihr Vater ihr Rückhalt war, ihr persönlich Vertrauter, und wie das öffentlichen Wirken dabei keine Rolle gespielt hat. Und als er ihr so plötzlich verloren ging, rückte stattdessen eine Persönlichkeit an die Stelle, die vielen anderen Menschen in der Welt etwas bedeutete. Damit musste sie erst einmal zurecht kommen.

Einmal habe sie ihren Vater vorgefunden, als er mit gesenktem Kopf auf der Couch saß und über seinen Finger strich, sie spielt den Moment nach, streicht mit dem Daumen und Zeigefinger der linken über den Zeigefinger der rechten Hand, sodass man glauben konnte, der gealterte Albert Camus würde vor einem sitzen. „Papa, bist Du traurig“, hätte sie gefragt und er hätte aufgeblickt und gesagt. „Je suis seul“.

Die Verletzlichkeit von Albert Camus, auf die vieles in seiner Biografie und seinen Schriften hinweist, ist mir plötzlich so gegenwärtig, wie man es kaum zu beschreiben vermag.

Catherine weist auf die Verbindung dieser Situation mit dem Roman „Jonas oder Der Künstler bei seiner Arbeit“ hin, sie braucht das nicht zu tun, denn dies und vor allem die vielen Zwischentöne in seinen Abhandlungen schwingen hier mit.


Ich kann nicht lange mit den Menschen zusammen leben. Ich brauche ein wenig Alleinsein, den Anteil an Ewigkeit.

Tagebucheintrag Albert Camus Ende 1959


Bevor es also raus aus die Terrasse geht, hält mich Catherine an einem Stehpult, der in einer Nische neben dem Eingang steht, auf. „Hier sind alle Combat-Zeitungen“, sagt sie und zieht eine der Mappen heraus, die unter dem Pult stehen, schiebt ein paar Gegenstände auf der Tischplatte zur Seite und öffnet die Mappe. Alle Exemplare der Widerstandszeitung, dessen Chefredakteur Camus gewesen ist, - im Original - und ich kann es kaum fassen, darin blättern zu dürfen. Jetzt würde ich gerne für ein paar Stunden alleine bleiben. Die Artikel, die Albert Camus geschrieben hatte, habe ich alle schon in deutscher Übersetzung gelesen, eingebettet in den Original-Ausgaben entfalten sie ihre eigene Wirkung. Ich bin erstaunt, wie „bunt“ das Blatt gestaltet ist, Leitartikel, längere Aufsätze, kurze Berichte und kleine Anmerkungen wechseln einander ab - mir fehlt die Zeit, auch nur einen Bruchteil davon wirklich zu erfassen.

Noch über eine der ersten Ausgaben der Zeitungen, an der Albert Camus mitgewirkt hat, gebeugt (er war erst nach der Gründung der Zeitung in die Redaktion eingestiegen), erzählt Catherine fast beiläufig, an diesem Pult habe ihr Vater damals geschrieben. Er hätte immer im Stehen geschrieben. „Der erste Mensch“, das Manuskript, das Albert Camus bei seinem Tod mit sich trug, war in weiten Teilen an diesem Stück Holz, auf dem gerade meine Finger liegen, entstanden.

Was mir hier widerfährt, hat keine große Bedeutung - zumindest keine, die sich mit der Vernunft erklären lässt. Doch es kann auch nicht die Vernunft alleine sein, die einem klar denkenden Menschen das gibt, was in seinem Leben wichtig ist.


Das Haus ist kein Museum - im Gegenteil, hier herrscht ein lebendiges Gewusel. Nicht einmal eine Plakette, die auf Camus‘ Wirken an diesem Ort hinwiese, hängt draußen an der Fassade. Drei Generationen wohnen in diesem, mittlerweile um das angrenzende Nachbargebäude erweiterte Anwesen, drei Generationen mit Wurzeln aus drei Kontinenten, Nachkommen Albert Camus‘ samt Schwiegerenkel, - nur eine von ihnen hat ihn leibhaftig gekannt.

Die Urenkel Albert Camus‘ begrüßen uns herzlich und ganz französisch mit zwei Wangenküssen, der Sohn Catherines eher uninteressiert per Handschlag. Wieder zwei Fremde, die auf seine Terrasse kommen, auf der er in Ruhe eine Zigarette rauchen will. Ich kann es ihm nicht verdenken.


Catherine wird am Telefon verlangt, sie lässt uns mit Alexandre zurück. Gemeinsam mit ihm überlegen wir, wie wir junge Leute für Camus begeistern, wie wir sie erst auf sein Leben und Werk aufmerksam machen könnten. Wir sprechen über Comics, die seine Romane, Novellen oder Biographie thematisieren. Es wäre eine Möglichkeit.