Das Leben, die Liebe und die Erinnerung an den Geruch von Omas Wohnung

Ein Ende des Bügelschlosses schiebe ich durch den Ärmel meines schönen, weißen Kapuzenpullovers. Bald werde ich das Fahrrad verkaufen müssen. Die Live-Band der älteren Generation beschließt gerade ihr Konzert zu beenden; vermutlich bin ich also pünktlich am Treffpunkt Capitola Promenade. Auf den Schildern steht zwar Esplanade, aber sie wird verstanden haben. Flüchtig im Vorbeigehen bestaune ich farbenprächtige Gemälde und Fotos aus einer Entfernung, die mir geeignet scheint, lästige Verkaufsgespräche zu vermeiden. Schielend auf fremde Armbanduhren vergehen weitere Minuten auf dem höchsten Punkt der steinernen Strandumzäunung, um zwischen Menschenmengen gesehen zu werden. Das eigentümliche Hupen mancher Fischerboote geht im Geschrei bunt spielender Kinder unter. Behütete Sonnenbrillen pendeln mit Klappstühlen unterm Arm schwerfällig zwischen Strand und Parkplatz. Im wolkenlosen Himmel thront täglich die Schöpferin allen Lebens, und ich beschließe ihr für einen Moment den Rücken zu kehren. Algenspitzen in seichten Wogen deuten Ebbe an, worüber ich ganz für mich selbst wissend grinse. Ein Typ mit Deutschland-Trikot nimmt lässig auf einer der Holzbänke direkt vor mir Platz. Dreiste Rentner verdrängen ihn Stück für Stück. Sicher Touristen. Ich sehe keinen Anlass zum Ansprechen und suche auch keinen.


Da ich mein Handy wie auch so ziemlich alles andere nicht mitgenommen haben, begegnen wir uns schließlich mehr oder weniger zufällig. Unweit vom Eingangsbogen mit dem golden reflektierenden Schriftzug, worunter eben noch plauschende Musiker standen, sehe ich sie sitzend auf einer Betonpalisade, die eigentlich zu niedrig ist, um als Bank benutzt zu werden. Die hoch stehenden Knie lassen sie sehr natürlich, aber auch ein bisschen mädchenhaft unsicher wirken. So wie in den vielleicht fünf Treffen zuvor, hat sie auch diesmal ihre dunklen Haare mit einem Tuch kunstvoll zum Halten gebracht. Mir wird gerade klar, dass auch ich älter bin, als ich bin. Ihr sommerliches Lächeln strahlt bedingungslose Freundlichkeit aus, und ich meine für einen Augenblick darin mehr zu erkennen, als eine Verabredung zum Joggen. Etwas zweifelnd fragt sie nach dem Gefallen an ihrer löchrigen Leggings und den zum Laufen gänzlich ungeeigneten Schuhen. Beides gefällt, weil es bestätigt. 


Wir zwängen uns durch einer der bevölkerten Zugänge und gelangen zwischen faulen Handtüchern und über ein paar größere Steine zum Strand. Schon nach den ersten fünf Metern Joggen rutscht ihr neues iPhone aus einer nicht vorhandenen Tasche und landet im salzig frisch getränkten Sand. Ironischerweise hat sie fast gleichzeitig ihre Angst davor zum Ausdruck gebracht. Sicherheitshalber stecken wir nun die Kreditkarte zu den zwei 5-Dollar-Scheinen in meiner Badehose. Auf einem schmalen Pfad zwischen Steilküste und Brandung  wird es sogleich menschenleer. Während den vielen Malen, die ich hier laufen war, veränderte sich die Klippe stetig, und unberührte Felsbrocken liegen im Weg, die es zu überwinden gilt. Kalter Schaum umsäumt unsere blanken Füße und recht bald stellt sich Spazierschritt ein. Das Gefühl für Raum und Zeit schwindet zunehmend in Gesprächen, die nicht schöner und leichter sein könnten. Ich genieße keine Pläne mehr zu haben, Dinge laufen zu lassen und mit ihr ins Meer treiben zu dürfen. 


Zum ersten Mal, sagt sie, sieht sie das Wrack des Zementschiffs aus nächster Nähe und ich frage mich immer noch, ob es jemals schwamm. Der Ausländerbonus verfällt endlich, als mich ein Mann in schlechterem Englisch bittet, ein Foto von sich und seinem Freund zu machen. Viel zu spät entscheiden wir irgendwo zwischen Himmel und Erde umzukehren. Sie fragt, wie viele Kinder ich möchte und welcher meiner beiden Neffen als erstes „Onkel“ am Bahnhof rufen wird. Ich umschreibe ihr das, was vor uns liegt als “my one and only love”. Und dann gleiten auch noch Delfine sanft übers Wasser ohne viel von sich zeigen zu wollen. Halb aus Versehen und halb aus Unbeschwertheit fallen so schöne Sätze wie “Do you like to taste my lipstick?”. Wir lachen. 


Die einsetzende Flut hat unterdessen den Rückweg an den Klippen abgeschnitten und ihre Leggings wird vollends von Wellen durchnässt. Notgedrungen steigen wir eine mit Sand überflutete Holztreppe hinauf, um anschließend die Schuhe zu binden. Abseits der Brandung ist es behaglich still und auch der Wind scheint schlafen zu gehen. Hand in Hand balancierend auf einstigen Bahngleisen blitzen ein paar letzte Strahlen der Abendsonne zwischen leuchtend grünen Blättern auf unsere Gesichter. Langsam dämmert mir, dass hier und jetzt genau das passiert, was man nicht planen kann.


Der Tag neigt sich dem Ende und wir finden uns in ihrem favorite Sushi place ein; sie in der nassen, ich in der orangen Hose. Scheinheilige Gründe führen unsere Hände zusammen und auseinander. Sekunden verstreichen ohne dass unsere Augen einander ablassen können. Ich lächele echter und glücklicher als auf jedem Foto, und spreche dennoch von traurigen Dingen. Wir versprechen, nichts zu versprechen, weil wir beide wissen. Nur noch zehn Tage.

(Juni 2012, letzter Blog-Eintrag)